Die soziolinguistische Situation von Chilenen deutscher Abstammung
COLLECTED BY
Organization:
Internet Archive
The Internet Archive discovers and captures web pages through many different web crawls.
At any given time several distinct crawls are running, some for months, and some every day or longer.
View the web archive through the
Wayback Machine
.
Crawl of outlinks from wikipedia.org started May, 2011. These files are currently not publicly accessible.
The Wayback Machine - https://web.archive.org/web/20110616042009/http://www.linguistik-online.com/3_00/ziebur.html
Linguistik online
7, 3/00
Die soziolinguistische Situation von Chilenen deutscher Abstammung
1 Einleitung
"Bevor ich in die Schule
kam, hab ich kein Wort Spanisch gesprochen! (...) Und
meine Mutter, sie war 37 Jahre in Chile und hat Spanisch
kaum gelernt. Weil sie das nicht brauchte. (...)
[Und] ich bin sicher,
ich bin kein deutsches Volk, wir sind ein
eigenes Volk hier. Wir haben unsere eigene Kultur, gemischt
mit dem Chilenischen. Und wir sind was eigenes. Wir sind
Chilenen und deutschabstämmig! (...) [Ja,] ich sitz
auf drei Stühlen: Deutsche, Chilenin und Deutsch-Chilenin!
Weißt Du, daß das kompliziert ist?! Daß
man sich oft anpassen muß? Das ist gar nicht so
einfach. Aber ich kann mich halt anpassen. Wenn ich in
ein chilenisches Fest gehe, bin ich Chilena. Obwohl
die
mich als Gringa ansehen! Geh ich in ein deutsches Fest,
dann bin ich, benehm ich mich danach und hör die
deutsche Musik. Aber ich bin für die dann Chilenin.
Ich weiß nicht, wo ich hingehöre! Deswegen
sage ich: ich bin ein eigenes Volk!"
(Zitiert aus einem Interview
mit einer jungen Chilenin deutscher Abstammung in Puerto
Varas)
Bei einer Reise durch das südchilenische Seengebiet wird
einem rasch der besondere "Charm" dieser Gegend bewußt. Erschlossen wurde
dieses Gebiet in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts vor allem
von deutschen Einwanderern (Deutsch-Chilenischer Bund (Hg.) 1997: 300f.). Auf
deren Spuren wandelt man noch heute im südlichen Teil des Seengebiets von
Chile, das vom Llanquihue-See dominiert wird und dessen Westufer "fest in deutscher
Hand"
1
ist (vgl. Deutsch-Chilenischer
Bund (Hg.) 1997: 305).
Angesichts dieser "deutschen Insel" mitten im Süden Chiles,
angesichts deutscher Namen, Vereine, Schulen, Kirchengemeinden und schließlich
der oftmals fließenden Deutschkenntnisse einiger Deutschstämmiger,
deren Vorfahren teilweise vor mehr als 140 Jahren aus Deutschland nach Chile
kamen, entstehen Fragen, die uns auf das Gebiet der Soziolinguistik führen:
Warum konnte sich das Deutsche in Chile über so viele Generationen hinweg
halten? Und wann und warum setzte die sprachliche Assimilierung ein, was sind
die Gründe und Faktoren des heutigen starken Rückgangs der deutschen
Sprache in Chile? Oder allgemeiner formuliert: Was bestimmt, ob eine Minderheitensprache
erhalten wird oder ob sich eine Umstellung auf den alleinigen Gebrauch der Mehrheitssprache,
in diesem Fall Spanisch, vollzieht?
Sicherlich ist die eingangs zitierte Äußerung der
jungen Deutsch-Chilenin aus Puerto Varas nicht als repräsentativ für
die heutige Situation der Chilenen deutscher Abstammung zu betrachten. Daß
heute noch jemand mit der Muttersprache Deutsch aufwächst und erst durch
die späteren Einflüsse von Schule und Bildungs- bzw. Arbeitswelt mit
der spanischen Sprache konfrontiert wird, ist heutzutage absoluter Ausnahmefall.
Die Äußerungen über die oftmals dreifache, von der jeweiligen
Situation abhängige Selbst- und Fremddefinierung (Deutsche, Chilenin und
Deutsch-Chilenin) reflektieren jedoch eine Unsicherheit, auf die man bei vielen
Chilenen deutscher Abstammung stoßen wird. Identität und Einstellungen
wie Selbst- und Fremdeinschätzungen ergeben in diesem Zusammenhang wichtige
Ansätze, die es im Rahmen der Fragestellung nach möglichen Faktoren
des Sprachwechsels näher zu betrachten gilt.
2 Geschichtlicher Überblick: Die deutsche
Einwanderung in Chile
Die erste historische Erwähnung eines Deutschen in Chile
führt in das 16. Jahrhundert zurück und fällt mit der spanischen
Eroberung des Landes und der Gründung der heutigen Hauptstadt Santiagos
zusammen. Der Nürnberger Bartholomäus Blumen, der seinen Namen später
hispanisierte und sich Bartolomé Flores nannte, kam 1541 mit dem Heer
spanischer Eroberer unter Pedro de Valdivia ins Land und gehörte zu den
Stadtgründern Santiagos. Allgemein waren Deutsche, die zur Zeit der spanischen
Herrschaft in Chile siedelten, jedoch äußerst selten.
Mit der Unabhängigkeit von Spanien (1810) fanden immer
mehr Kaufleute und Handelsreisende ihren Weg nach Chile. Die spätere erste
große Einwanderungswelle deutscher Kolonisten und somit die Besiedlung
Südchiles war jedoch vor allem Bernhard Eunom Philippi zu verdanken. Der
junge Seeoffizier bereiste 1831 und 1837 die chilenische Küste und erforschte
im Auftrage des Berliner Museums das Landesinnere der Gebiete um Valdivia, Osorno
und die Insel Chiloé. Dabei entstand die Idee, die fast menschenleeren,
von Urwald beherrschten Gegenden mit deutschen Einwanderern zu kolonisieren.
Diesen Gedanken, in Südchile europäische Kolonisten
anzusiedeln, hatte unmittelbar nach der Unabhängigkeitserklärung bereits
die chilenische Regierung entwickelt. Nach deren Kolonisationsplänen sollte
versucht werden, europäische Einwanderer im Lande aufzunehmen, "um die
an Zahl noch geringe Bevölkerung zu vermehren und das Land wirtschaftlich
zu fördern" (Held Winkler 1952: 13).
2.1 Erste deutsche Einwanderungswelle
Noch bevor die chilenische Regierung 1848 erste konkrete Schritte
zur Kolonisation einleitete, erreichte es Philippi in eigener Initiative, neun
hessische Handwerkerfamilien für die Auswanderung nach Chile zu gewinnen.
Diese trafen im August des Jahres 1846 in Corral, dem Hafen Valdivias, ein (Deutsch-Chilenischer
Bund (Hg.) 1997: 329) und wurden auf von Indianern erworbenem Land angesiedelt.
Obwohl Blancpain die erste große Einwanderungswelle mit
den Siedlungszielen Valdivias und dem Llanquihue-See für den Zeitraum 1846-1875
annimmt (Blancpain 1985: 67), begann die eigentliche Einwanderungswelle im Jahre
1850 mit insgesamt 287 in Corral eingetroffenen Personen (Golte 1973: 68). Da
die katholische Kirche in Deutschland gegen die Kolonisierung war, entschied
sich Philippi letztlich entgegen des Auftrags der chilenischen Regierung, deutsche
katholische Familien ins Land zu holen, Protestanten anzuwerben. Philippi fiel
deshalb bei der chilenischen Regierung in Ungnade und wurde seines Amtes enthoben.
Die ersten protestantischen Siedler ließen sich derweil in Valdivia und
Umgebung nieder (Deutsch-Chilenischer Bund (Hg.) 1997: 329).
Der seit 1850 ohne Unterbrechung eintreffende Strom von Einwanderern
ließ nach Vergabe des um Valdivia und in den Llanos zur Verfügung
stehenden Fiskallandes und angesichts der rapide steigenden Bodenpreise Pérez
Rosales, den neuen Kolonisationsagenten, nicht länger zögern, die
Kolonisation des Llanquihue-Sees in Angriff zu nehmen. Im November 1852 brachte
Pérez Rosales die ersten Siedler nach Melipulli (später Puerto Montt).
Insgesamt kamen zwischen 1852 und 1875 419 Familien (1665 Personen)
in das Kolonisationsgebiet Llanquihue (Golte 1973: 73). Geht man von den Angaben
Jünemann Gazmuris aus, der für diesen Zeitraum eine Gesamtanzahl von
4.250 deutschen Einwanderern nennt (Jünemann Gazmuri 1994: 36), ergibt
das knapp 40% der insgesamt zwischen 1840 und 1875 nach Südchile gekommenen
Deutschen.
In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, welche Motive
diese deutschen Einwandererfamilien überhaupt hatten, ihre Heimat zu verlassen
und in eine unberechenbare Zukunft nach Amerika aufzubrechen. Vor allem waren
es wohl politische und ökonomische Faktoren, die jene Familien dazu brachten,
Deutschland auf der Suche nach neuen Möglichkeiten für die Zukunft
zu verlassen und die lange, abenteuerliche Reise nach Chile anzutreten. Blancpain
nennt als ersten Grund der deutschen Migration (besonders im Falle der Intellektuellen)
die gescheiterte Revolution von 1848, doch auch ökonomische Motive sind
vor allem für Handwerker und Bauern vorherrschend (Blancpain 1985: 69-71).
Noll (1998: 18) geht auf die damalige allgemeine Situation in Deutschland ein,
die sich durch die beginnende Industrialisierung, die Folgen der Bauernbefreiung,
Mißernten, Überbevölkerung, den Zustrom vieler Menschen in die
Städte, steigende Arbeitslosigkeit und die gescheiterte Revolution von
1848 auszeichnete und somit den Rahmen für die Auswanderungswünsche
der Deutschen bildete. Charakteristisch ist, daß die deutsche Einwanderung
nach Chile vor allem vom Mittelstand getragen wurde und die deutschen Kolonisten
über ein relativ hohes kulturelles Niveau verfügten.
Schon bald widmeten sich die deutschen Einwanderer, die sich
in Valdivia niederließen, vorwiegend dem Handel, was bereits den späteren
Aufschwung der Städte dieser Region verstehen läßt (vgl.: Reiter
1993: 37) und im Kontrast zu der Besiedlung des Llanquihue-Sees und der dort
entstehenden deutschen Kolonie mit landwirtschaftlicher Prägung steht.
Aufgrund der unterschiedlichen Situation und Voraussetzung
der Siedlungsräume und deutschen Kolonisationsprojekte wird an dieser Stelle
eine Einteilung in zwei Gruppen vorgenommen. Die erste Gruppe umfaßt die
in und um Valdivia und in den Llanos zwischen Osorno und La Unión siedelnden
Kolonisten. Die zweite Gruppe schließt jene deutschen Siedler, meist Bauern,
ein, die sich am Llanquihue-See, einem bis dahin dicht bewaldeten und unwegsamen,
völlig unerschlossenen Gebiet am Fuße des Vulkans Osorno, und an
der Küste in Melipulli niederließen. Da wir uns im folgenden auf
die zweite dieser beiden Gruppen konzentrieren, soll ein kurzer genauerer Einblick
in das Kolonisationsgebiet des Llanquihue-Sees und seine Entwicklung gegeben
werden.
2.1.1 Das deutsche Kolonisationsgebiet am Llanquihue-See
Vor allem ab 1853 wurden rund um den Llanquihue-See zahlreiche
neue deutsche Siedlungen gegründet, die meistens von einer Gruppe von Familien
aus einem bestimmten Herkunftsgebiet gebildet wurden. Die Ansiedlungen waren
anfangs voneinander durch große Urwaldgebiete getrennt. Auch innerhalb
der einzelnen Siedlungseinheiten gab es keine Siedlungszentren, da durch die
Landzuteilung eine isolierte Ansiedlung der einzelnen Familien gefördert
wurde (vgl.: Golte 1973: 89). In dem Kolonisationsgebiet des Llanquihue-Sees,
oder wie es die Siedler selbst nannten: in der "Colonia", gab es im Gegensatz
zu den Gebieten bei Valdivia und den Llanos ein festes System der Landverteilung.
Es wurden Landstücke, sogenannte Chacras, vergeben, die in Anlehnung an
die nord- und ostdeutschen Wald- oder Marschhufen "Seehufen" (Ilg 1976: 79)
genannt werden. Fast alle dieser Parzellen grenzten mit der Schmalseite an das
Seeufer und waren durchschnittlich 75 bis 100 Hektar groß. Folge einer
derartigen Landverteilung war ein Siedlungsgebiet mit wenigen Siedlungsmittelpunkten.
Durch die Streusiedlung übertrug sich die Isolierung des gesamten Kolonisationsterritoriums
auch auf die einzelnen Kolonistenfamilien. "Sie erschwerte nicht nur die gegenseitige
Hilfeleistung, sondern auch den Handel und Absatz und später das Zur-Schule-Gehen
der Kinder" (Ilg 1976: 79).
Die siedlungsgeographische Situation des deutschen Kolonisationsgebietes
Llanquihue kurz vor dem Bau der Eisenbahn bis Puerto Montt kann somit zusammenfassend
charakterisiert werden: Neben der großen Entfernung von der Zentralregion
Chiles, von der das Seengebiet durch unabhängiges Indianerterritorium ("La
Frontera") vorerst getrennt blieb, neben den niedrigen Bevölkerungszahlen
der Seenregion und den unzureichenden Verkehrswegen, hat sich grundsätzlich
auch die Art der Landaufteilung als Voraussetzung der allgemeinen wie auch der
individuellen Isolierung einzelner Siedlerfamilien erwiesen und verhinderte
außerdem die Bildung ländlicher Mittelpunkte.
Diese vom übrigen Staatsgebiet Chiles weitgehend isolierte
Lage des deutschen Kolonisationsgebietes führte zur Entstehung eines eigenständigen
Wirtschaftsraumes, innerhalb dessen die deutschen Einwanderergruppen auch in
kultureller und sozialer Hinsicht eine "geschlossene Gesellschaft" (Blancpain
1970: 28ff) bildeten. Vorherrschend waren alte deutsche Bräuche, Regeln
und Gewohnheiten. Die Eingewöhnung der ersten Siedler in die neue Lebensumwelt
bedeutete vor allem eine Anpassung an neue landschaftliche und klimatische Gegebenheiten,
um eine ausreichende Existenzgrundlage schaffen zu können, und nicht die
Anpassung und Integration an und in ein fremdes bereits bestehendes soziales
Gefüge.
In Hinblick auf das gesellschaftliche und kulturelle Leben
deutscher Einwanderer wurden vor allem eigene Institutionen geschaffen, die
man zum Teil noch heute vorfinden kann. Erstes Anliegen in diesem Zusammenhang
waren zunächst ein eigenes Gotteshaus und eine deutsche Schule für
die angemessene Erziehung der Kinder. Später folgten Deutsche Vereine,
die Deutsche Feuerwehr, Burschenschaften, Turn- und Sportvereine, Frauenvereine,
Singkreise, Altersheime, der Deutsch-Chilenische Bund (DCB), die Deutsch-Chilenische
Industrie- und Handelskammer, der deutsche Schulverband (VdLiCH), Kulturinstitute
und deutschsprachige Zeitungen wie vor allem der "Condor" und sogar lokale deutschsprachige
Radiosender.
Zu betonen bleibt, daß die deutschen Kolonisten der Llanquihue
Region keinerzeit isoliert und abgesondert von der einheimischen chilenischen
Bevölkerung waren. Blancpain unterstreicht dies, indem er ausführt,
daß sich die Isolierung auf die geographische Abgeschiedenheit von der
Zentralregion Chiles und nicht auf die Abwesenheit von chilenischen Mitmenschen
bezieht (Blancpain 1970: 14). Er nennt für das Jahr 1861 einen Anteil von
12.000 Chilenen bei einer Gesamtzahl von 13.023 Einwohnern in der Llanquihue-Region
(Blancpain 1970: 13). Kontakte zwischen deutschen Siedlern und den dort ansässig
gewordenen Chilenen waren jedoch geprägt durch eine hierarchische Beziehung
vom "Herren" zum Arbeiter und Angestellten und charakterisiert durch die soziale
und kulturelle Kluft zwischen deutschen Einwanderern und Chilenen (vgl. Blancpain
1970: 16).
Diese Beziehungen erklären u. a., daß Mischehen
zwischen deutschen Siedlern und Ibero-Chilenen sehr selten waren. Unterschiede
in ethnischer Herkunft, Religion, sozialem und kulturellem Niveau waren die
Hauptfaktoren, die zu einer lange beibehaltenen Endogamie führten (vgl.
Blancpain 1970: 30).
Doch nicht nur zwischen Germano- und Ibero-Chilenen gab es
Kontaktschwierigkeiten, Vorurteile und Mißtrauen. Mit der Ankunft westfälischer
Katholiken im Jahre 1860 vor allem in Quilanto und Puerto Octay beschreibt Hoerll
den dadurch gestörten Frieden der deutschen Kolonie (Hoerll 1910: 38).
Blancpain erwähnt eine offene Gegnerschaft der zwei verschiedenen Glaubensgemeinschaften
innerhalb der deutschen Kolonie, die letztlich eine Abkapselung und einen Rückzug
der protestantischen Siedler aufgrund religiöser Differenzen nach sich
zog.
2.1.2 Entwicklung des südchilenischen
Seengebietes nach dem Anschluß an die Längsbahn
Die zweite Phase der Entwicklung des deutschen Kolonisationsgebietes
der Llanquihue-Region begann mit dem Bau der Eisenbahnlinie bis Osorno (1907)
und Puerto Montt (1912). Nach der weitgehenden Isolierung der Region vor dem
Anschluß an die Längsbahn und der damit verbundenen sogenannten "geschlossenen
Gesellschaft" der deutschen Siedler, brachte der Bau der Eisenbahnlinie neben
wirtschaftlichen und siedlungsgeographischen Veränderungen mit dem Einströmen
von spanisch sprechender Bevölkerung aus dem restlichen Staatsgebiet "die
Öffnung jener geschlossenen [deutschen] Gesellschaft und damit
das Ende der im engeren Sinn deutschen Kolonisation" (Golte 1973: 106).
Zusätzlich setzte ein deutlicher Verstädterungsprozeß
ein. Mit der Zeit des Anschlusses an die Nord-Süd-Bahn begannen die städtischen
Bevölkerungszahlen im Verhältnis zu den ländlichen eindeutig
zu steigen. Mit dem Zuzug spanischsprechender Bevölkerung und der Bildung
einer breiten chilenischen Mittelschicht in den Städten wird schließlich
ein verstärkter Sprachkontakt zwischen Deutschstämmigen und Einheimischen
unvermeidbar (Reiter 1993: 98).
Doch nicht nur Ibero-Chilenen kamen verstärkt durch den
Bau der Eisenbahn bis Puerto Montt in die südchilensiche Seenregion, sondern
auch die deutschen Siedler gewannen an Mobilität. Es setzte eine verstärkte
Abwanderung von deutschstämmigen Bevölkerungsteilen in andere Regionen
und vor allem in die größeren Städte des restlichen chilenischen
Staatsgebietes, das mit Anschluß der Längsbahn nun leicht erreichbar
wurde, ein. Vor allem waren es die jungen Nachkommen der deutschen Siedler,
die es aufgrund besserer Ausbildungsmöglichkeiten und Studienmöglichkeiten
an Universitäten in die größeren Städte zog. Dies hatte
wiederum zur Folge, daß sie, aus ihrem "deutschen Ambiente" hinausgetreten,
vor allem mit der ibero-chilenischen Lebenswelt in Kontakt kamen, Kontakte zu
Nicht-Deutschstämmigen knüpften und weitgehend nur noch mit der spanischen
Sprache konfrontiert wurden. Dadurch begann sich schließlich ein Wandel
in der bislang streng verwirklichten Endogamie unter den Deutschstämmigen
abzuzeichnen.
Die somit eingeleitete Öffnung der deutschen Gemeinschaft
hatte schwerwiegende Folgen für die Erhaltung der deutschen Sprache und
anderer kultureller Elemente, die sich bis dahin durch die weitgehende Isolierung
in der ersten Phase der Kolonisation des Llanquihue-Gebietes durchgesetzt und
gehalten hatten. Mit dem Rückgang sozialer Kontraste verlieren die ethnisch-kulturellen
Unterschiede zwischen Deutschstämmigen und Ibero-Chilenen immer mehr an
Bedeutung. Obwohl sich die deutschen Institutionen nach wie vor auf die deutsche
Sprache stützen, führten die Öffnung der deutschen Kolonie und
die zunehmende Zahl von Mischehen schließlich zu einem spanisch dominierten
Bilingualismus.
2.2 Weitere deutsche Einwanderungswellen
Die zweite große Etappe der deutschen Einwanderung nach
Chile konzentrierte sich auf die Jahre 1882 bis 1914, in denen vor allem Industrie-
und Landarbeiter aus Ostdeutschland (Blancpain 1985: 69) in das sogenannte "Frontera"-Gebiet
vorstießen und sich dort niederließen. Diese Etappe war Teil einer
allgemeinen vom chilenischen Staat unterstützten Einwanderung verschiedener
europäischer Nationalitäten. Die Deutschen blieben somit in dieser
Gegend eine Minderheit unter den anderen europäischen Einwanderern.
Die nächste deutsche Einwanderungswelle fand Ende der
20er und während der 30er Jahre dieses Jahrhunderts statt, als kleinere
deutsche Kolonien in der Nähe von Concepción, in Peñaflor
bei Santiago und an der Küste in La Serena entstanden (Deutsch-Chilenischer
Bund 1997: 330).
Während des Zweiten Weltkrieges kamen vor allem deutsche
jüdische Emigranten nach Chile. Da sie jedoch in keinem geschlossenen Siedlungsgebiet
lebten, integrierten sie sich trotz Beibehaltung des Judentums recht schnell
in die chilenische Gesellschaft (Deutsch-Chilenischer Bund 1997: 330).
Interessanterweise zählt der Deutsch-Chilenische Bund
die ab 1988 mit den zurückkehrenden Exilchilenen nach Chile kommenden deutschen
Ehepartner und Kinder als letzte Einwanderungswelle (Deutsch-Chilenischer
Bund 1997: 331).
2.3 Die deutsche Sprache in Chile
Während der ersten Phase der deutschen Einwanderung war
Deutsch die vorherrschende Sprache in der Llanquihue-Region. Nur wenige deutsche
Siedler sprachen damals Spanisch, da sich der Kontakt mit Ibero-Chilenen meist
auf einheimische Arbeitskräfte beschränkte, die oftmals selbst ihre
Indianersprache besser als das Spanische beherrschten.
In den Städten Valdivia und Osorno vollzog sich der Übergang
zur Erlernung und Beherrschung des Spanischen eher als auf dem Lande. Spanisch
galt zwar immer noch als Fremdsprache, vor allem aber die Jüngeren erkannten
bald den Nutzen, über Kenntnisse der Landessprache zu verfügen. Sie
erarbeiteten sich das Spanische teilweise systematisch selbst und konnten es
im Kontakt mit den spanischsprachigen Stadtbewohnern anwenden, was die Berührung
mit dem gebildeten Spanisch der gehobenen chilenischen Schicht erlaubte (vgl.
Reiter 1993: 111). Auf dem Land dagegen lernte man das Spanische durch das simple
Zuhören und Nachsprechen mit den eigenen oft indianischen Arbeitskräften.
Somit ergab sich ein deutlicher Unterschied im Niveau der Sprachbeherrschung
zwischen Stadt- und Landbevölkerung.
Mit dem Anschluß an die Nord-Süd-Bahn änderte
sich diese Situation jedoch beträchtlich. Durch die wirtschaftliche Blüte
der Region angezogen, kam eine Flut chilenischer Zuwanderer vor allem in die
Städte. Aber auch am Llanquihue-See ließen sich unter anderem zahlreiche
chilenische Bahnarbeiter, aber auch qualifizierte Landarbeiter nieder.
Der verstärkte Kontakt mit der spanischen Sprache, der
durch diese Entwicklung hervorgerufen wurde, hatte sehr bald merkbare Veränderungen
in Sprache und Sprachgebrauch der Chilenen deutscher Abstammung zur Folge.
"Nachdem sie jahrelang eine fast monolinguale deutsche
Sprachinsel in Chile gebildet hatten, entstanden nun verschiedene Ausprägungen
und Stufen von Bilinguismus, die teilweise bis zu einem erneuten Übergang
zum Monolinguismus führten, diesmal mit Spanisch als einziger Sprache."
(Reiter 1993: 98f.)
Die Muttersprache der deutschen Siedler und deren Nachkommen
am Llanquihue-See und der Region zwischen Valdivia und Osorno war bis ins 20.
Jahrhundert ein Deutsch (vgl. Reiter 1993: 125), das sich durch relativ schnelle
Zurückbildung verschiedener Dialektformen der einzelnen Einwanderergruppen
auszeichnete. Mit der neuen Situation nach dem Anschluß an die Nord-Süd-Bahn
und der damit verbundenen allgemeinen Öffnung des Gebietes wurde jedoch
die deutsche Sprache durch die verstärkten Kontakte mit spanischsprachigen
Bevölkerungsteilen immer mehr von spanischen Interferenzen beeinflußt.
"(...) besonders in der Llanquihue-Region wurde die Vermischung
von Deutsch und Spanisch so üblich, daß die Deutschen in den
Llanos die Sprache der Siedler abfällig Launa-Deutsch nannten
(Verballhornung von laguna=See, Lagune)." (Reiter 1993: 125)
Spanische Wörter und Ausdrücke wurden an das deutsche
Sprachsystem angepaßt, was bald zum typischen "Launa-Deutsch" führte.
Bieregel/Müschen (1981) nennen zahlreiche solcher "palabras cognadas",
sogenannte "falsche Freunde":
"Diese Firma macht uns starke Kompetenz."
vom Spanischen "esta firma nos hace fuerte competencia." (Vgl.
Bieregel/Müschen 1981: 10)
"Ist der Brief mit Luftpost gekommen? Nein, mit der ordinären
Post!"
vom Spanischen "¿Llegó esta carta por correo aéreo?
¡No, por correo ordinario!" (Vgl. Bieregel/Müschen 1981: 29)
Weiterhin gehen Bieregel/Müschen (1983: 25f.) auf verschiedene
Hispanismen ein, die je nach Abgeschiedenheit der Region der Sprecher stärker
oder schwächer ausgeprägt waren ("gehen wir zur
pastelería
"
, zur Bäckerei, oder "die vacken geletschert", die Kühe gemolken,
im Spanischen: lechar las vacas).
Welche Rolle der Zweite Weltkrieg für die sprachliche
Assimilierung der Deutschstämmigen hatte, läßt sich aus einigen
Äußerungen aus Interviews mit deutschstämmigen ChilenInnen der
Llanquihue-Region erkennen:
"(...) mein Vater hat mir erzählt, daß als
der [Zweite] Weltkrieg war, da wurds nicht gern gesehen in manchen
Regionen, daß man Deutsch spricht. Aber das haben die ja nicht gewußt,
wenn man zu Hause Deutsch geredet hat."
(Interview Nr. 35)
"(...) denn wenn man auf der Straße Deutsch sprach,
benannten uns alle als Gringos. (...) Ja, als Schimpfwort. Da
hast du eben auf der Straße dann nicht Deutsch gesprochen. Dann hast
du mehr im Haus und mit den Freunden privat gesprochen. Dagegen jetzt nicht:
du sprichst im Bus Deutsch, du sprichst hier Deutsch und dort, no te importa.
Und wenn sie dir auch Gringa sagen, no te importa. Aber damals
hat es einem ein bißchen weh getan, so daß man sich dann zurückgezogen,
geschämt hat. Und mehr noch, als Deutschland den Krieg verloren hatte."
(Interview Nr. 5)
"La segunda guerra mundial, bueno: [influyó] en
general al ser alemán. Porque aparecieron como los malos de la película.
Puede haber influenciado eso al idioma también, sí." (Interview
Nr. 27)
2
"(...) con Hitler y todo eso, muchos ocultaron o quicieron
ocultar su idioma. (...) Y lo otro, por la propaganda. Se veía Hitler
y los alemanes como los malos, entonces muchos, por no reconocerse o por
no querer estar mal, negaron su raíz." (Interview Nr. 30)
3
Dabei wird deutlich, daß eine Verlagerung des deutschen
Sprachgebrauchs vom öffentlichen vornehmlich in den privaten Bereich und
somit in die Domäne der Familie stattfand. Mit fortschreitender Assimilation
sehen es viele der Deutschstämmigen außerdem als unhöflich an,
vor anderen Mitmenschen, die Spanisch als Landessprache beherrschen, Deutsch
zu sprechen.
Interessant ist zudem, daß die deutschen katholischen
Einwanderer und deren Nachkommen im Gegensatz zu den Lutheranern eine recht
schnelle Eingliederung in die chilenische Gesellschaft durchmachten. Der Zugang
zur bestehenden chilenischen Gemeinde hat sich sehr bald für die Katholiken
sozusagen automatisch ergeben und Mischehen mit ibero-chilenischen Partnern
waren aufgrund des gleichen Glaubens viel eher als bei den Lutheranern üblich.
Auch Grandjot/Schmidt erklären die unterschiedliche Sprachbeherrschung
von Katholiken und Protestanten damit, daß "der Protestant, der ins katholische
Chile einwandert (...) seine Kirche und in ihr die deutsche Gottesdienstsprache"
(Grandjot/Schmidt 1960: 35) mitbringt, der Katholik hingegen diese Bindung nicht
eingeht.
Grandjot und Schmidt veröffentlichten 1960 die Ergebnisse
einer Befragung von insgesamt 6.574 Deutschstämmigen des Gebietes südlich
von Concepción bis Puerto Montt. Es ergab sich in jener Studie, daß
63 % der Befragten Deutsch und Spanisch gleichmäßig beherrschten,
also ausgewogen zweisprachig waren. Oftmals seien sich die Befragten nicht bewußt
gewesen, in welcher Sprache sie gerade gesprochen oder gedacht hätten.
Welche der beiden Sprachen schließlich benutzt wurde, hing von den Umständen
ab. "Die betreffende Antwort lautete in diesem Falle fast immer: wie es gerade
kommt." (Schmidt 1963: 113). 18,5 % bevorzugten die deutsche Sprache und beherrschen
Spanisch lediglich als eine Fremdsprache. Weitere 18,5 % hätten das Spanische
bevorzugt, das Deutsche wäre in diesem Fall nur noch eine Fremdsprache
für sie gewesen. Allgemein zeichnete sich mit steigender Generationszahl
eine stärkere Neigung zum Spanischen ab. Auch auf die kritische Rolle von
Mischehen wiesen Grandjot/Schmidt hin. Vor allem bei Kindern aus Mischehen mit
deutschem Vater und chilenischer Mutter schien die deutsche Sprache verloren
zu gehen. Reiter (1993: 111) weist unter anderem auch auf die besondere spracherhaltende
Funktion deutsch-chilenischer Frauen und Mütter hin.
Inwiefern die jüngste Geschichte des Landes Einfluß
auf die Erhaltung der deutschen Minderheit in Chile und deren Sprache gehabt
haben mag, erklärt eine junge Chilenin deutscher Abstammung während
eines in Puerto Varas geführten Interviews. Sie sieht die Ereignisse um
1970 mit dem Wahlsieg der "Unidad Popular" mit Salvador Allende als Präsidenten
in enger Verbindung mit einer plötzlichen Wende der Sprachneigung der Deutsch-Chilenen
hin zum Spanischen:
"[Das war] in dem Jahr 1970. Das hatte etwas mit der Politik
zu tun. Denn wir hatten ja vorher ab 1958 den Alessandri, der war doch von
der Rechtspartei. Und die, die von der Rechtspartei sind, das sind ja die
Leute, die was haben, Ländereien und so. Und das waren doch auch vor
allem die, die Deutsch gesprochen haben. Ja, dann kam der Allende rein,
der war doch von der Linken. Und die haben doch Ländereien weggenommen.
Und da war dann Deutsch plötzlich verpöhnt und man hat so wenig
wie möglich Deutsch gesprochen."
Auch Born und Dickgießer sehen in diesem Zusammenhang
eventuelle Folgen für das Deutsch-Chilenentum. Nicht geklärt sei unter
anderem, inwiefern "die politischen Veränderungen in Chile (Sieg der Volksfront
unter Allende einerseits, Putsch der Generäle unter Pinochet andererseits)
auf die Gesamtzahl der Deutschsprachigen" (Born/Dickgießer 1989: 67) Auswirkungen
gehabt haben, da sich als Folge der jeweiligen Machtwechsel recht bedeutende
Emigrationswellen einstellten.
Dies führt uns zu der Frage nach der allgemeinen Zahl
der Deutschstämmigen in Chile. Im nächsten Kapitel soll nach der bisherigen
geschichtlichen Betrachtung ein Überblick über die aktuelle Situation
der Chilenen deutscher Abstammung folgen.
3 Aktuelle Situation der Chilenen deutscher Abstammung
3.1 Größe und Verbreitung der deutschstämmigen
Minderheit in Chile
Zur Zahl der deutschstämmigen Minderheit in Chile gibt
es unterschiedliche Angaben, die sich je nach Quelle zwischen 150.000 und 200.000
Personen bewegen (Deutsch-Chilenischer Bund (Hg.) 1997: 331). Born und Dickgießer
(1989: 67) gehen von 20.000 bis 35.000 Deutschsprachigen in Chile aus, wobei
darauf hingewiesen werden muß, daß die Autoren hier auch Nachfahren
von aus Österreich oder der Schweiz eingewanderten Siedlern einbeziehen.
Geht man von einer Gesamtbevölkerung Chiles von rund 12,5 Mio. Einwohnern
aus, haben die Deutschsprachigen einen Anteil von etwa 0,2 %. Viele Chilenen
deutscher Abstammung besitzen außer der chilenischen auch die deutsche
Staatsangehörigkeit. Insgesamt wird von 16.000 Inhabern eines bundesdeutschen
Passes ausgegangen, während diese Zahl sowohl die fest ansässigen
Chilenen deutscher Abstammung als auch die nur vorübergehend in Chile verweilenden
Bundesdeutschen einbezieht (Born/Dickgießer 1989: 67).
Auch heute liegt das hauptsächliche Siedlungsgebiet der
Deutschstämmigen noch im Süden Chiles, in der "Región de los
Lagos", dem Seengebiet. Kleinere deutsche "Enklaven" sind in der Hauptstadt
Santiago, in Peñaflor und bei Concepción und Temuco, dem ehemaligen
"Frontera"-Gebiet, zu finden.
3.2 Deutsche Institutionen in Chile
Deutsche Kultur und Sprache in Chile verdanken ihre Erhaltung
und Pflege vor allem einer ausgeprägten deutschen institutionellen Infrastruktur,
die in den ersten beiden Etappen der deutschen Einwanderung und bis in die zwanziger
Jahre dieses Jahrhunderts spracherhaltend wirkte (Born/Dickgießer 1989:
68). Bereits kurz nach Ankunft der ersten deutschen Einwanderer wurden erste
deutsche Vereinigungen gegründet, die entweder aus dem einfachen Wunsch
nach Geselligkeit oder aber auch aus Notwendigkeit entstanden (vgl. Burdach/Vega
1994: 22). Es wurden Deutsche Vereine gegründet, Deutsche Schulen, lutheranische
Kirchengemeinden, deutsche Feuerwehrvereinigungen, Sportvereine, Burschenschaften,
Frauenvereine, Musik- und Sängergruppen, deutsche Altersheime, Krankenhäuser
und Wohlfahrtsgruppen. Heute existiert nach wie vor ein Großteil dieser
Vereinigungen, doch wird in den meisten von ihnen mittlerweile kein Deutsch
mehr gesprochen. Die ehemals spracherhaltenden Institutionen sind Teil eines
Teufelskreises geworden (vgl. Schobert 1983: 297): Durch die immer seltenere
oder mangelhafte Verwendung der deutschen Sprache in den Familien verfügen
die deutschstämmigen Kinder über immer weniger Vorkenntnisse und der
Unterricht der Deutschen Schulen muß zwangsläufig diesen mangelhaften
Kenntnissen angepaßt werden. Dadurch erreichen die Schüler mit Beendigung
der Deutschen Schule eine viel geringere Sprachkompetenz als früher. Dies
führt wiederum dazu, daß aufgrund dieser sprachlichen Unsicherheit
auch in den Gottesdiensten und deutschen Vereinigungen immer weniger Deutsch
verwendet wird, um sprachliche Mißverständnisse und Lücken zu
vermeiden. Damit fällt eine weitere Übungsmöglichkeit zur Anwendung
der deutschen Sprache weg. Außerdem sollen bereits 45 % der deutschen
"Vereine und Institutionen heute auf nichtdeutschsprachige Mitglieder angewiesen
sein, um zu überleben" (Schobert 1983: 287).
3.3 Sprachgebrauch bei den Chilenen deutscher Abstammung
Nur in Ausnahmefällen wird heutzutage im Elternhaus deutschstämmiger
Familien noch Deutsch gesprochen. Zum einen sind die mittlerweile weitverbreiteten
Mischehen ein Grund dafür, daß die Familiensprache in der Regel Spanisch
ist, zum anderen fühlen sich manche Eltern bereits selbst zu unsicher in
der deutschen Sprache, als daß sie sich in der Lage fühlten, ihre
Kinder mit der Muttersprache Deutsch großzuziehen. Ein weiteres Problem
ist die oftmals negative Haltung der Kinder und Jugendlichen gegenüber
dem Deutschen. In einer spanischsprachigen Umwelt scheint es ihnen für
ihre soziale Integration und den gesellschaftlichen Aufstieg wichtiger, die
spanische Sprache und nicht die deutsche zu sprechen, eine Sprache, mit der
sie ohnehin nicht mehr viel verbindet (vgl. Reiter 1993: 113).
Dies bedeutet jedoch nicht eine allgemeine Geringschätzung
oder ein niedriges Prestige der deutschen Sprache in Chile. Gerade unter den
Erwachsenen ist die "Wertschätzung des Deutschen weiterhin sehr hoch" (Reiter
1993: 112). Deutsch wird vielfach als besondere Chance angesehen, als Wegbereiter
zu besseren beruflichen Möglichkeiten und als Voraussetzung, später
während des Studiums oder zu einem Praktikum nach Deutschland gehen zu
können.
In einer Befragung (Burdach/Vega 1994) von 39 Chilenen deutscher
Abstammung aus drei verschiedenen Generationen in der Llanquihue-Region wird
deutlich, daß das Deutsche immer weniger verwendet wird und vor allem
bei der jüngeren Generation eine eindeutige Neigung zum Spanischen vorherrscht.
Erstaunlicherweise geben die Informanten aller drei Generationen an, sowohl
die spanische als auch die deutsche Sprache zu verwenden: die Jüngeren
noch bis zur Hälfte, die anderen zu drei Vierteln. Welche der beiden Sprachen
gesprochen werde, hänge vor allem von dem Gesprächspartner und der
jeweiligen Gesprächssituation ab. So spreche die Großelterngeneration
untereinander und mit der Elterngeneration Deutsch, die Elterngeneration unter
sich jedoch bereits mal Spanisch, mal Deutsch, mit einer Tendenz zum Spanischen.
Die Kindergeneration spreche außer mit den Großeltern grundsätzlich
Spanisch. Bei formellen oder öffentlichen Gesprächssituationen würde
allgemein Spanisch gesprochen, bei informellen Gesprächssituationen der
beiden älteren Generationen dagegen beide Sprachen oder vorzugsweise Spanisch,
von den Jüngeren jedoch hauptsächlich nur Spanisch. Damit bleibt keine
Sprachdomäne, die der deutschen Sprache reserviert wäre. Burdach und
Vega stellen in der Sprachbeherrschung einen deutlichen Unterschied zwischen
Katholiken und Lutheranern fest. Die katholischen Informanten hatten, wie sich
im Rahmen der Befragung herausstellte, in allen drei Generationen die deutsche
Sprache nahezu vollständing aufgegeben. Die Studie erhärtet den Eindruck,
daß das Deutsche heute nur noch institutionell gestützt wird, während
in alle anderen Bereiche das Spanische rasch eindringt.
Neben den Deutschen Schulen unterrichten und vermitteln vor
allem das Goethe-Institut in Santiago und der Deutsch-Chilenische Bund (DCB)
in speziellen Kursen die deutsche Sprache und bieten außerdem ein abwechslungsreiches
Programm an kulturellen Veranstaltungen (Vorträge, Ausstellungen, Theater,
Filme, Diskussionsrunden etc.).
Als chilenische Wochenzeitung in deutscher Sprache wird vom
DCB in Santiago der "Condor" herausgegeben, der "aber offenbar nur von einer
Minderheit der Deutschsprachigen angenommen wird" (Born/Dickgießer 1989:
72). Deutschsprachige Radioprogramme gibt es zahlreiche, die über das Land
verteilt auf verschiedenen Frequenzen und zu ausgewählten Zeiten senden.
Großer Beliebtheit unter den Chilenen deutscher Abstammung erfreut sich
vor allem die Deutsche Welle.
Sprachen von Einwanderern wurden in Chile zwar nie verboten,
jedoch hat auch zu keiner Zeit eine direkte staatliche Unterstützung oder
Förderung im Rahmen eines Minderheitenschutzes existiert (vgl. Born/Dickgießer
1989: 70).
Nach der vorangegangenen grundsätzlichen Klärung
der historischen Entwicklung und aktuellen Situation der Deutschstämmigen
in Chile, soll im folgenden zur empirischen Untersuchung der soziolinguistischen
Situation von Chilenen deutscher Abstammung im Jahre 1997 übergegangen
werden.
4 Durchführung einer eigenen empirischen Untersuchung
zur soziolinguistischen Situation von Chilenen deutscher Abstammung
Im Gegensatz zum Kolonisationsgebiet bei Valdivia und den Llanos,
wo bereits bestehende Strukturen von den deutschen Einwanderern des letzten
Jahrhunderts genutzt werden konnten und der Handel sich rasch zu entwickeln
vermochte, war das Kolonisationsgebiet am Llanquihue-See eine geplante Agrarkolonisation
auf Neuland, das sich lange Zeit durch seine isolierte Lage auf eine eigene
deutsche Infrastruktur stützte, die als starker kultur- und spracherhaltender
Faktor wirkte. Da das deutsche Siedlungsgebiet am Llanquihue-See aufgrund dieser
Faktoren seine spezielle deutsche Eigenheit lange Zeit erhalten konnte und auch
heute mit seinen Touristenzielen wie Frutillar noch als "besonders deutsch"
gilt, konzentriert sich die empirische Untersuchung auf dieses Gebiet entlang
des Llanquihue-Sees. Grundlage der Untersuchung ist die empirische Erhebung
anhand von Fragebögen und Interviews in den am Llanquihue-See gelegenen
Orten Frutillar, Llanquihue und Puerto Varas Anfang des Jahres 1997.
5 Ergebnisse der empirischen Untersuchung
Die 1997 durchgeführte empirische Untersuchung zählt
insgesamt 270 Fälle, die sich zusammensetzen aus:
- 36 Interviews
- 24 außerschulischen Fragebögen
- 210 Fragebögen von Eltern der Deutschen Schule Puerto Varas.
Der Interview-Leitfaden stützte sich auf die im Fragebogen
gestellten Fragen, enthielt jedoch zusätzliche Rating-Skalen (vgl. 5.2.5.5).
Die Ergebnisse der empirischen Untersuchung zur aktuellen soziolinguistischen
Situation von Chilenen deutscher Abstammung lassen sich nach folgenden Unterpunkten
gliedern:
- Persönliche Daten
- Einwanderung der deutschen Vorfahren
- Deutsche Institutionen und Mitgliedschaft
- Sprachsituation
- Sozialkultureller Hintergrund
- Zusätzlicher Interview-Fragenabschnitt
5.2.1 Persönliche Daten
5.2.1.1 Alter
40,7 % (110 Nennungen) der insgesamt 270 Befragten geben an,
zwischen 31 und 50 Jahren alt zu sein und bilden damit die Altersgruppe mit
dem größten Anteil.
Abbildung 1
![](/web/20110616042009im_/http://www.linguistik-online.com/3_00/Image10.gif)
Zu beachten ist allerdings, daß durch die Verteilung
der Fragebögen an der Deutschen Schule bereits auf gewisse Art und Weise
eine Beeinflussung der Altersverteilung der Befragten getroffen wurde, da zu
erwarten war, daß die Elternschaft der schulpflichtigen Jugendlichen in
ihrer Altersstruktur nicht zu weit auseinanderklaffen würde. Anhand einer
Kreuztabelle ist deutlich zu erkennen, daß sich das Alter der in der Untersuchung
befragten Elternschaft der Deutschen Schule Puerto Varas hauptsächlich
auf die Altersgruppe zwischen 31 und 50 Jahren konzentriert, während insbesondere
unter den Interviewpartnern eine Verteilung auf alle fünf Altersgruppen
zu erkennen ist.
5.2.1.2 Geschlecht
Die Geschlechterverteilung der Befragung ist außerordentlich
ausgewogen: Bezogen auf die Gesamtsumme der Befragten (N=270) läßt
sich ein Frauenanteil von 50,7 % (137 Nennungen) und ein Männeranteil von
47,8 % (129 Nennungen) nachweisen.
5.2.1.3 Religionszugehörigkeit
48,5 % aller Befragten (131 Nennungen) bekennen sich zum Katholizismus,
37 % (100 Nennungen) zum Protestantismus und 4,4 % (12 Nennungen) geben an,
einer anderen Glaubensgemeinschaft anzugehören.
5.2.1.4 Ausbildungs- und Berufssituation
Bei Betrachtung der Häufigkeitstabelle zur Ausbildung
der befragten Personen fällt ins Auge, daß 46,9 % (60 Nennungen)
angaben, ein abgeschlossenes Studium nachweisen zu können. Immerhin 25,8
% (33 Nennungen) schafften es bis zur Beendigung der "Enseñanza Media",
der Oberstufe, was einem Abiturabschluß entsprechen würde. Dies zeigt
ein relativ hohes Bildungsniveau der Befragten, was als repräsentativ angesehen
werden kann.
Betrachtet man die Verteilung in Berufsgruppen, ist unter den
deutschstämmigen Befragten eine Konzentration auf wissenschaftliche Berufe
(Ärzte, Juristen, Architekten, Biologen, Lehrer etc.) mit 23,5 % (42 Nennungen),
auf land- und tierwirtschaftliche Berufe mit 21, 8 % (39 Nennungen) und auf
Hausfrauentätigkeit mit 19,6 % (35 Nennungen) zu erkennen. Auffällig
ist der hohe Anteil von Hausfrauen unter den Befragten deutscher Abstammung,
der sich bei den Nichtdeutschstämmigen nur auf 9,4 % (5 Nennungen) beläuft.
5.2.1.5 Geburts- und Wohnort
Geburts- und Wohnort der Befragten konzentrieren sich auf die
Provinz Llanquihue. Allein die Auswahl der Orte, von denen aus die vorliegende
Untersuchung ausgeführt wurde, bewirkte eine regionale Konzentration, die
sich in der Häufigkeitsverteilung der Variablen "Wohnort" wiederfindet:
die drei am häufigsten angegebenen Wohnorte aller gültigen Antworten
waren mit 51,7 % (119 Nennungen) Puerto Varas, mit 24,3 % (56 Nennungen) Llanquihue
und mit 11,3 % (26 Nennungen) Frutillar.
5.2.2 Einwanderung der deutschen Vorfahren
Die Mehrheit der deutschen Vorfahren der Befragten kam mit der ersten großen
Einwanderungswelle während der Jahre 1846 bis 1875 nach Chile. 65,4 % aller
Angaben (89 Nennungen) der Befragung konzentrierten sich auf diesen Zeitraum.
Abbildung 2
![](/web/20110616042009im_/http://www.linguistik-online.com/3_00/Image11.gif)
5.2.3 Deutsche Institutionen und Mitgliedschaft
5.2.3.1 Deutschsprachige Gottesdienste
60,3 % (117 Nennungen) der deutschstämmigen Befragten geben an, noch immer
in deutschsprachige Gottesdienste zu gehen, 39,7 % (77 Nennungen) verneinen
dies. Auf die Frage, ob in der eigenen Kirchengemeinde überhaupt noch deutsche
Gottesdienste angeboten würden, antworten 61 % der Deutschstämmigen
(111 Nennungen) mit Ja, 39 % (71 Nennungen) mit Nein.
Aus der Befragung wird außerdem erkenntlich, daß
vor allem Deutschstämmige des fortgeschrittenen Alters an den deutschsprachigen
Gottesdiensten teilnehmen.
5.2.3.2 Mitgliedschaft in deutschen Vereinigungen
Auf die Frage, ob der oder die Befragte jemals Mitglied einer
deutschen Institution war, antworten 41 % (80 Nennungen) der Deutschstämmigen
mit Ja, 59 % (115 Nennungen) mit Nein. Dies zeigt, daß die Mehrheit der
Chilenen deutscher Abstammung nicht im Rahmen ihrer Minderheitengruppe institutionell
organisiert ist.
Abbildung 3
![](/web/20110616042009im_/http://www.linguistik-online.com/3_00/Image12.gif)
Dabei ist festzustellen, daß Deutsch-Chilenen der fortgeschritteneren
Altersgruppen und vor allem auch Protestanten eher dazu neigen, Mitglied in
einer deutschen Vereinigung zu sein.
5.2.3.3 Deutsche Schule
Zu Beginn der Fragebogenverteilung an der Deutschen Schule Puerto Varas stand
eine besondere Frage: Wie sieht das Verhältnis von deutschstämmigen
und nichtdeutschstämmigen Schülern aus? Bei einem Blick auf die Häufigkeitsangaben
erkennt man eine eindeutig Mehrheit deutschstämmiger Schüler an der
Deutschen Schule Puerto Varas: 66,2 % (139 Nennungen) der an der Schule Befragten
bestätigen eine deutsche Abstammung, 33,8 % (71 Nennungen) verneinen diese.
Es stellt sich heraus, daß 59,4 % (117 Nennungen) aller deutschstämmigen
Befragten bestätigen, Deutsch als Unterrichtssprache gehabt zu haben. Immerhin
47,4 % (37 Nennungen) der Deutschstämmigen, die keinen muttersprachlichen
Unterricht auf deutsch hatten, lernten Deutsch an der Schule als Fremdsprache.
5.2.4 Sprachsituation
38,7 % (77 Nennungen) der deutschstämmigen Befragten gaben
an, über gute bis sehr gute Deutschkenntnisse zu verfügen, 35,2 %
(70 Nennungen) schätzten ihre deutschen Sprachkenntnisse als mangelhaft
bis schlecht ein. Hierbei handelt es sich um eine reine Selbstenschätzung
der Befragten in den Kategorien "sehr gut", "gut", "mittel", "mangelhaft" und
"schlecht".
Abbildung 4
![](/web/20110616042009im_/http://www.linguistik-online.com/3_00/Image13.gif)
Errechnet man den Mittelwert für die selbsteingeschätzten
deutschen Sprachkenntnisse der deutschstämmigen Befragten, ergibt sich
ein Wert, der mit mittleren Sprachkenntnissen gleichzusetzen ist.
Als nächstes soll untersucht werden, wer von den Befragten
überhaupt noch im Elternhaus Deutsch gesprochen hat. 69,6 % (137 Nennungen)
der Deutschstämmigen bejahen dies, auch wenn das nicht unbedingt bedeutet,
daß tatsächlich regelmäßig und ausschließlich Deutsch
gesprochen wurde.
Interessant ist im weiteren, mit wem Deutsch gesprochen wurde.
Der Schwerpunkt scheint in diesem Zusammenhang in der engsten Familie zu liegen
(Eltern, Großeltern). Diese Angaben lassen auf den eingeschränkten
Gebrauch der deutschen Sprache schließen: Deutsch wird heute hauptsächlich
nur noch in der Domäne der Familie und im privaten oder familiären
Rahmen gesprochen.
Im Falle der Chilenen deutscher Abstammung steht der "Wert",
den diese der deutschen Sprache zuordnen, in engem Zusammenhang mit der Motivation,
eine Sprache überhaupt zu lernen, zu sprechen und zu pflegen. 64,6 % (62
Nennungen) der deutschstämmigen Befragten gaben in der empirischen Untersuchung
an, daß für sie die deutsche Sprache ihren speziellen Wert aus der
eigenen und familären Tradition habe. 33,3 % (32 Nennungen) gaben einen
für sie hohen kulturellen Wert (deutsche Literatur, Lieder etc.) der deutschen
Sprache an und 29,2 % (28 Nennungen) betonten die besseren Aufstiegschancen,
die sich ihnen durch Kenntnis der deutschen Sprache eröffneten.
Fragen nach der Sprache, in der man sich lieber unterhält,
zielen auf eine spontane Antwort ab, aus der man bei guter Beherrschung aller
zur Wahl stehender Sprachen unter anderem auch Spracheinstellungen ableiten
kann. Ein Zusammenhang zwischen der relativ guten deutschen Sprachbeherrschung
und der Aussage, allgemein und in der Familie lieber auf Deutsch zu sprechen,
wird mit der Auswertung der Befragung bestätigt.
Bei den Hauptgründen, allgemein im täglichen Leben
mehr Spanisch als Deutsch zu sprechen, konzentrieren sich die Antworten auf
sechs Schwerpunkte: 39,7 % (50 Nennungen) der Befragten betonen die Situation,
daß die Landes- und Mehrheitssprache in Chile nun einmal Spanisch sei;
34,9 % (44 Nennungen) nennen die Rücksicht gegenüber Spanischsprachigen,
die Deutsch nicht verstünden; 19,8 % (25 Nennungen) führen Mischehen
zwischen Deutschsprachigen und Nichtdeutschsprachigen an; 15,9 % (20 Nennungen)
erwähnen den starken Einfluß der USA und die starke Konkurrenz der
englischen Sprache; 13,5 % (17 Nennungen) meinen, Deutsch sei eine zu schwere
Sprache und 10,3 % (13 Nennungen) bezogen sich schließlich auf die fehlenden
Übungsmöglichkeiten und Gelegenheiten, Deutsch überhaupt anwenden
zu können. Als zusätzlicher Faktor des Sprachwechsels wird von 14,3
% (19 Nennungen) der Befragten eine zunehmend umstrittene Rolle der Deutschen
Schulen in der Vermittlung der deutschen Sprache genannt (s. u.). Weitere 14,3
% (19 Nennungen) betonen, daß Deutsch keine Weltsprache wie Englisch sei,
weshalb es an Beliebtheit und Wichtigkeit einbüße. 11,3 % (15 Nennungen)
gehen schließlich auf die fehlende Motivation ein, die deutsche Sprache
zu lernen oder weiterhin zu erhalten.
Dies führt zu der Frage, was denn wichtig wäre, um
den Gebrauch der deutschen Spache im täglichen Leben zu fördern und
dem Sprachverlust Einhalt zu gebieten. 23,1 % (33 Nennungen) der deutschstämmigen
Befragten gingen dabei kritisch auf die Rolle des Deutschunterrichts der Deutschen
Schulen ein. Der Unterricht müsse interessanter und besser gestaltet werden,
wobei 13,3 % (19 Nennungen) außerdem betonen, daß mehr Lehrer aus
Deutschland gebraucht würden. 16,1 % (23 Nennungen) äußern,
daß mehr Motivation zum Lernen und Erhalt der deutschen Sprache geschaffen
werden müßten und besser über Deutschland informiert werden
sollte. 12,6 % (18 Nennungen) schlagen schließlich vor, daß verstärkte
Wirtschaftsbeziehungen zu Deutschland aufgebaut werden sollten, um den geschäftlichen
Kontakt mit Deutschland und somit auch die Motivation, Deutsch zu lernen, zu
unterstützen.
Anschließend wird untersucht, ob der Zweite Weltkrieg
den Gebrauch der deutschen Sprache in irgendeiner Art und Weise beeinflußt
hat. 64,2 % (104 Nennungen) der Befragten verneinen dies, 35,8 % (58 Nennungen)
können sich einen Einfluß der Ereignisse der damaligen Jahre zumindest
vorstellen. 28,8 % (15 Nennungen) verweisen zusätzlich auf das allgemeine
schlechte Deutschlandbild der damaligen Zeit und weitere 25 % (13 Nennungen)
der Befragten sind der Meinung, daß damals allgemein in der Öffentlichkeit
weniger Deutsch gesprochen wurde. Auf der anderen Seite werden die neu eintreffenden
deutschen Einwanderer von 25 % (13 Nennungen) erwähnt, die sozusagen ein
"frisches Deutsch" mit nach Chile brachten.
Auf die Frage nach der Rolle deutscher Gruppierungen und Organisationen
während der Jahre 1933-1945 in Chile gehen nur sehr wenige der Befragten
ein (nur 16,6 % beantworten diese Frage überhaupt). 9 % dieser Antwortgebenden
betonen dabei die verstärkte Unterstützung der deutschen Sprach- und
Kulturarbeit durch jene Gruppierungen.
Der tatsächliche Sprachwechsel vom Deutschen zum Spanischen
unter den Deutschsprachigen in Chile wird von der Mehrheit der deutschstämmigen
Befragten in den Zeitraum der fünfziger bis siebziger Jahre eingeordnet.
Diese Angaben stimmen mit der Einschätzung überein, daß Mischehen
verstärkt nach den fünfziger Jahren auftreten, und bestärken
Blancpains Ausführungen (1985) über einen Zusammenhang zwischen dem
vermehrten Auftreten von Mischehen und dem Sprachwechsel vom Deutschen zum Spanischen.
Allgemein ergaben sich bei der Auswertung der Umfrage gewisse
Zusammenhänge zwischen einer guten deutschen Sprachbeherrschung und ...
- ... der früheren Teilnahme am Fremdsprachenunterricht Deutsch
- ... der Mitgliedschaft in deutschen Vereinigungen
- ... der Bestätigung, zu Hause mit den Eltern auf Deutsch geredet zu
haben
- ... dem Umstand, daß bereits die Eltern deutsche Kultur und deutsches
Ambiente vermittelten
- ... der Tatsache, in Deutschland gewesen zu sein
- ... der Äußerung, sich grundsätzlich lieber auf Deutsch
zu unterhalten
- ... der Bestätigung, sich grundsätzlich mit der Familie auf Deutsch
zu verständigen
- ... der Einschätzung, daß die Deutschstämmigen in Chile
einen relativ hohen Einfluß auf das politische Geschehen in Chile haben.
Außerdem ergaben sich auffällige Zusammenhänge
zwischen guten deutschen Sprachkenntnissen und ...
- ... der Zugehörigkeit zu einer fortgeschritteneren Altersgruppe
- ... dem "Stolz" auf die Geschichte und Errungenschaften der eigenen Vorfahren
in Chile
- ... der Tatsache, eine Deutsche Schule besucht zu haben
- ... der Zugehörigkeit zum protestantischen Glauben
- ... dem Umstand, Deutsch als Unterrichtsfach an der Schule gehabt zu haben
- ... dem Benutzen der deutschen Sprache in der Öffentlichkeit
- ... der Teilnahme an deutschsprachigen Gottesdiensten
- ... dem Umstand, daß bereits die eigenen Eltern versucht haben, ihre
deutschen Sprachkenntnisse an die Kinder weiterzugeben.
5.2.5 Soziokultureller Hintergrund
Zum soziokulturellen Hintergrund gehören vor allem Fragen
zur "deutsche Kultur" und Bräuchen, zur Selbstbezeichnung und Identifikation
mit den deutschen Wurzeln, zum "Deutschen-Bild" der Befragten, zu Unterschiede
zwischen Chilenen deutscher Abstammung und den heutigen deutschen Bundesbürgern
und ob der oder die Befragte jemals selbst in Deutschland war.
5.2.5.1 Deutsche Kultur und deutsche Bräuche
Auf die Frage, ob den Befragten von ihren Eltern oder der unmittelbaren
Umgebung "deutsche Kultur" vermittelt wurde, antworten 79,9 % (147 Nennungen)
mit Ja, 20,1 % (37 Nennungen) mit Nein. Interessant ist nun, genauer nachzuforschen,
was von ihnen unter "deutscher Kultur" verstanden wird. 35,8 % (63 Nennungen)
der Deutschstämmigen nennen deutsche Traditionen und Bräuche wie das
Weihnachts- oder Osterfest als wichtigsten Bestandteil dieser weitergegebenen
deutschen Kultur. 28,4 % (50 Nennungen) betonen die Anerkennung und das
Wissen über deutsche Literatur, Musik und allgemeine Kunst, 12,5 % (22
Nennungen) verweisen auf besondere Eigenschaften, die den Deutschen oder Deutschstämmigen
zugeschrieben werden (wie Fleiß, Ordnung etc.), und 9,7 % (17 Nennungen)
nennen als offensichtliche Besonderheit eine typisch deutsche Wohn- und Pflanzenkultur.
Auch aus den Antworten auf die Frage, ob es in der eigenen
näheren Umgebung und Umwelt bestimmte Bräuche, Aktivitäten oder
Ausdrücke deutschen Ursprungs gäbe, geht mit 36 % (105 Nennungen)
der Antworten eine Konzentration auf Bräuche und Traditionen zu bestimmten
Festen hervor: Ostern, Weihnachten, Bierfest, Kirmes usw. Es folgen mit 30,1
% (88 Nennungen) typisch deutsche Gerichte (Kuchen, die Brotzeit "Once" etc.),
mit 12,7 % (37 Nennungen) deutsche Musik und mit 10,3 % (30 Nennungen) deutsche
Namen und Wörter, die in der jeweiligen Gegend verbreitet und üblich
sind. Ein deutscher Einfluß wird außerdem im Zusammenhang mit den
deutschen Institutionen und Vereinigungen (5,1 %), in der Landwirtschaft (1,4
%), der Architektur und im Stadtbild (1,4 %), im chilenischen Militär (0,7
%) und schließlich in einer unter den Deutschstämmigen üblichen
Art, den Tisch zu decken (0,3 %), gesehen.
5.2.5.2 Deutschland
Überraschend ist der hohe Anteil von 70,5 % (136 Nennungen)
der befragten Deutschstämmigen, die selbst noch nie in Deutschland gewesen
sind und das Land ihrer Vorfahren somit nie selbst kennenlernen konnten.
Dies bedeutet, daß vor allem die jüngeren Generationen
nach Deutschland reisen, was im Zusammenhang mit den besseren Möglichkeiten
des Schüler- und Studentenaustausches stehen könnte.
5.2.5.3 Selbstidentifikation mit den deutschen Wurzeln
Die eindeutige Mehrzahl der befragten Deutschstämmigen
in Chile versteht sich selbst als "Chilenen deutscher Abstammung".
Abbildung 5
![](/web/20110616042009im_/http://www.linguistik-online.com/3_00/Image14.gif)
88,7 % (165 Nennungen) der befragten Deutschstämmigen
sind stolz auf ihre deutschen Wurzeln.
5.2.5.4 Abgrenzung zu Nichtdeutschstämmigen in Chile
und zu den Bundesdeutschen
Auffällig ist, wie sich die Chilenen deutscher Abstammung
einerseits im Gegensatz zu den Ibero-Chilenen und andererseits im Gegensatz
zu den heutigen deutschen Bundesbürgern sehen.
21,1 % (58 Nennungen) der Befragten nennen "arbeitsam" und
"fleißig" als typisch deutsche Eigenschaften, 14,5 % (40 Nennungen) geben
"pünktlich", 11,3 % (31 Nennungen) "verantwortungsbewußt" und 10,5
% (29 Nennungen) "ordentlich" als typische Charaktereigenschaften an. Es handelt
sich hier also um eine positive Abgrenzung der eigenen deutschstämmigen
Minderheit von der nichtdeutschstämmigen Allgemeinheit, denn "arbeitsam",
"fleißig", "pünktlich", "verantwortungsbewußt" und "ordentlich"
können als durchweg positive Attribute gewertet werden.
Betrachten wir nun die Häufigkeitsverteilung der Antworten
zur Andersartigkeit der Bundesdeutschen. 75,8 % (119 Nennungen) der deutschstämmigen
Befragten meinen, daß die Chilenen deutscher Abstammung anders als die
heutigen Bundesdeutschen sind und sich in verschiedenen Punkten von ihnen unterscheiden.
Inwiefern sich diese Andersartigkeit äußert, ist an folgenden Antworten
ersichtlich: 35 % (105 Nennungen) der Befragten meinen, der Chilene deutscher
Abstammung sei sozialer, offener und freundlicher als der Bundesdeutsche. 28
% (84 Nennungen) bezeichnen den Chilenen deutscher Abstammung als weniger "direkt",
"hart", oder "streng". 10,2 % (30 Nennungen) meinen, der Chilene deutscher Abstammung
sei "altmodischer" und "konservativer" als der heutige Bundesdeutsche. 8,6 %
(26 Nennungen) finden die Chilenen deutscher Abstammung "gelassener" und "fröhlicher"
als die Bundesdeutschen, welche wiederum oftmals mit "verkrampft" beschrieben
werden. Es läßt sich also auch in diesem Zusammenhang von einer positiven
Identifikation und Abgrenzung gegenüber den Bundesdeutschen sprechen. Es
ergibt sich insgesamt ein recht lockeres, freundliches, traditionsbewußtes
und fröhliches Eigenbild der Chilenen deutscher Abstammung.
5.2.5.5 Zusätzlicher Interview-Fragenabschnitt
Im Gegensatz zu den Fragebögen enthielt der Interview-Leitfaden
dreizehn zusätzliche Rating-Skalen, bei denen vor allem spontane Einschätzungen
und Einstellungen festgehalten werden sollten. Angaben und Reaktionen zur Größe
der deutschstämmigen Minderheit in Chile, zum Vorkommen von Mischehen,
zum Ansehen der deutschen Sprache und der deutsch-chilenischen Eigengruppe,
zum politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Einfluß der Deutschstämmigen
in Chile und schließlich zur Gruppensolidarität der Eigengruppe wurden
als zusätzliche Daten der empirischen Untersuchung von insgesamt 36 Interviewpartnern
erhoben.
5.2.5.6 Größe der deutschstämmigen Minderheit
in Chile
30,6 % (11 Nennungen) der Interviewpartner schätzten den
Anteil der Deutschstämmigen an der Gesamtbevölkerung Chiles auf 1-5
%, weitere 30,6 % der Interviewpartner (11 Nennungen) schätzten ihn auf
15-20 %.
Die Mehrzahl der Interviewten (25 von 36) gab den Anteil der
Eigengruppe an der Gesamtbevölkerung mit über 5 % an und überschätzte
somit die Größe der deutschstämmigen Minderheit erheblich. Geht
man von einer Gesamtbevölkerung Chiles von rund 12,5 Mio. Einwohnern aus,
machen die Deutschstämmigen in Chile nämlich gerade einen Anteil von
gut 1,4 % aus!
5.2.5.7 Ansehen der Deutschstämmigen und der deutschen
Sprache in Chile
Da bei den Rating-Fragen zum Vergleich meist zwei Einschätzungen
gegeben werden mußten, sollen diese zusammengehörigen Werte teilweise
gegenübergestellt werden. Durch diese Gegenüberstellung wird zugleich
die Wahrnehmung der Eigengruppe und der Fremdgruppe durch die Deutschstämmigen
deutlich.
83,3 % (30 Nennungen) der befragten Chilenen deutscher Abstammung
schätzen das allgemeine Ansehen der Deutschstämmigen in Chile heutzutage
als "gut" oder "sehr gut" ein, wohingegen eine vergleichbare Einstufung des
Ansehens der Ibero-Chilenen nur von 50 % (18 Nennungen) getroffen wird. Vergleicht
man diese Angaben mit den Einschätzungen, die über das Ansehen der
Deutschstämmigen und Ibero-Chilenen vor dem Zweiten Weltkrieg gemacht wurden,
ergibt sich kein großer Unterschied: 83,3 % (30 Nennungen) der Interviewpartner
beurteilen das Ansehen der Deutschstämmigen in Chile vor dem Zweiten Weltkrieg
als "gut" oder "sehr gut", wohingegen eine vergleichbare Einstufung der Ibero-Chilenen
von nur 47,3 % (17 Nennungen) der Befragten erfolgt.
Betrachtet man die Angaben über das Ansehen oder Prestige
der deutschen und spanischen Sprache, fällt die Bewertung umgekehrt aus:
nur noch 41,6 % (15 Nennungen) der deutschstämmigen Interviewpartner beurteilen
das Ansehen der deutschen Sprache in Chile als "gut" bis "sehr gut", 11,1 %
(4 Nennungen) als "eher schlecht" bis "schlecht". 83,3 % (30 Nennungen) dagegen
schätzen das Ansehen der spanischen Sprache, der Landessprache in Chile,
als "gut bis "sehr gut" ein. Keiner der Interviewpartner beurteilte das Prestige
der spanischen Sprache als "eher schlecht" oder "schlecht".
Damit bleibt zu überprüfen, ob ein Zusammenhang zwischen
dem eingeschätzten Ansehen der deutschen Sprache und den jeweiligen Sprachkenntnissen
der Interviewpartner besteht. Dazu wurde eine Berechnung der Korrelationskoeffizienten
der entsprechenden Variablen durchgeführt, bei der sich jedoch keine Signifikanz
einstellte. Es muß demnach in diesem Fall die Nullhypothese angenommen
und davon ausgegangen werden, daß kein Zusammenhang besteht. Gleiches
gilt für die Korrelation der Sprachkenntnisse mit dem Ansehen der Eigengruppe:
auch hier ist der Koeffizient nicht signifikant.
5.2.5.8 Politischer, wirtschaftlicher und kultureller Einfluß
Um zu erfahren, wie hoch die Chilenen deutscher Abstammung
den Einfluß und die Stärke ihrer Eigengruppe in Chile einschätzen,
wurde in den Interviews nach dem geschätzten politischen, wirtschaftlichen
und kulturellen Einfluß der Deutschstämmigen gefragt.
Hier ergibt sich, daß 77,8 % (28 Nennungen) der Interviewpartner
den politischen Einfluß der Eigengruppe in Chile als "gering" oder "mittel"
einstufen. Auf dem politischen Sektor haben die Ibero-Chilenen laut Einschätzung
der deutschstämmigen Befragten also eindeutige Dominanz.
Wie stark sich die Deutschstämmigen in der Wirtschaft
und dem Geschäftsleben Chiles vertreten fühlen, wird aus den folgenden
Ergebnissen deutlich: 58,4 % (21 Nennungen) meinen, die Deutschstämmigen
seien "stark" bis "sehr stark" in der chilenischen Wirtschaft vertreten, 41,7
% (15 Nennungen) geben "schwach vertreten" bis "mittel" an. Trotz einer leichten
Dominanz der Ibero-Chilenen schätzen die Befragten den Anteil, den die
Deutschstämmigen am wirtschaftliche Sektor in Chile haben, als recht hoch
an.
Die Repräsentanz der Deutschstämmigen im kulturellen
Bereich Chiles beurteilen 47,2 % (17 Nennungen) der Interviewpartner als stark
bis sehr stark.
Auf die Frage, wie wohlhabend die Interviewpartner die Deutschstämmigen
in Chile einschätzen, schätzen 52,8 % (19 Nennungen) der Befragten
die Deutschstämmigen als "wohlhabend" bis "sehr wohlhabend" ein Eine ähnlich
hohe Einstufung der Ibero-Chilenen erfolgte nur noch durch 22,2 % (8 Nennungen)
der Interviewpartner. Damit werden die Deutschstämmigen in Chile von den
Befragten als bedeutend wohlhabender angesehen.
5.2.5.9 Gruppensolidarität und Stolz
Auf die Frage, wie stolz die Deutschstämmigen als Gruppe
auf ihre kulturelle Geschichte und ihre Errungenschaften in Chile sind, ergeben
sich folgende Reaktionen der Interviewpartner: 97,2 % (35 Nennungen) schätzen
den allgemeinen Stolz der Deutschstämmigen in Chile auf stark bis sehr
stark ein. Den Stolz anderer Einwanderergruppen schätzen nur 61,1 % (22
Nennungen) der Befragten Stolz als stark bis sehr stark ein. Dies läßt
auf eine starke Identifikation der befragten Deutschstämmigen mit ihrer
Eigengruppe schließen.
Bezogen auf den Gruppenzusammenhalt und das Solidaritätsgefühl
unter den Mitgliedern wurden drei verschiedene Fragen gestellt, die sich auf
die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft beziehen. Da ein bestimmtes Maß
an Zusammengehörigkeitsgefühl Voraussetzung der Existenz einer Minderheit
oder einer Gruppe allgemein ist, soll hier versucht werden, einen Eindruck der
Entwicklung dieses Gruppengefühls im Laufe der Zeit zu erhalten.
Zunächst wurde nach dem gegenwärtigen Gruppenzusammenhalt
gefragt. 52,8 % der Interviewpartner (19 Nennungen) schätzen dieses Gruppengefühl
der Deutschstämmigen in Chile als "stark" bis "sehr stark" ein. Für
die vergangene Zeit, nämlich vor dem Zweiten Weltkrieg, wird der Gruppenzusammenhalt
der Deutschstämmigen von 91,7 % (33 Nennungen) der Befragten als "stark"
bis "sehr stark" eingestuft. Für die Vergangenheit wird demnach für
die Deutschstämmigen insbesondere zur Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg ein
bedeutend höherer Gruppenzusammenhalt angenommen. Betrachtet man die Einschätzungen
für die Zukunft, nehmen 52,8 % der Interviewpartner (19 Nennungen) nur
noch ein schwaches bis mittleres Gruppengefühl der Deutschstämmigen
an. Dies macht eine erwartete starke Abnahme des Gruppengefühls unter den
Deutschstämmigen in Chile offensichtlich.
5.3 Analyse der Ergebnisse
Ausgehend von der Annahme, daß für die Formulierung
von ethnischer Identität das Zusammenspiel von drei Faktoren "paternity"
(Abstammung), "patrimony" (kulturelles Erbe und Sprache) und "phenomenology"
(Wertvorstellungen) entscheidend ist (vgl. Fishman 1977: 17, Haarmann 1991:
11), soll untersucht werden, inwieweit diese Faktoren ausschlaggebend für
die Chilenen deutscher Abstammung und deren Selbstverständnis sind.
Die Befragten der empirischen Untersuchung beschreiben die
gemeinsame deutsche Abstammung und einen gewissen Stolz über diese deutschen
Wurzeln als wichtigen Bestandteil ihrer Identität und ihres Selbstverständnisses.
Ein Grund dafür scheint in der gemeinsamen Vergangenheit zu liegen. Wegen
der harten anfänglichen Umstände, denen die ersten deutschen Siedler
in Chile begegneten, und der Aufbauleistungen, die Deutschstämmige in ihrer
neuen Heimat vollbrachten, ist ein gesunder allgemeiner Stolz auf die Geschichte
der eigenen Vorfahren im Lande weit verbreitet.
Die große Mehrheit der deutschstämmigen Befragten
bestätigt, von ihren Eltern oder der unmittelbaren Umgebung "deutsche Kultur"
vermittelt bekommen zu haben. Neben Traditionen, der deutschen Sprache und verschiedenen
deutschen Bräuchen werden auch bestimmte Eigenschaften, die den Deutschen
oder Deutschstämmigen allgemein zugeschrieben werden, als Bestandteile
des kulturellen Erbes verstanden.
Entscheidend für die Formung ethnischer Identität
sind jedoch nicht nur eine gemeinsame Abstammung sowie ein gemeinsames kulturelles
Erbe, sondern auch die Art und Weise, wie diese bewertet werden. Die befragten
Chilenen deutscher Abstammung grenzen sich in ihrem Empfinden von den Ibero-Chilenen
wie auch von den heutigen Bundesdeutschen ab. Unterschiede zu den Ibero-Chilenen
werden hauptsächlich mit dem unterschiedlichen kulturellen Erbe begründet.
Das eigene kulturelle Erbe wird positiv gewertet; die Chilenen deutscher Abstammung
grenzen sich positiv sowohl von der nichtdeutschstämmigen chilenischen
Allgemeinheit als auch von den deutschen Bundesbürgern ab.
Aus diesen Überlegungen heraus können wir annehmen,
daß für die Identifikation mit der deutschstämmigen Minderheit
in Chile ethnische Kategorien wie die gemeinsame Abstammung, gemeinsame Traditionen
und Verhaltensweisen sowie die deutsche Sprache von erheblicher Bedeutung sind.
Es erscheint demnach legitim, in diesem Fall von einer ethnischen Gruppe zu
sprechen und ihre Situation nach ethnolinguistischen Kriterien zu untersuchen.
Mit Hilfe der "Ethnolinguistic Identity Theory" von Giles und
Johnson (1987) und der "Theory of Language in Ethnic Group Relations" von Giles/Bourhis/Taylor
(1977) soll eine Einschätzung der soziolinguistischen Situation der Chilenen
deutscher Abstammung entwickelt werden.
5.3.1 Gruppenvitalität nach Giles/Bourhis/Taylor
Bei dem Versuch, die Gruppe der Chilenen deutscher Abstammung
anhand der strukturellen Variablen, die nach Giles/Bourhis/Taylor die Vitalität
einer Gruppe ausmachen, einzuordnen und zu untersuchen, werden zunächst
die einzelnen grundlegenden Faktoren der Vitalität einer Gruppe getrennt
betrachtet.
5.3.1.1 Demographie
Geht man von einer Gesamtbevölkerung Chiles von rund 12,5
Mio. Einwohnern und einer Zahl von 150.000 bis 200.000 Deutschstämmigen
in Chile aus (vgl. Deutsch-Chilenischer Bund (Hg.) 1997: 331), haben die Deutschstämmigen
damit einen Anteil an der Gesamtbevölkerung Chiles von gut 1,4 %.
Das hauptsächliche Siedlungsgebiet der Chilenen deutscher Abstammung befindet
sich nach wie vor im Süden Chiles, in der "Región de los Lagos",
der landwirtschaftlich geprägten Seenregion. Kleinere deutsche "Enklaven"
sind in der Hauptstadt, Santiago de Chile, in Peñaflor und bei Concepción
und Temuco, dem ehemligen "Frontera"-Gebiet zu finden. Mischehen Deutschstämmiger
mit Nichtdeutschstämmigen sind grundsätzlich verbreitet.
5.3.1.2 Status
Bei den Statusfaktoren unterscheiden wir vier Untergruppen:
- ökonomischer Status
- sozialer Status
- sozialhistorischer Status
- sprachlicher Status.
Hinsichtlich des
ökonomischen Status
kann festgestellt
werden, daß die Chilenen deutscher Abstammung eine relativ starke Teilhabe
am wirtschaftlichen Leben Chiles haben. Auch die eigenen Einschätzungen
von Mitgliedern der deutschstämmigen Minderheit bestätigten einen
relativ hohen Anteil der Chilenen deutscher Abstammung am wirtschaftlichen Sektor
Chiles.
Der
soziale Status
, der eine gewisse Selbstachtung und
den Grad sozialer Selbsteinschätzung der Eigengruppe darstellt, kann anhand
der Ergebnisse der empirischen Untersuchung als hoch eingeschätzt werden.
Die große Mehrheit der Befragten schätzt das allgemeine Ansehen der
Eigengruppe heutzutage als "gut" bis "sehr gut" ein. Man kann also grundsätzlich
von einem hohen sozialen Status der Chilenen deutscher Abstammung ausgehen.
Betrachtet man die Ergebnisse des zusätzlichen Fragenkomplexes
des Interview-Leitfadens, wird auch ein hoher
sozialhistorischer Status
der Chilenen deutscher Abstammung deutlich. Auf die Frage, wie stolz die Deutschstämmigen
insgesamt als Gruppe auf ihre gemeinsame Vergangenheit und kulturelle Geschichte
sind, stuften die Interviewpartner dieses sogenannte kollektive historische
Bewußtsein und den gewissen Stolz darüber als stark bis sehr stark
ein. Der sozialhistorische Status der Chilenen deutscher Abstammung ist demnach
als hoch anzunehmen.
Hinsichtlich des
sprachlichen Status
sieht die Situation
etwas anders aus. Der Mittelwert der erhobenen Einschätzungen des Ansehens
der deutschen Sprache in Chile durch die deutschstämmigen Befragten liegt
bei einer mittleren Einstufung. Zunehmend befindet sich das Deutsche außerdem
in einer Art Konkurrenzsituation mit dem Englischen, das hinsichtlich des sozialen
Fortkommens als wichtiger eingeschätzt wird als das Deutsche. Zwar hat
die deutsche Sprache für viele Deutschstämmige in Chile auch heute
noch einen ganz konkreten Wert, der meist mit der einfachen Tradition, kulturellem
Verständnis und schließlich auch besseren beruflichen und sozialen
Aufstiegschancen umschrieben wird, doch muß man von einem allgemeinen
sprachlichen Status ausgehen, der sich eher im mittleren Bereich befindet.
5.3.1.3 Institutionelle Unterstützung
Der institutionelle Faktor kann für die Gruppe der Chilenen
deutscher Abstammung auch heute noch als stark ausgeprägt angesehen weden.
Es existiert eine ausgeprägte institutionelle deutsche Infrastruktur in
Chile, die sowohl Deutsche Schulen als auch Deutsche Vereine, Kirchengemeinden,
kulturelle Vereinigungen, Altersheime und Krankenhäuser umfaßt. Als
chilenische Wochenzeitung in deutscher Sprache erscheint der "Condor", deutschsprachige
Radioprogramme senden über das ganze Land auf verschiedenen Frequenzen
und die "Deutsche Welle" erfreut sich im Fernsehen großer Beliebtheit.
5.3.1.4 Klassifizierung der Chilenen deutscher Abstammung
Anhand der beschriebenen Faktoren ist es nach Giles/Bourhis/Taylor
nun möglich, die Gruppe der Chilenen deutscher Abstammung danach zu klassifizieren,
ob sie eine niedrige, mittlere oder hohe Vitalität besitzt. Eine Schwierigkeit
liegt allerdings in der "Meßbarkeit" der jeweiligen Stärke der Faktoren
und der Gesamtvitalität der Gruppe. Nicht klar ist, in welchem Maße
die Höhe der demographischen und Status-Faktoren und schließlich
die Höhe des Faktors der institutionellen Unterstützung ausschlaggebend
für die Vitalität einer Gruppe sind.
Setzte man, wie in unserem Fall, die demographischen Faktoren
eher niedrig, die Status-Faktoren insgesamt hoch und die Faktoren der institutionellen
Unterstützung relativ hoch, würde man auf eine mittlere bis hohe Einschätzung
der Vitalität der Chilenen deutsche Abstammung kommen. Da jedoch die Hypothese
von Giles/Bourhis/Taylor (1977) zusammengefaßt besagt, daß eine
hohe Gruppenvitalität zu einem eher divergierenden Sprachgebrauch und eine
niedrige Gruppenvitalität zu einem eher konvergierenden Sprachgebrauch
führt, mag diese Einschätzung der Vitalität in Verbindung mit
der aktuellen Sprachsituation der Chilenen deutscher Abstammung vorerst überraschend
wirken. Wenn man für die Gruppe der Chilenen deutscher Abstammung nämlich
eine hohe Vitalität annimmt, müßten die Deutschstämmigen
in Chile gemäß der Theorie von Giles/Bourhis/Taylor (1977) zu einem
eher divergierenden Sprachgebrauch tendieren. Dies würde bedeuten, daß
die deutsche Sprache innerhalb der deutsch-chilenischen Minderheit eine größere
Bedeutung haben müßte, als sie tatsächlich hat. Warum ist demnach
die Gruppe der Chilenen deutscher Abstammung, die nach vorhergehender Einschätzung
über eine mittlere bis hohe Vitalität verfügt, eher bestrebt,
sich sprachlich an die Mehrheitsgruppe der muttersprachlich Spanischsprachigen
in Chile anzupassen?
Giles/Bourhis/Taylor weisen in Bezugnahme auf Tajfel (1974)
darauf hin, daß eine Betonung von Unterschieden zwischen Gruppen unter
anderem auch darin begründet sein kann, daß die Gruppe selbst ihren
Status als "illegitim" und "instabil" empfindet (vgl. Giles/Bourhis/Taylor 1977:
333). Kehrt man diese Aussage um, bedeutet dies, so in unserem Fall, daß
das bewußte Nichtbetonen von Unterschieden zwischen Gruppen und die sprachliche
Anpassung an die andere Gruppe darin begründet sein mag, daß die
Gruppe der Chilenen deutscher Abstammung z. B. ihren Status als "legitim" und
"stabil" empfindet. Dies führt uns zu der Diskussion subjektiver Wahrnehmungs-
und Berwertungsmomente.
5.3.2 Subjektive Faktoren
Subjektive Faktoren setzen sich aus der Art und Weise, wie
eine Gruppe von außen wahrgenommen wird (Fremdwahrnehmung) und der Art
und Weise, wie sich eine Gruppe selbst sieht (Selbstwahrnehmung) zusammen.
In bezug auf die Fremdwahrnehmung der Chilenen deutscher Abstammung,
d. h. auf die Art und Weise, wie die Deutschstämmigen von nichtdeutschstämmigen
Chilenen wahrgenommen werden, wird allgemein deutlich, daß die Chilenen
deutscher Abstammung mit ihren Errungenschaften und Aufbauleistungen in der
Geschichte und Gegenwart Chiles eine hohe Anerkennung genießen. Die Deutschstämmigen
werden von den Ibero-Chilenen grundsätzlich als fleißige und aufrichtige
Landsleute gesehen, die außergewöhnlich viel zum Aufbau und zur Entwicklung
Chiles beigetragen haben.
In der von den Chilenen deutscher Abstammung selbst wahrgenommenen
Außensicht ihrer Gruppe klingt oft ein kritischer Unterton mit. Aus vielen
Bemerkungen, wie sich die Deutschstämmigen von der Fremdgruppe wahrgenommen
fühlen, geht hervor, daß oftmals eine Art Neid seitens der Ibero-Chilenen
auf die relativ gute soziale und wirtschaftliche Stellung der Chilenen deutscher
Abstammung in Chile angenommen wird. Ein Chilene deutscher Abstammung sagt in
einem der Interviews:
"Die Chilenen denken, wir sondern uns ab. Da kommt dann
leicht Neid auf. Die Deutschstämmigen sind nun mal fleißig und
hart im Nehmen."
Im Allgemeinen entsteht keine große Diskrepanz zwischen
"Innensicht" und "Außensicht" und der Status der Chilenen deutscher Abstammung
wird grundsätzlich positiv eingeschätzt. Man kann also insgesamt davon
ausgehen, daß dieser positiv eingeschätzte Status von den Deutschstämmigen
auch als legitim und stabil angesehen wird. Damit würde sich die Annahme
von Giles/Bourhis/Taylor (1977: 333) bestätigen.
5.3.3 Einschätzung nach der ethnolinguistischen Identitäts-Theorie
von Giles und Johnson
Giles und Johnson nennen fünf Grundvoraussetzungen der
Sprachbewahrung (Giles/Johnson 1987: 72). Basierend auf ihrem Modell soll an
dieser Stelle eine kurze Einschätzung der soziolinguistischen Situation
von Chilenen deutscher Abstammung erfolgen.
Grundsätzlich identifizieren sich die Deutschstämmigen
in Chile zwar relativ stark mit ihrer Eigengruppe, jedoch spielt die deutsche
Sprache als Marker ihrer Identität eine relativ geringe Rolle. Auch die
bewußte Wahrnehmung von Möglichkeiten einer Veränderung der
eigenen Gruppensituation würde nicht zu einem verstärkt divergenten
Sprachverhalten der Chilenen deutscher Abstammung führen.
Allgemein schätzen die Deutschstämmigen die Vitalität
ihrer Eigengruppe als mittel ein und empfinden die Abgrenzung ihrer Eigengruppe
nach außen meist als offen und eher schwach. Außerdem ist anzunehmen,
daß sie sich neben der Eigengruppe auch mit anderen sozialen Gruppen identifizieren.
Betrachtet man nun die erweiterten Modelle zur Sprachbewahrung
und zum Sprachwechsel von Giles/Johnson (1987), wird man festellen, daß
das Modell der Sprachbewahrung in seinen einzelnen Voraussetzungen der Situation
der Chilenen deutscher Abstammung entspricht.
Wie kommt es, daß nach theoretischen Gesichtspunkten
eine Situation der Chilenen deutscher Abstammung angenommen wird, in der die
Sprachbewahrung vorherrschend ist, die Realität jedoch eindeutig vom Sprachverlust
des Deutschen gekennzeichnet ist? Eine Erklärung könnte in der Grundvoraussetzung
der Identifizierung mit der Eigengruppe liegen. Zwar identifizieren sich die
Chilenen deutscher Abstammung stark mit ihrer Eigengruppe und mit ihrer deutschen
Abstammung, doch sehen sie diese und somit sich selbst als Teil der chilenischen
Realität. Dies wird mitunter auch in dem Selbstverständnis der Deutschstämmigen
als "Chilenen deutscher Abstammung" deutlich, wobei immer wieder betont wird:
"(...) wir sind aber Chilenen!"
5.3.4 Einschätzung nach dem Modell der extremen Bedingungen
eines Sprachwechsels von Haarmann
Basierend auf ökologischen Variablen entwickelt Haarmann
(1986: 11ff.) eine genaue Beschreibung von extremen Bedingungen eines Sprachwechsels.
Diesem Modell entsprechend soll hier eine Einschätzung der soziolinguistischen
Situation der Chilenen deutscher Abstammung erfolgen:
- Ethnodemographische Variablen
Ein Sprachwechsel wird in unserem Fall grundsätzlich
begünstigt, da ...
... die Gruppe der Chilenen deutscher Abstammung zwar mehr
als nur tausend Deutschstämmige in Chile zählt, ihr Anteil an der
Gesamtbevölkerung allerdings mit 1,4 % trotzdem sehr gering ist;
... die Ansiedlung der Deutschstämmigen in ihrem ursprünglichen
Siedlungsgebiet im Süden Chiles durch Streusiedlungen gekennzeichnet
war und sich auch heute noch in einer hauptsächlich ländlichen Gegend
befindet;
... die Gemeinschaft der Chilenen deutscher Abstammung durch
eine starke Abwanderung (Bildungs- und Arbeitsmigration) besonders der jungen
Generation gekennzeichnet ist.
Ein Sprachwechsel wird begünstigt, da ...
... die tatsächlich noch Deutschsprechenden hauptsächlich
ältere Mitglieder der Gruppe sind;
... die Gruppe der Chilenen deutscher Abstammung durch einen
großen Anteil an Mischehen gekennzeichnet ist.
Der soziale und ökonomische Status der Chilenen deutscher
Abstammung in Chile ist dabei allerdings als relativ hoch anzusehen.
- Ethnopolitische Variablen
Ein Sprachwechsel wird begünstigt, da ...
... die Chilenen deutscher Abstammung innerhalb der Mehrheitsgesellschaft
heutzutage keine besonderen unterstützenden Rechte haben und ihnen keine
besonderen Förderungsmaßnahmen zuteil werden (im Gegensatz zu den
ersten Jahren der Kolonisation, in denen deutschen Siedlern zahlreiche Begünstigungen
geboten wurden);
... die Kontaktsprache der Chilenen deutscher Abstammung
die Landessprache ist (Spanisch als Kontaktsprache, Deutsch als ursprüngliche
"Erstsprache");
... die ursprüngliche Muttersprache der Chilenen deutscher
Abstammung, das Deutsche, weder allgemeine Unterrichtssprache noch obligatorisches
Unterrichtsfach in den Schulen ist.
- Ethnokulturelle Variablen
Ein Sprachwechsel wird begünstigt, da ...
... die Mehrheit der Chilenen deutscher Abstammung heute
von polyethnischer Herkunft (Kinder aus Mischehen) ist;
... nur ein unwesentlicher sozialer Abstand ("social distance")
zwischen der Eigengruppe und der dominanten Kontaktgruppe existiert.
Eine Interessenvertretung und Existenz von deutschen Institutionen
und Vereinigungen ist dagegen auch heute noch gewährleistet, fällt
neben den anderen Faktoren dieser Variablen aber nicht mehr so stark ins Gewicht.
- Ethnopsychologische Variablen
Ein Sprachwechsel wird begünstigt, da ...
... die ethnische Identität der Chilenen deutscher Abstammung
trotz ihres deutschen Traditionsbewußtseins generell auf einer starken
Tendenz der Anpassung und Akkulturation basiert;
... Sprachloyalität und die tatsächliche Bereitschaft
zu Anstrengungen zur Sprachbewahrung des Deutschen innerhalb der Gruppe der
Deutschstämmigen relativ niedrig sind.
Ein Sprachwechsel wird begünstigt, da ...
... die Chilenen deutscher Abstammung in regelmäßigem
und alltäglichem Kontakt mit der Mehrheitsgesellschaft stehen;
... soziale Mobilität und alltägliche Interaktionen
die spanische Sprache voraussetzen;
... die Gemeinschaft der Deutschstämmigen zumeist nur
noch eine untergeordnete Rolle in den allgemeinen Interaktionen und alltäglichen
Kontakten ihrer Mitglieder innehat;
... die ursprüngliche Muttersprache der Deutschstämmigen
bestenfalls auf die Domäne der Familie beschränkt bleibt.
- Ethnolinguistische Variablen
Ein Sprachwechsel wird begünstigt, da ...
... die Muttersprache der Sprachgemeinschaft durch einen
relativ geringen linguistischen Abstand zur Kontaktsprache gekennzeichnet
ist;
... der Status der Kontaktsprache (des Spanischen) höher
als der Status der deutschen Sprache in Chile ist.
Nach obiger Betrachtung ist festzustellen, daß die extremen
Bedingungen eines Sprachwechsels vom Deutschen zum Spanischen bei den Deutschstämmigen
in Chile grundsätzlich gegeben sind. Die aktuelle soziolinguistische Situation
der Chilenen deutscher Abstammung ist demnach durch einen fortschreitenden Sprachverlust
des Deutschen gekennzeichnet, da man davon ausgehen kann, daß sich die
oben genannten Bedingungen des Sprachwechsels mit der Zeit noch verstärken
und ausweiten werden.
6 Schlußbemerkung
Ziel war es, anhand einer eigenen empirischen Untersuchung
eine Einschätzung der soziolinguistischen Situation von Chilenen deutscher
Abstammung vorzunehmen. Faktoren, die einen Sprachverlust des Deutschen und
den Sprachwechsel zum Spanischen bei den Deutschstämmigen in Chile beeinflussen,
sollten herausgearbeitet und im Rahmen des Möglichen erläutert werden.
In dieser Hinsicht wurden Zusammenhänge zwischen den deutschen
Sprachkenntnissen der Deutschstämmigen und persönlichen Faktoren wie
Alter, Religionszugehörigkeit und familiären Umständen (Deutsch
als Verständigungssprache im Elternhaus, mit dem Ehepartner etc.) deutlich
erkennbar. Der Einfluß äußerer Faktoren (hohe Anzahl von Mischehen,
allgemeine soziale und wirtschaftliche Situation der Deutschstämmigen,
geschichtliche Ereignisse) konnte außerdem belegt werden.
Nicht zu vergessen sind jene ursprünglich den Sprachverlust
initiierenden Faktoren, die sich aus den situationalen Gegebenheiten der Entwicklungsgeschichte
der deutschen Einwanderung und Siedlung im Süden Chiles ergaben. Der Anschluß
an die Nord-Süd Bahn bedeutete z. B. das Ende einer weitgehenden Isolation
der deutschen Siedler und deren Siedlungsgebiete im südlichen Teil des
Landes. Hiermit begann ein Prozeß der Öffnung und allgemeinen Anpassung,
sowohl kulturell als auch sprachlich.
Es bleibt insgesamt festzuhalten, daß zahlreiche Bedingungen
für einen Sprachwechsel nach dem Modell Haarmanns (1986: 11ff.) bei den
Chilenen deutscher Abstammung erfüllt sind. Die aktuelle soziolinguistische
Situation der Chilenen deutscher Abstammung ist durch einen fortschreitenden
Sprachverlust des Deutschen gekennzeichnet.
Was können wir aus diesen Erkenntnissen für die Zukunft
der Chilenen deutscher Abstammung ableiten oder voraussagen? Den Einschätzungen
der aktuellen soziolinguistischen Situation zufolge wird sich der Prozeß
des Sprachverlusts unter den Deutschstämmigen nicht mehr aufhalten lassen.
Der Verlust der deutschen Sprache wäre somit voraussehbar. Trotz dieses
Sprachverlusts kann man jedoch weiterhin von einer recht starken Identifizierung
mit den eigenen deutschen Wurzeln und Traditionen seitens der Chilenen deutscher
Abstammung ausgehen. Kulturelle und religiöse Muster einer Gruppe können
schließlich auch ohne den Erhalt einer bestimmten Sprache weiterbestehen.
In diesem Fall würden andere Faktoren wie z. B. gleiche Traditionen oder
ein gemeinsamer geschichtlicher und kultureller Hintergrund als Merkmale ethnischer
Identität fungieren. Rosenberg und Weydt (1992: 217) bekräftigen dies
am Beispiel der Rußlanddeutschen, die auch ohne jedwede deutsche Sprachkenntnisse
ihre ethnische Identität als Deutsche oder Rußlanddeutsche bewahrten.
Die Tendenz zu einer vergleichbaren Situation unter den Chilenen deutscher Abstammung
ist bereits heute erkennbar, da ein großer Teil der Deutschstämmigen
nur noch aus reinem Traditionsbewußtsein die deutsche Sprache als Fremdsprache
erlernt.
Anmerkungen
1 Puerto Varas, Llanquihue und Frutillar sind
Gründungen deutscher Siedler und wirken auch heute mit ihrer Architektur
und Kultur wie "Klein-Deutschland" in Chile. [
zurück
]
2 "Der Zweite Weltkrieg, nun ja: er hat sich
ganz allgemein auf das Deutschsein ausgewirkt. Weil die Deutschen überall
als die Schlechten und Bösen angesehen wurden. Dieses Bild hat sich vielleicht
dann auch auf die deutsche Sprach übertragen, ja." [
zurück
]
3 "(...) mit Hitler und all dem haben viele
von uns die deutsche Sprache vermieden oder wollten sie nicht mehr in der Öffentlichkeit
sprechen. (...) Und außerdem auch wegen der Propaganda. Alle haben ja
Hitler und die Deutschen als die Schlechten angesehen, weshalb viele von uns,
um nicht dazuzugehören oder als schlecht zu gelten, auch ihre Wurzeln verleugnet
haben."
[zurück
]
Literaturverzeichnis
Bieregel, Y./Müschen, R. (1983): "Presencia de la Cultura y Lengua Alemana
en Chile." In:
Revista chilena de humanidades
4: 11-31.
Bieregel, Y./Müschen, R. (1981):
Palabras Cognadas Aleman-Español.
Santiago de Chile.
Blancpain, J.-P. (1985):
Los alemanes en Chile (1816-1945).
Santiago
de Chile.
Born, J./Dickgießer, S. (1989):
Deutschsprachige Minderheiten : Ein
Überblick über den Stand der Forschung für 27 Länder.
Mannheim.
Burdach, A. M./Vega, O. (1994):
Uso actual del alemán en situación
de coexistencia con el español, en tres grupos generacionales en el Sur
de Chile.
Santiago de Chile. (unveroff. Ms.).
Deutsch-Chilenischer Bund (Hg.) (1997):
Ein Land zum Leben, Arbeiten und
Investieren
. Santiago de Chile. 2. Aufl.
Fishman, J. A. (1977): "Language and Ethnicity." In: Giles, H. (Hg.): 15-57.
Giles, H. (Hg.) (1977):
Language, Ethnicity and Intergroup
Relations
. London/New York/San Fransisco.
Giles, H. /Johnson, P. (1987): "Ethnolinguistic identity theory : A social
psychological approach to language maintenance." In:
International Journal
of the Sociology of Language
68: 69-99.
Giles, H./Bourhis, R./Taylor, D. M. (Hgg.) (1977): "Towards a Theory of Language
in Ethnic Group Relations." In: Giles, H. (Hg.): 307-348.
Golte, W. (1973):
Das südchilenische Seengebiet : Besiedlung und wirtschaftliche
Erschließung seit dem 18. Jahrhundert.
Bonn.
Grandjot, C./Schmidt, E. (1960):
Die beiden Heimatsprachen der Chilenen
deutscher Abstammung. Ergebnisse einer statistischen Umfrage.
Santiago de
Chile.
Haarmann, H. (1986):
Language in Ethnicity
.
Berlin/New York/Amsterdamm. (=Contributions to the Sociology of Language, 44).
Haarmann, H. (1991):
Basic Aspects of Language in Human Relations : Toward
a General Theoretical Framework.
Berlin/New York.
Held Winkler, E. u. a. (Hgg.) (1952):
100 Jahre deutsche Siedlung in der
Provinz Llanquihue.
Santiago de Chile.
Hoerll, A. (1910):
Die Deutsche Kolonisation in Chile.
Santiago (=Festschrift
des Deutschen Wissenschaftlichen Vereins zu Santiago).
Ilg, K. (1976):
Pioniere in Argentinien, Chile, Paraguay und Venezuela.
Innsbruck usw.
Jünemann Gazmuri, A. (1994):
La inmigración alemana. ¿Una
experiencia exitosa o frustrada?
Santiago de Chile.
Noll, M. A. (1998):
Zur Situation des Deutschen als Fremdsprache in Chile
: dargestellt an einer Untersuchung erwachsener Fremdsprachenlernerinnen und
-lerner.
Frankfurt am Main usw. (= Werkstattreihe Deutsch als Fremdsprache.
60).
Reiter, E. K. (1993):
Die Deutschen in Chile.
Mainz. (unveröff.
Ms.).
Rosenberg, P./Weydt, H. (1992): "Sprache und Identität. Neues zur Sprachentwicklung
der Deutschen in der Sowjetunion." In: Meissner, B./Neubauer, H./Eisfeld, A.
(Hgg.):
Die Rußlanddeutschen - Gestern und heute.
Köln: 217-238.
Schobert, K. (1983):
Soziale und kulturelle Integration am Beispiel der
deutschen Einwanderung und Deutsch-Chilenen in Süd-Chile.
2 Bde. Tübingen.
Tajfel, H. (1974): "Social Identity and Intergroup
Behaviour." In:
Social Science Information
13: 65-93.
Linguistik online
7,3/00