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Deutschland: ?Ich habe es nicht fertiggebracht“ - FOCUS Online
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FOCUS Magazin | Nr. 24 (1997)
Deutschland: ?Ich habe es nicht fertiggebracht“
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Bundesaußenminister Klaus Kinkel uber Transplantationsgesetz, Organspende und das Schicksal seiner Familie

FOCUS: Sind Sie Organspender?

Kinkel: Ja. Ich mochte Schwerkranken helfen.

FOCUS: Es gab einen Zeitpunkt in Ihrem Leben, da dachten Sie anders . . .

Kinkel: . . . als es um den Verkehrsunfall meiner altesten Tochter ging. Davor habe ich leider gar nicht uber dieses Thema nachgedacht. Zu verkraften, daß ein geliebter Mensch einen schrecklichen Unfall hatte und unmittelbar nach einem solchen Schock bei einem hirntoten, aber organisch noch lebenden Kind, uber eine Organentnahme entscheiden zu mussen, uberstieg meine Kraft.

FOCUS: Sie konnten sich damals nicht entscheiden, einer Organentnahme bei Ihrer Tochter zuzustimmen.

Kinkel: Petra hatte in Munster einen Fahrradunfall. Sie wurde von einem Bus erfaßt und schlug mit dem Kopf auf die Bordsteinkante auf. Dabei erlitt sie eine schwere Hirnverletzung. Als ich eineinhalb Stunden spater aus Bonn im Krankenhaus eintraf, lag dort meine gerade operierte 20jahrige Tochter. Lediglich ein Kopfverband deutete auf ihre schwere Verletzung hin. Sie wurde kunstlich beatmet. Es sah aus, als schliefe sie nur. Der Arzt sagte mir, sie wurde, sie durfe auch nicht mehr aufwachen.

FOCUS: Und dann bat er Sie um die Erlaubnis der Transplantation?

Kinkel: Ja. Ich habe im Schock beim Anblick meiner Tochter nein gesagt. Ich habe es nicht fertiggebracht, anders zu entscheiden. Die Entscheidung traf ich ohne die Beteiligung meiner Frau und meiner anderen Kinder, weil ich es ihnen ersparen wollte. Vielleicht, wenn etwas mehr Zeit gewesen ware . . .

FOCUS: Wenn jeder so entscheidet wie Sie, dann gibt es keine Organspenden mehr. Es warten aber Tausende auf ein Herz, eine Leber oder eine Niere.

Kinkel: Ich weiß, es muß Transplantationen geben, um Leben zu retten. Naturlich mußte ? von der Ratio her ? dieser Gedanke im Vordergrund stehen. Aber es ist fur Angehorige sehr schwer, diesen Entschluß, gerade nach einem schrecklichen Unfall, zu treffen. Die Organe mussen aus dem kunstlich am Leben gehaltenen, organisch noch lebenden Korper entnommen werden, weil nur durchblutete Organe ubertragen werden konnen. Ist es da nicht nur naturlich, daß bei Vater oder Mutter das Gefuhl die rein verstandesmaßige Betrachtung uberwiegt?

FOCUS: Warum fallt die Entscheidung so schwer?

Kinkel: Man spurt doch gerade als Eltern, das Kind lebt. Es bleibt die Hoffnung: Vielleicht hat es doch noch eine Chance, vielleicht macht es doch die Augen wieder auf und lebt weiter. Und vor allem die Sorge, das Kind konnte bei der Organentnahme noch mehr leiden als bisher schon. In einem solchen Augenblick ist es sehr, sehr schwer, allein Verstandesgesichtspunkte gelten zu lassen.

FOCUS: Wie haben Sie diesen Schock in Ihrem Leben verarbeitet?

Kinkel: Ich habe mich danach, gerade auch als Bundesjustizminister, sehr intensiv mit dem Thema Organtransplantationen befaßt, saß stundenlang mit meiner Frau zusammen; wir haben immer wieder daruber geredet. Auch mit den anderen Kindern. Meine Frau und meine Kinder waren im ubrigen ? als ich ihnen spater meine negative Entscheidung erzahlte ? der Meinung, daß eine Organentnahme im Sinne unserer Petra gewesen ware. Das hat mich zusatzlich belastet. Darum engagiere ich mich jetzt so bei diesem Thema: Weil ich erlebt habe, wie betroffen und hilflos man in dieser Situation ist. Aber eben auch, weil das Thema so wichtig ist. Das ist auch der Grund, warum ich nach reiflichem Uberlegen diesem Interview zugestimmt habe, das zwangslaufig sehr ins Personliche geht. Die rechtlichen und moralisch-ethischen Fragen lasse ich bewußt beiseite.

FOCUS: Hatte Ihnen das Wissen genutzt, daß Ihre Tochter vor dem Unfall einer Organspende zugestimmt hatte?

Kinkel: Ja. Diesem Wunsch hatte ich mich gar nicht widersetzen konnen und durfen.

FOCUS: Wie werden Sie bei der Verabschiedung des Transplantationsgesetzes im Bundestag abstimmen?

Kinkel: Ich votiere nach intensivem Uberlegen fur die enge Zustimmungslosung. Sie hat den Vorteil: Der Spender entscheidet selbst, und die Entscheidung wird nicht den Angehorigen unter dem Eindruck eines tragischen Augenblicks abverlangt. Nur wer zuvor festgelegt hat, daß er Spender sein will, soll fur eine Organentnahme zur Verfugung stehen. Ein Mensch kann und darf in einer so wichtigen Frage nur uber sich selbst bestimmen. Diese Entscheidung geht bei Angehorigen im entscheidenden Augenblick uber ihre Kraft. Anderen wird es so wie mir gehen.

FOCUS: Die Gegner dieser Position furchten, daß es kaum noch Organspenden geben wird, wenn jeder nur selbst entscheiden darf und quasi vorher entscheiden muß.

Kinkel: Leider geht die Bereitschaft, einen Organspendepaß auszufullen oder sonst eine eigene Entscheidung zu treffen, zuruck. Es willigen auch naturlich viele Angehorige nicht ein. Aber wir konnen durch Aufklarung viel mehr bewirken. Wir mussen auch versuchen, die Angste zu nehmen und uber den Tod zu reden . . .

FOCUS: Oder wir bleiben ein Land, das massenweise Organe importiert. Ist das moralisch zu verantworten?

Kinkel: Ich sehe sehr wohl das Problem, sehr genau sogar. Die Losung kann aber aus meiner Sicht nur sein, daß nach einer breiten Aufklarungskampagne mehr Menschen in die Organtransplantation einwilligen.

FOCUS: Glauben Sie, daß mit einem Appell ausreichend Organe zu bekommen sind?

Kinkel: Naturlich hoffe ich es.

FOCUS: Und wenn wir sagen, es kriegt nur derjenige im Notfall ein Spenderorgan, der zuvor selbst in die Organtransplantation eingewilligt hat?

Kinkel: Das akzeptiere ich selbstverstandlich fur mich selbst. Aber das ist eine sehr personliche Entscheidung, die keine Allgemeingultigkeit beanspruchen kann. Durfen wir uns in solchen Fragen zum moralischen Richter erheben?

FOCUS: Bundesgesundheitsminister Seehofer vertritt die ?erweiterte Zustimmungslosung“, die auch Angehorige entscheiden laßt.

Kinkel: Wir hatten in der Koalition, im Kabinett und im Bundestag viele gute, sehr verantwortungsbewußte und auch kontroverse Diskussionen zu diesem Thema. Ich glaube nicht, daß die Entscheidung uber das Transplantationsgesetz irgend jemandem leichtfallen wird. Daher ist es nur richtig, jeden Abgeordneten nach seinem Gewissen entscheiden zu lassen.

RUCKGANG

Die Bereitschaft der Angehorigen, einer Organentnahme zuzustimmen, geht zuruck:

von 90 Prozent 1990

auf 68 Prozent 1995



Die Zahl der vorherigen Selbsteinwilligungen liegt bei nur funf Prozent.

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