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"Reichstagsbabys" besuchen den Bundestag - DER SPIEGEL

Bunker-Geburtsstation im Zweiten Weltkrieg Die Reichstagsbabys

Das Berliner Reichstagsgebaude war in seiner Geschichte nicht nur Parlamentssitz. In den letzten Kriegsjahren wurden in seinem Keller Kinder geboren. Einige von ihnen kehren nun an ihren Geburtsort zuruck.
Van der Wysts Geburtsurkunde: "Im Reichstagsgebäude geboren"

Van der Wysts Geburtsurkunde: "Im Reichstagsgebaude geboren"

Foto: Monika Skolimowska/DPA

Mareile Van der Wyst hutet ihre Geburtsurkunde wie einen kleinen Schatz. In einem Safe bewahrt sie das Schriftstuck auf, weil darauf ein bemerkenswerter Eintrag steht: "Am 15. September 1944 in Berlin im Reichstagsgebaude geboren." Mareile Van der Wyst war ein Reichstagsbaby.

Es ist ein bisher wenig beachtetes und erforschtes Kapitel in der langen Geschichte des Berliner Reichstagsgebaudes. Hier tagten in seiner Geschichte nicht nur das Parlament des Deutschen Kaiserreichs, der Weimarer Republik und des wiedervereinten Deutschlands. Auch Kinder wurden in seinem Innersten geboren.

Denn dort, wo heute der Deutsche Bundestag Politik macht, war in den letzten Jahren des Zweiten Weltkrieges die Geburtsstation der Charite untergebracht. Die Keller des damals leerstehenden Gebaudes sollten werdenden Muttern eine halbwegs sichere Entbindung ermoglichen, die zugemauerten Fenster sie vor den herabfallenden Bomben schutzen.

Der ausgebrannte und schwer zerstörte Reichstag wenige Monate nach Kriegsende

Der ausgebrannte und schwer zerstorte Reichstag wenige Monate nach Kriegsende

Foto: AP

Eines dieser Kinder ist Mareile Van der Wyst. Sie ist stolz auf ihren Geburtsort. "Es ist einfach eine besondere Geschichte", sagt die heute 74-Jahrige aus Großbeeren bei Berlin.

Wie ungewohnlich ihre Geschichte ist, spurte Van der Wyst erstmals, als sie die Urkunde bei Amtsbesuchen vorzeigen musste. "Dass ich im Reichstag geboren wurde, hat dann schon fur Erstaunen gesorgt." Richtig bewusst sei es ihr aber vor allem geworden, als der Bundestag 1999 schließlich wieder in das Reichstagsgebaude einzog. Van der Wyst wurde damals zu einer Feierstunde an ihren Geburtsort eingeladen. Und sie bekam lebenslanges Besuchsrecht im Parlament. Wenn sie rein will, zeigt sie ihre Geburtsurkunde vor.

Nach Schatzungen wurden 60 bis 80 Babys im Reichstag geboren

Walter Waligora gehort ebenfalls zu den Reichstagskindern. Fur ihn habe das aber nie eine große Rolle gespielt, sagt Waligora. Im Reichstagsgebaude sei er schon ewig nicht mehr gewesen. Er lebt in Berlin-Spandau, weit vom Regierungsviertel in der Stadtmitte entfernt.

An den Moment, als ihm klar wurde, dass sein Geburtsort etwas Besonderes ist, erinnert er sich aber noch: "Wir haben in der Schule das Thema Reichstag durchgenommen. Da war ich naturlich schon stolz, als ich den anderen erzahlen konnte, dass ich dort geboren wurde." Aber heute ist das fur Waligora hochstens relevant, wenn er mal mit seiner Frau an dem Gebaude vorbeilauft. "Dann zeige ich darauf und sage: Guck mal, meine Geburtsstatte."

Uber die Geburtsstation in den Tiefen des Parlamentsgebaudes ist heute nur wenig bekannt. "Wahrscheinlich sind viele Unterlagen in den Kriegswirren verbrannt", sagt der CDU-Bundestagsabgeordnete Peter Stein, der sich mit der Thematik schon seit Langerem beschaftigt. Fachleute gehen davon aus, dass im Untergrund des Reichstages von 1943 bis 1945 entbunden wurde. Die genauen Daten sind allerdings unbekannt. Auch wie viele Kinder im Reichstag geboren wurden, weiß niemand. Manche Schatzungen gehen von 60 bis 80 Babys aus, andere von uber 100.

Mareile Van der Wyst wurde am 15. September 1944 im Keller des Reichstages geboren

Mareile Van der Wyst wurde am 15. September 1944 im Keller des Reichstages geboren

Foto: Monika Skolimowska/DPA

Mit seiner Mutter hat Waligora nie uber die Zeit seiner Geburt gesprochen. Er kann nur vermuten, dass sie sich in den Reichstagsbunker fluchtete, als ihre Wehen einsetzten. "Wahrscheinlich zu Fuß, anders ging es ja kaum."

Mareile Van der Wyst weiß hingegen, dass ihre Mutter kurz vor dem wahrscheinlichen Geburtstermin jeden Tag den Weg Richtung Parlamentsgebaude antrat. "Sie ist von ihrem Wohnort Lichtenberg zum Reichstag gependelt." Wenn ihre Mutter in der Nacht nicht entbunden hatte, musste sie am nachsten Tag wieder nach Hause, erzahlt Van der Wyst. Die Strecke, die die schwangere Frau jeden Morgen und Abend zurucklegte, ist fast zehn Kilometer lang. "Wie sie das in der zerstorten Stadt geschafft, weiß ich auch nicht."

Reichstagskinder sind zu Gast im Bundestag

Am 8. September werden die Reichstagskinder Van der Wyst und Waligora das erste Mal aufeinandertreffen. Gemeinsam mit 13 anderen im Reichstag Geborenen sind sie zu einer eigenen Fuhrung in das Parlamentsgebaude eingeladen. Denn jene von ihnen, die 1944 dort geboren wurden, feiern dieses Jahr ihren 75. Geburtstag.

Aus diesem Anlass soll jener Zeit gedacht werden, in der Frauen weite Wege durch das vom Krieg verwustete Berlin zurucklegten, um ihre Kinder sicher zur Welt bringen zu konnen. "Die Jubilare von heute waren damals Kinder, die Hoffnung gaben in einer dunklen Zeit fur unser Land", erklarte der Bundestagsprasident Wolfgang Schauble dazu.

Waligora freut sich schon auf diesen Tag. "Es ist eine tolle Moglichkeit, mir das Reichstagsgebaude mal genau ansehen zu konnen." Ein Vorzeichen fur eine besondere Verbindung zur Politik war die Geburt im Reichstag allerdings weder bei Van der Wyst noch bei Waligora. Sie arbeitete als Lehrerin, er in der Straßenaufsicht. Waligora interessiert sich tatsachlich nicht einmal besonders fur Politik. Fur ihn ist das Reichstagsgebaude einfach nur: sein Geburtsort.

mit Material von dpa