Einleitung
COLLECTED BY
Organization:
Alexa Crawls
Starting in 1996,
Alexa Internet
has been donating their crawl data to the Internet Archive. Flowing in every day, these data are added to the
Wayback Machine
after an embargo period.
this data is currently not publicly accessible.
The Wayback Machine - https://web.archive.org/web/20070519022239/http://www.cx.unibe.ch:80/~ruetsche/japan/Japan4.htm
Überblick
über die Verfassungsgeschichte Japans
von Prof. Dr. Andreas Kley und Dr. Roger Mottini
Zurück
zur Einstiegsseite
Inhalt:
1. Übersicht
2.
Der japanische Spätfeudalismus der 'Edo'-Zeit (1603-1867)
3.
Krise und Zusammenbruch des Shôgunats im 19. Jahrhundert
4. Die Meiji-Restauration
5. Die
Meiji-Verfassung von 1889
6. Die
Taishô-Periode (1912-1926)
7. Die
Shôwa-Periode (1926-1989)
8.
Die neue Verfassung vom 3. November 1946
1. Übersicht
Die Probleme der verfassungsmässigen politischen
Ordnung Japans haben ihren Ursprung im ungelösten Spannungsverhältnis
der langen feudalen Vergangenheit, die im 19. Jahrhundert einer überstürzten
und nachvollzogenen Modernisierung weichen musste. Die Umwertung aller
bis dahin gültigen Werte wurde von einer kleinen politischen Elite
unter dem Eindruck eines Belagerungszustandes durch die westlichen imperialistischen
Mächte vorgenommen, ohne dass daraus eine bürgerlich-demokratische
Gesellschaftsordnung entstand. Die japanischen Versuche in den 20er Jahren,
von der technisch-wirtschaftlichen Modernisierung zu einer demokratischen
Ordnung zu gelangen (
Taish
ô
-Demokratie)
blieben im
Ansatz stecken und das Land geriet in der Folge immer mehr auf die abschüssige
Bahn eines aggressiven Nationalismus, der sich teilweise auch als Antwort
auf die politische Diskriminierung durch die westlichen Mächte verstand.
Nach dem Scheitern der Demokratiebewegung ermöglichten
es die in der ersten japanischen Verfassung (
Meiji-Verfassung)
angelegten
Strukturen den japanischen Militärs, sich politisch immer mehr in
den Vordergrund zu spielen. Ihr Weg des ultranationalistischen Militarismus
endete schliesslich in der Katastrophe des pazifischen Krieges.
Unter dem Eindruck jenes Krieges diktierten die amerikanischen
Sieger Japan eine bis heute gültige neue Verfassung
(MacArthur-Verfassung),
die von der Absicht getragen ist, ein Wiederaufleben des japanischen Militarismus
zu verhindern und dem Land eine bürgerlich-demokratische Ordnung nach
amerikanischem Vorbild zu geben.
2.
Der japanische Spätfeudalismus der 'Edo'-Zeit (1603-1867)
Der japanische Spätfeudalismus ist nur sehr beschränkt
mit dem Feudalsystem im alten Europa vergleichbar, da ihm wesentliche Merkmale
jenes Systems fehlten. In erster Linie ist dabei das Fehlen einer der Kirche
vergleichbaren Institution zu erwähnen. Die katholische Kirche im
feudalen Europa übte als monopolistische Sachwalterin eines transzendenten
moralischen Wertekanons einen beträchtlichen politischen Einfluss
aus; eine damit vergleichbare Institution sucht man im japanischen Feudalismus
hingegen vergeblich. Die Macht der bewaffneten Tempel war Ende des 16.
Jahrhunderts gewaltsam gebrochen worden. Dies änderte sich auch nicht
mit der Ankunft der Portugiesen als Händler und Missionare im Jahre
1543; der von den Jesuiten zunächst erfolgreich verbreitete christliche
Glaube wurde von der japanischen Kriegerelite sehr bald als eine ideologische
Bedrohung wahrgenommen und im 17. Jahrhundert blutig ausgerottet.
Mit seinem entscheidenden Sieg in der Schlacht von Sekigahara
im Jahre 1600 konnte sich
Tokugawa Ieyasu
1
(1542-1616)
durchsetzen und als shôgun (Militärherrscher) mit eiserner
Hand die notorischen Kämpfe zwischen den zahlreichen daimyô
(Teilfürsten) beenden. Mit ihm begann die fast dreihundert Jahre währende
Periode des Tokugawa-Shôgunats (
Edo-Zeit 1603-1867)
. Er verwies
die Portugiesen und Spanier des Landes, und unter seinen Nachfolgern wurde
das Christentum in Japan endgültig vernichtet.
Im Verlauf der Edo-Zeit bildete sich eine einzigartige
Feudalstruktur aus, die auf dem bereits bestehenden Dualismus von tennô
(japanischer
Kaiser) und shôgun aufbaute. Die mit dem göttlichen Ursprungsmythos
Japans verbundene Institution des japanischen Kaiserhauses basierte auf
der Vorstellung, dass die, im Gegensatz zu China, ununterbrochene Linie
der Kaiser(-innen) eine direkte Verbindung zur japanischen Götterwelt
verkörperten. Politisch machtlos aber unantastbar, residierte der
Kaiser in Kiôto, während der shôgun in Edo (heute: Tokio)
die Macht in dessen Namen ausübte. Im feudalen japanischen Staatsverständnis
war es die göttliche Autorität des tennô,
von der
die Legitimation zur Herrschaft über Japan auszugehen hatte.
In dem Bemühen, ausländische Störeinflüsse,
die die Macht des Shôgunats gefährden könnten, auszuschalten,
schottete sich Japan im Verlaufe des 17.Jahrhunderts fast völlig von
der Aussenwelt ab. Die Schiffahrt hatte sich auf die Küstengewässer
zu beschränken, der Bau hochseetauglicher Schiffe wurde untersagt,
und ausländische Schiffe durften die japanischen Küsten nicht
anlaufen. Das Tokugawa-Shôgunat machte dabei allerdings zwei Ausnahmen:
neben chinesischen Kaufleuten war es auch den nicht missionierenden Holländern
erlaubt, von
Deshima
aus ? einer künstlichen Insel im Hafen
von Nagasaki ? die Handelswünsche Japans zu befriedigen. Während
fast dreihundert Jahren blieb diese kleine Insel das einzige Fenster Japans
zur Aussenwelt. Gleichzeitig genoss das Land allerdings auch die längste
Friedensperiode seiner Geschichte und sah ein lebhaftes Aufblühen
von Kunst und Kunsthandwerk.
Der Preis für diesen Frieden bestand in einer rigorosen
und allumfassenden sozialen Kontrolle, der die ganze Gesellschaft Japans
während der Edo-Zeit unterworfen wurde. Ein rigides und streng hierarchisches
Vierklassensystem, das ausserdem in eine Unzahl von Unterklassen zerfiel,
wies jedem Mitglied seine exakt definierte gesellschaftliche Position an.
Zuoberst in der sozialen Hierarchie stand die Kriegerklasse (
samurai
),
darunter folgten die
Bauern
, danach die
Handwerker
und zuunterst
standen die
Kaufleute
. Die letzteren wurden im agrarischen Selbstverständnis
des japanischen Feudalismus als unproduktiv angesehen und genossen ein
entsprechend niedriges Sozialprestige. Dieses stand allerdings in auffallendem
Gegensatz zur faktischen Bedeutung der Kaufleute in der japanischen Feudalgesellschaft
als Geldgeber des Schwertadels. Innerhalb dieser vier Hauptklassen bestanden
unzählige Abstufungen und für jede dieser Positionen gab es genaue
soziale Verhaltensvorschriften im Bezug auf Beruf, Wohnung, ja selbst Kleidung
und Sprachgebrauch. Die Einhaltung dieser Sozialnormen wurde durch ein
Prinzip kollektiver Verantwortlichkeit (
goningumi)
gewährleistet,
das ein abweichendes Verhalten nur um den Preis des Ausschlusses aus der
Gemeinschaft erlaubte. Erst gegen Ende der Edo-Periode wurden die starren
Klassengrenzen durchlässiger. Trotz dieser strengen sozialen Kontrolle,
war der japanische Spätfeudalismus keine Schreckensherrschaft; gewaltsame
Aufstände hatten vorwiegend ökonomische Ursachen.
Ganz ausserhalb dieses Klassensystems standen die
eta
oder
burakumin,
eine Gruppe von sozial Geächteten (keine Sklaven),
die sich mit Arbeiten befassten, welche als unrein angesehen wurden (Schlachten,
Lederverarbeitung, Abfallentsorgung), und die sich in eigenen Ghettos weitgehend
autonom organisierten. Unter dem Regime des Shôgunats war nicht nur
die soziale Mobilität ausser Kraft gesetzt, auch die physische Bewegungsfreiheit
der Menschen wurde drastisch beschnitten. Für jeden grösseren
Ortswechsel mussten Bewilligungen eingeholt werden.
Die japanische Geistlichkeit (Buddhisten und Shintôisten)
hatte die Aufgaben einer religiösen Gesinnungspolizei gegen ein Wiederaufleben
des Christentums wahrzunehmen; die Tempel führten ausserdem die Einwohnerregister
und stellten die Ausweispapiere aus.
Gegenüber den etwa 260
Daimyaten
(Feudaldomänen,
han
)
übte das Shôgunat nur eine indirekte Kontrolle aus. Die daimyô
besassen die Steuerhoheit in ihren Domänen und waren autonom, was
die deren innere Angelegenheiten betraf. Jeder dieser daimyô verfügte
ausserdem über seine eigene Armee, deren Samurai nur ihm allein Loyalität
schuldeten. Die militärische Übermacht des shôgun stützte
sich ökonomisch auf das Steueraufkommen seiner Ländereien, das
in Reis gemessen wurde und mit dem die Samurai entlohnt wurden. Diese Basis
ermöglichte es dem shôgun, die grösste Streitmacht zu unterhalten
und einer eventuellen Koalition feindlicher daimyô jederzeit überlegen
entgegentreten zu können.
Eine Reihe von weiteren Massnahmen sicherte die Macht
des Shôgunates ab. Den daimyô von zweifelhafter Loyalität
wurden Lehen an der Peripherie des Landes zugeteilt. Daneben hatten sich
diese zweitrangigen Feudalherren (
tozama
oder "Herren der Ferne"
genannt) auf eigene Kosten jeweils abwechselnd in Edo, der Residenzstadt
des shôgun, oder in ihren Domänen aufzuhalten (
sankink
ô
tai
-System).
Für die standesgemäss reisenden und residierenden daimyô
stellte diese Verpflichtung eine kostspielige Angelegenheit dar, die sie
wirtschaftlich schwächte. Während die daimyô auf ihren
Domänen waren, mussten deren Familien unter der Aufsicht des Shôgunats
in Edo zurückbleiben.
Die zentrale Staatsorganisation des feudalen Japan wurde
von Vasallen des shôgun und loyal ergebenen daimyô getragen,
sie übte eine subsidiäre Rechtsprechung aus und war insbesondere
mit der Verwaltung eines ausgedehnten Spitzeldienstes befasst.
Dieses Feudalystem (
bakuhan-
System
)
der
vorwiegend indirekten Kontrolle gewährleistete aber letztendlich nicht
mehr als eine prekäre Machtbalance zugunsten der Tokugawa-shôgune
und war anfällig gegenüber jeder Art von gesellschaftlichen oder
äusseren Veränderungen. Shôgunale Handelsprivilegien und
hohe
Reissteuern trugen ebenfalls nicht zur Stabilität des Systems bei
und im Gefolge von Missernten kam es immer wieder zu Bauernaufständen,
die gewaltsam niedergeschlagen wurden.
3.
Krise und Zusammenbruch des Shôgunats im 19. Jahrhundert
In der Wissenschaft Japans bildete sich im 18. Jahrhundert
ein Dualismus zwischen dem ursprünglich vorherrschenden klassischen
Studium des chinesischen Konfuzianismus und dem Studium Europas und seiner
Wissenschaften heraus. Die Beschäftigung mit Europa blieb im feudalen
Japan lange Zeit nur einem kleinen Kreis von ausgewählten Gelehrten
und Intellektuellen, zumeist aus dem Umkreis des Tokugawa-Clans, vorbehalten.
Diese Intellektuellen, der holländischen Sprache mächtig, agierten
oft auch als Dolmetscher im Verkehr mit den Holländern auf Deshima.
Für diese Art der modernen Bildung existierte im feudalen Japan eine
besondere Bezeichnung:
rangaku
(Holländisches Lernen, oder
Holländische Wissenschaft). Im Rahmen dieses
rangaku
, befassten
sich die japanischen Intellektuellen insbesondere mit holländisch
abgefassten Schriften auf den Gebieten der Medizin, der Naturwissenschaften,
der Geographie, Geschichte, Kriegstechnik und Astronomie. Die wissenschaftlichen
und technologischen Errungenschaften des Abendlandes verfehlten ihre Wirkung
auf die japanischen Gelehrten nicht. Unter dem Einfluss ihrer zumeist noch
jungen intellektuellen Berater kamen dann auch immer mehr der führenden
Vertreter des japanischen Schwertadels zu dem Schluss, dass Europa mittel-
und längerfristig eine eigentliche Gefahr für Japan darstellte,
der das herrschende
bakuhan-
System nicht gewachsen sein würde.
Auf die zunehmenden Versuche westlicher Mächte im
19.Jahrhundert, mit Japan Kontakt aufzunehmen, reagierte das Shôgunat
abweisend. Erst im Jahre 1854 gelang es dem US Admiral
Matthew Calbraith
Perry
(1794-1858) mit seiner Flotte das Shôgunat derart unter
Druck zu setzen, dass es einen Vertrag mit den USA abschloss, dem innert
kurzer Zeit weitere Abkommen mit europäischen Mächten folgten.
In diesen Verträgen räumte das aussenpolitisch unerfahrene Shôgunat
dem Ausland weitreichende Handelsprivilegien und Exterritorialrechte ein.
Die Verträge stipulierten die Einrichtung exterritorialer ausländischer
Wohngebiete, die Konsulargerichtsbarkeit für Ausländer in Japan
und einen tiefen Einfuhrzoll von 5% ohne entsprechendes Gegenrecht. Seit
1864 gehörte auch die Schweiz als erstes Binnenland zu den Vertragspartnern
Japans; wobei auch sie von den einseitigen Vorteilen der ungleichen Verträge
profitierte. Im Gefolge der ungleichen Verträge litt das Land unter
einer hohen Inflation, hervorgerufen durch die grosse Auslandsnachfrage
nach japanischen Produkten, die mit den traditionellen Produktionsmethoden
nicht befriedigt werden konnte. Der ungebremste Zustrom billiger ausländischer
Industriewaren bedrohte zudem das japanische Handwerk in seiner Existenz.
Als Folge davon wurde die Stimmung in Japan durch Ausländerfeindlichkeit
und eine zunehmende Opposition gegen das Shôgunat geprägt.
Die Opposition gegen das Shôgunat konzentrierte
sich in den peripheren südlichen Daimyaten von Satsuma, Chôshû,
Hizen und Tosa. Dort hatten junge, zumeist niederrangige Samurai anhand
ihrer 'Holländischen Studien' die Armeen ihrer daimyô nach europäischem
Vorbild organisiert, bewaffnet und gedrillt. Mit diesen modernen Streitkräften
konnten sie einer allfälligen Konfrontation mit den zahlenmässig
überlegenen Shôgunatstruppen nunmehr gelassen entgegensehen.
Auch am kaiserlichen Hof in Kiôto gelang es den
shôgunatsfeindlichen Kräften, sich einen dominierenden Einfluss
zu sichern. Aus dieser Position heraus traten sie in den 60er Jahren des
19. Jahrhunderts mit dem Schlachtruf
sonnô-jôi
("vertreibt
die Barbaren ? ehrt den Kaiser") gegen den shôgun und dessen Verbündete
an. Den modernisierten Heeren ihrer Gegner hatten die altmodischen Ritterheere
des shôgun nichts als ihren Mut entgegenzusetzen. Nach einer Serie
von kurzen aber blutigen Kämpfen geriet das Shôgunat ab 1866
endgültig in die Defensive und Ende 1867 bot der letzte shôgun,
Tokugawa
Yoshinobu,
dem Kaiser seinen Rücktritt an, den dieser umgehend
annahm.
4. Die Meiji-Restauration
Die neuen Herrscher Japans, die nun im Namen des Kaisers
die Ära
Meiji
("erleuchtete Herrschaft", 1868-1912) einläuteten,
standen vor der Herausforderung, das Land so rasch wie möglich aus
seiner feudalen Vergangenheit zu reissen und in einen modernen Nationalstaat
zu verwandeln, ohne dass es in Chaos oder koloniale Abhängigkeit versank.
Kido Takayoshi verfasste ein Programm, um dieses Ziel zu erreichen und
legte es dem tennô vor. Dieser erliess am 14. März 1868 den
sog. "Fünf-Artikel-Schwur":
"1. Es sollen öffentliche Versammlungen einberufen
und die öffentliche Meinung bei der Entscheidung aller Staatsangelegenheiten
soll zu Rate gezogen werden.
2. Regierung und Untertanen sollen ihren Willen vereinen
und eine Politik zum Erblühen des Staates durchführen.
3. Alle Untertanen, Zivilbeamte und Militärs bis
hin zum einfachen Volk sollen ihr Bestes tun und nicht müde werden,
die gestellten Ziele zu errerichen.
4. Überkommene schlechte Bräuche sollen beseitigt
werden und alles soll auf den gerechten Wegen des Himmels und der Erde
basieren.
5. Kenntnisse sollen in aller Welt gesammelt und so die
Grundlagen des Kaiserreiches gefestigt werden."
Nach dem letzten Punkt des Schwurs, mussten sich die neuen
Machthaber über die Zustände und Institutionen im Westen informieren,
wo die neuen Vorbilder zu suchen waren. Zu diesem Zwecke begab sich eine
hochkarätige Delegation von Regierungsvertretern unter der Leitung
des Fürsten
Iwakura Tomomi (1825-1883)
im Jahre 1871 auf eine
beinah' zweijährige diplomatische Studienreise durch alle Vertragsländer,
um die Verhältnisse vor Ort zu studieren. Die westliche Zivilisation
präsentierte sich ihnen dabei nicht als einheitliches Modell, sondern
wies eine verwirrende Vielzahl von Formen auf. Die unterschiedlichen und
widersprüchlichen Institutionen, Glaubensüberzeugungen und Ideologien,
mit denen die Japaner in ihrem Studium des Westens konfrontiert wurden,
liess sie jedoch erkennen, dass es auch möglich sein musste, selektiv
das zu übernehmen und an die japanischen Verhältnisse anzupassen,
was ihnen geeignet erschien. Ausserdem erkannten die Teilnehmer der Iwakura-Mission
schnell, dass die Modernisierung im Westen erst vor einer Generation eingesetzt
hatte, woraus sie folgerten, dass ein solches Unterfangen auch in Japan
zu schaffen sein müsste.
Neben den drängendsten Problemen eines neuen Staatsaufbaus,
einer einheitlichen modernen Militärorganisation und eines neuen Finanz-
und Steuersystems stand von allem Anfang an die Frage nach dem für
Japan geeigneten Modell einer politischen Ordnung im strategischen Blickfeld
der Meiji-Regierung. Dabei ging es ihr vor allem auch darum, von den ausländischen
Mächten als gleichwertig anerkannt zu werden und die ungleichen Verträge
im Sinne Japans revidieren zu können.
Nur eine moderne Verfassung
konnte
Japan den Weg aus seiner diskriminierenden Isolation bahnen, in die es
von Europa durch seine kulturelle und religiöse Andersartigkeit gebannt
sei, wie der Staatsrat (Minister)
Itô Hirobumi
(1841-1909)
bitter anmerkte.
In der Verfassungsdiskussion Meiji-Japans standen die
Anhänger eines liberalen, parlamentarischen Modells nach britischem
Vorbild den Befürwortern einer autoritären Ordnung nach der Art
Preussens gegenüber. Die Debatte wurde aber nicht nur innerhalb der
Regierungsoligarchie geführt. In der Diskussion um Japans politische
Zukunft spielte sehr früh auch eine weitere Errungenschaft aus dem
Westen eine gewichtige Rolle: Die Presse. Der Einführung der ersten
japanischen Tageszeitung im Jahre 1870 ("
Yokohama mainichi shinbun",
Tageszeitung von Yokohama) folgte eine wahre Flut von Druckerzeugnissen.
Durch die populären Auslandsdarstellungen, die vom japanischen Publikum
begierig aufgenommen wurden, kamen breitere Kreise der Bevölkerung
in Berührung auch mit den Ideen eines Verfassungsstaates. Die Anhänger
einer liberalen parlamentarischen Ordnung, die Mitte der 70er Jahre aus
der Regierung gedrängt worden waren, nutzten in der Folge die Verfassungsdiskussion
für ihren politischen Machtkampf und gingen auf Konfrontation mit
der Regierung. Die in vielen Zeitungen verbreiteten politischen Ideen und
Ansichten kollidierten mit den autoritären Auffassungen der Meiji-Führung
und diese bemühte sich umgehend, dem Phänomen Herr zu werden.
Bereits 1873 erliess die Regierung Vorschriften, wonach alle Zeitungen
eine Druckerlaubnis einzuholen hatten; des weiteren wurden der Presse jegliche
Kritik und "Obstruktion" untersagt. Zwei Jahre später dann folgte
ein repressives Pressegesetz, das zwar Wirkung zeigte, die Debatte aber
nicht zum Erliegen bringen konnte.
Im Jahre 1874 erreichte die politische Auseinandersetzung
in Japan einen ersten Höhepunkt, als der ehemalige Staatsrat
Itagaki
Taisuke
(1837-1919) zusammen mit Gleichgesinnten ein "Memorandum für
die Errichtung eines vom Volk gewählten Parlaments" veröffentlichen
konnte. Die Zeitung in der das Manifest erschien, gehörte einem Engländer
und gegen ausländische Unternehmungen durfte die Regierung aufgrund
der bestehenden Auslandverträge nichts unternehmen. Itagaki und seine
Getreuen waren im Vorjahr unter Protest aus der Regierung ausgetreten,
weil sie mit ihrer Forderung, von den inneren Problemen Japans durch eine
aggressive Politik gegenüber Korea abzulenken, nicht durchgedrungen
waren und nun die Gelegenheit erkannten, ihren Widersachern in der Regierung
erneut entgegenzutreten.
Die von
Ôkubo
Toshimichi (1830-1878)
und
Iwakura
dominierte Regierung wies das Itagaki-Memorandum umgehend
zurück, aber der Funke hatte bereits gezündet. Aus allen Schichten
der Bevölkerung ertönte mit einem Mal der Ruf nach Beteiligung
am politischen Geschehen, landesweit bildeten sich zahllose Debattier-
und Agitationsgruppen. Dieses Phänomen blieb erstaunlicherweise nicht
nur auf die Städte beschränkt, sondern erfasste das ganze Land
und fand auch in mittleren und unteren Bevölkerungskreisen zahlreiche
Anhänger. In diesen Gruppen wurden die liberalen Ideen der westlichen
politischen Philosophie, v.a. von Locke, Mill, Rousseau und Bentham eifrig
diskutiert und verbreitet. Diese äusserst heterogene, mehr oder weniger
spontane Massenbewegung aus dem Volk heraus ging unter dem Sammelbegriff
Bürgerrechtsbewegung
bzw.
Demokratiebewegung
(
jiyû minken undô
) in
die japanische Geschichte ein. Aus dieser Bewegung heraus entstanden in
der Folge auch die ersten politischen Parteien Japans. Als erste Partei,
wurde 1881 von Itagaki und seinen Anhängern die
liberale Partei
(jiyûtô) gegründet; ihr folgte 1882 die
Fortschrittspartei
(rikkenkaishintô) des liberalen ehemaligen Regierungsmitglieds Ôkuma
Shigenobu (1838-1922). Aus der wirtschaftlichen Not der seit 1881 verfolgten
Deflationspolitik heraus entstanden zwischen 1883/84 auch zahlreiche Splitterparteien
von nur regionaler Bedeutung. Diese öffentliche Auseinandersetzung
um Japans politische Zukunft dauerte fast fünfzehn Jahre lang, von
1874 bis 1889. Die Demokratiebewegung machte den Begriff
Freiheit
(jiyû) in weiten Kreisen der Bevölkerung so populär, dass
er selbst zu Werbezwecken eingesetzt wurde und auf Geschäftsschildern
erschien (etwa das "Freiheitsbad" [Badeanstalt], die "Freiheitstablette"
[Apotheke] oder die Gaststätte "zur Freiheit").
In der intellektuellen Diskussion zur Verfassungsfrage
standen sich der liberale unabhängige Denker und Publizist
Fukuzawa
Yukichi
(1835-1901) und der ehemalige Shôgunatsbeamte
Katô
Hiroyuki
(1836-1916) gegenüber. Er war der erste japanische Experte
für die deutsche Sprache und seinerzeit als Shôgunatsbeamter
im "Amt zur Untersuchung des barbarischen Schrifttums" (
banshô
shirabeshô
) tätig. Fukuzawa war die herausragende Figur
bei der Vermittlung von Wissen über die westliche Welt, das er sich
insbesondere als Mitglied der ersten japanischen Auslandsdelegation des
Tokugawa-Shôgunats 1860 in den USA angeeignet hatte. Er übte
mit seinen populären Schriften einen grossen Einfluss auf Japans Verständnis
des Westens aus. Bereits im Jahre 1867 hatte er ein Buch über die
elf Länder, mit denen Japan Vertragsbeziehungen eingegangen war, publiziert.
In seiner 1871 erschienenen Schrift, "Empfehlung, Wissenschaft zu betreiben"
(
gakumon no susume
) kam die japanische Bevölkerung zum ersten
Mal auch mit der Idee der gleichen Rechte der Menschen in Berührung.
Das in mehr als 200'000 Exemplaren erschienene Buch begann mit den berühmten
Worten: "Der Himmel schafft keine Menschen, die über den Menschen
stehen, auch keine Menschen, die unter den Menschen stehen."
Katô entwickelte sich mit seinen Positionen zum
einflussreichsten intellektuellen Gegenspieler des liberalen Fukuzawa.
Bereits 1861 hatte Katô in seinem Buch
Tonarigusa
("Vermischtes
aus dem Nachbarland") die politischen Systeme der USA und verschiedener
Länder Europas beschrieben. Er unterschied dabei zwischen monarchischen
und republikanischen Typen der politischen Herrschaft. Die monarchischen
Systeme unterteilte er in solche der absoluten und der konstitutionellen
Monarchie. Bei den Republiken differenzierte er zwischen der oligarchischen
Adelsrepublik und der auf bürgerlicher Gleichheit basierenden "reinen
Republik". Während Katô die monarchischen Systeme (zunächst
noch) als inferior ansah, stellte er die reine Republik als die höchste
Staatsform dar. Die USA und die Schweiz nannte er als Beispiele für
Länder, welche diese von ihm als erstrebenswert angesehene Regierungsform
erreicht hätten. In seiner 1868 erschienenen Schrift "Umrisse konstitutioneller
politischer Systeme" (
rikken seitairyaku
) erläuterte er seinen
Landsleuten auch das föderalistische Wesen dieser Republiken. Beim
Föderalismus handle es sich um ein System, bei welchem auch die Teilstaaten
ihre eigene Regierung hätten, während für die Politik des
ganzen Landes eine "grosse Regierung" zuständig sei. Im Jahre 1872
übersetzte Katô auch das Werk "Allgemeines Staatsrecht" des
in Deutschland lehrenden Schweizers
Johann Kaspar Bluntschli
ins
Japanische. Nach seiner anfänglichen Begeisterung für das republikanische
System, wandte sich Katô jedoch wieder davon ab. In seiner zweiten
Lebenshälfte vertrat er das nationalistische Tennô-System, weil
er es als geeigneter für Japan ansah. Er kam zum Schluss, dass das
"ungebildete" japanische Volk noch nicht reif genug sei für ein parlamentarisches
System nach englischem Muster. Deshalb machte er sich für eine Begrenzung
demokratischer Volksrechte stark, zumindest in einer ersten Phase, zugunsten
einer in ihrem Handlungsspielraum nicht eingeschränkten, starken Regierung.
In der nach 1874 einsetzenden Verfassungsdiskussion übte er mit seinen
Schriften zur Rechtfertigung eines Tennô-Systems grossen Einfluss
auf die Meiji-Regierung aus. Von Ô
i Kentarô (
1843-1922),
einem prominenten Führer der Demokratiebewegung, wurde Katô
wegen seiner ablehnenden Haltung gegenüber dem Parlamentarismus heftig
angegriffen.
Innerhalb der Meiji-Regierung entzündete sich die
Verfassungsdiskussion bereits im Jahre 1870, als eines ihrer Mitglieder,
Etô
Shimpei
(1834-1874), sein "Memorandum zur Erneuerung des nationalen
Systems" vorlegte, in dem er die Errichtung einer legislativen Zweikammerinstitution
vorschlug. Innerhalb der Meiji-Oligarchie prallten die Meinungen der am
englischen Parlamentarismus orientierten liberalen Fraktion um
Ôkuma
Shigenobu (1838-1922),
und den Anhängern eines graduellen Vorgehens
um
Itô Hirobumi (1841-1909)
und Iwakura aufeinander. Bei den
letzteren stand die Sorge um einen Kontrollverlust über den Modernisierungsprozess
im Vordergrund. Sie befürworteten im Interesse des "nation building"
ausserdem eine starke Stellung des Kaisers als Kristallisationspunkt einer
gesamtjapanischen nationalen Identität.
Im Jahre 1878 fiel der inzwischen einem Kompromiss zuneigende
Ôkubo
Toshimichi (1830-1878),
gleichzeitig der einflussreichste der Meiji-Führer,
einem Attentat zum Opfer. Danach spitzte sich 1881 die Diskussion innerhalb
der Regierungsoligarchie unter dem Eindruck der Bürgerrechtsbewegung
und weitverbreiteter Unruhe in der Bevölkerung krisenhaft zu. Als
Konsequenz der hohen Steuerlast und der 1881 einsetzenden Deflationspolitik
verarmten nämlich viele Kleinbauern, Handwerker und Kleinunternehmer.
Schliesslich wurde Ôkuma aus der Regierung ausgeschlossen. Um die
Lage im Lande zu beruhigen, liess die Meiji-Führung in einem kaiserlichen
Edikt verkünden, bis 1890 eine Verfassung für Japan auszuarbeiten.
Angelehnt an das preussische Modell, legte Iwakura die Grundsätze
fest, an denen die zukünftige Verfassung ausgerichtet sein sollte.
Danach hatte er die folgenden Richtlinien zu beachten: 1. Die Verfassung
wird vom tennô bestimmt. 2. Der tennô erhält Oberkommando
über die Streitkräfte. 3. Eine Parteienregierung wird abgelehnt.
4. Die Minister sind allein dem tennô verantwortlich, nicht dem Parlament.
Diese Punkte entstammten den herrschenden "absolutistischen" Anschauungen
und fanden sich dann tatsächlich in der Verfassung wieder.
Aufgrund dieser Vorgaben machte sich eine Verfassungskommission
unter der Leitung von Itô Hirobumi an die Arbeit. Itô selbst
reiste 1882 nach Europa, wo er 14 Monate lang Verfassungsrecht studierte.
In Berlin besuchte er die Vorlesungen der bekannten Verfassungsrechtler
Rudolph
von Gneist (1816-1895)
und
Albert Mosse (1846-1925)
und in Wien
beriet er sich mit
Lorenz von Stein (1815-1890).
Aufgrund dieser
Studien wurde Itô in seiner Haltung bestärkt, dass sich für
Japan das preussische Modell am besten für eine Adaption eignete.
Die Ergebnisse dieser Studien machten sich in Japan schon bald bemerkbar.
Im Jahre 1884 wurde nach preussischem Vorbild eine neue Adelsordnung in
fünf Klassen eingeführt, die auch als Basis für ein zukünftiges
Oberhaus gedacht war.
1885 führte die Regierung ein Kabinettsystem ein,
in dem die Minister nach wie vor dem Kaiser verantwortlich waren. Im Jahre
1888 schuf die Meiji-Oligarchie einen "Geheimen Staatsrat" (
genrôin),
ein
kaiserliches Beratergremium, dessen Mitglieder vom tennô auf Lebenszeit
ernannt wurden; damit sicherten sich die Meiji-Führer einen informellen
politischen Einfluss über ihre aktive Zeit hinaus.
Die Ausarbeitung der Meiji-Verfassung geschah unter grösster
Geheimhaltung. Itôs Kommission arbeitete ab 1885 unter Mithilfe des
an der Kaiserlichen Universität Tokio lehrenden deutschen Rechtsgelehrten
Hermann
Roesler
(1834-1894) an dem Verfassungsentwurf. Der zweite deutsche
Mitarbeiter war der Gneist-Schüler
Albert Mosse
(1846-1925),
der Itô 1886 nach Tokio folgte. Neben Itô umfasste die Kommission
noch drei hochrangige Beamte:
Inoue Kowashi
(1844-1895),
Itô
Miyoji
(1857-1934), und
Kaneko Kentarô
(1853-1942).
5.
Die Meiji-Verfassung von 1889
Am 11. Februar 1889 wurde die erste Verfassung Japans,
im Sinne eines Geschenks des Kaisers an seine Untertanen feierlich proklamiert.
Sie war eine bemerkenswerte Synthese zwischen traditioneller japanischer
und westlicher, sprich deutscher, Staatsauffassung.
In Anknüpfung an den religiösen Ursprungsmythos
Japans stellte die Meiji-Verfassung den tennô nicht nur als absolute
Autorität ins Zentrum des Staates (Art. 3 und 4), er war dessen göttliche
Verkörperung (
kokutai)
. Die von ihm berufenen Minister übten
sowohl die Regierungs- als auch die gesetzgebende Gewalt (unter Zustimmung
des Parlamentes) in seinem Namen aus und blieben nur ihm verantwortlich
(Art. 55).
Dem tennô standen ausserdem umfangreiche Vollmachten
zu, die stellvertretend von der Regierung ausgeübt wurden. Der ganze
Militärbereich und der Staatshaushalt blieben parlamentarischer Kontrolle
entzogen. Auf Anraten Bismarcks hatte Itô eine Bestimmung in die
Verfassung eingebaut, die vorsah, dass im Falle einer Ablehnung des Budgets
durch das Parlament (
teikoku gikai)
der Vorjahreshaushalt seine
Gültigkeit behielt (Art. 71). Damit war eine wirksame Finanzkontrolle
durch das Parlament ausgeschlossen.
Als Oberbefehlshaber der Streitkräfte unterstanden
dem tennô die Minister des Heeres und der Marine direkt (Art. 11).
Weitere wichtige Rechte des tennô betrafen die Einberufung und Auflösung
des Parlaments (Art. 7, 45), die Möglichkeit Edikte mit Gesetzeskraft
zu erlassen (
chokurei)
(Art. 8), die Ernennung der Militärspitzen
(Art. 10), das Aussprechen von Kriegserklärungen sowie die Genehmigung
von Auslandsverträgen (Art. 13), um nur die wichtigsten zu nennen.
Das Wahlrecht zum Zweikammerparlament war stark eingeschränkt.
In das Adelshaus konnte nur Einsitz nehmen, wer vom tennô dazu berufen
wurde und dem Adel angehörte. Die Wahlen zum Unterhaus standen nach
dem angewendeten Zensussystem (Minimalsteuerleistung von 14 Yen) nur einem
winzigen Teil der Bevölkerung (ca. 1,1 % der insgesamt 39 Millionen
Einwohner) offen. Das Unterhaus bildete eine Art Diskussionsforum, bei
dem sich die Abgeordneten gegenüber dem Kaiser Gehör verschaffen
konnten, indem sie vorsichtig Kritik übten. 1900 erfolgte eine Reform
des Wahlrechts, indem die Einkommenssteuergrenze von 14 auf 10 yen herabgesetzt
wurde. Dadurch verdoppelte sich die Zahl der Wahlberechtigten von 500'000
(1898) auf nahezu eine Million. Das änderte freilich nichts am undemokratischen
Charakter dieses Wahlsystems, das nur die oberen Schichten zur politischen
Mitbestimmung zuliess.
Die Meiji-Verfassung verankerte und stärkte in Japan
die neue bürokratische und streng zentralistische Ordnung, die anstelle
des alten Systems eingeführt worden war. Die alte Gemeindeautonomie
unter dem Feudalsystem hatte Lokalverwaltungen Platz gemacht, die vom Innenministerium
kontrolliert wurden, das auch die Gouverneure in die Präfekturen entsandte
(die Daimyate waren bereits 1871 aufgelöst worden).
Trotz dieser Unzulänglichkeiten fand die Meiji-Verfassung
die Billigung der japanischen Presse und auch das westliche Ausland äusserte
sich überwiegend positiv über das Werk. Damit hatte die Meiji-Führung
einen entscheidenden Schritt auf dem Weg zur gleichberechtigten Anerkennung
durch den Westen gemacht. Ab 1894 kam es zu den ersten Revisionen der ungleichen
Verträge und die Exterritorialrechte für Ausländer wurden
abgeschafft. Bis 1911 hatte Japan dann auch seine Zollhoheit wiedererlangt.
Ideologisch sicherte die Meiji-Führung das Tennô-System
ab, indem sie den traditionellen Shintô-Glauben (der auf Naturgöttern
und Ahnenkult beruhte) auf Kosten des Buddhismus förderte und ihn
zu einer Ideologie der Kaiserverehrung erweiterte. Mit dem kaiserlichen
Erziehungsedikt vom 30. Oktober 1890 nahm dieser Staatsshintô an
Japans Schulen den Platz der buddhistischen Morallehre ein.
Mit der Realisierung einer Verfassung und Volksvertretung
war nun auch die Hauptforderung der Demokratiebewegung erfüllt, ohne
das Machtmonopol der Oligarchen in Frage zu stellen. Die politische Diskussion
verlagerte sich in Japan nun schwergewichtig auf aussenpolitische Themen.
In der aussenpolitischen Strategie Meiji-Japans kam dem
wehrlosen, unter der Souveränität eines schwachen China stehenden
Korea die Schlüsselfunktion zu. Im siegreichen Krieg von 1894/95 gegen
das China der Ch'ing-Dynastie entwand Japan Korea dem chinesischen Einflussbereich
und brachte sich ausserdem in den Besitz Taiwans.
Ein Waffengang mit dem in die Mandschurei ausgreifenden,
mächtigen Russland endete 1905 mit einem weiteren japanischen Sieg.
Dieser Sieg erschütterte das eurozentrische Weltbild der europäischen
Kolonialstaaten nachhaltig. Im Friedensvertrag von Portsmouth/USA sicherte
sich Japan die Oberhoheit über Korea, die südliche Mandschurei
und den Südteil der Insel Sachalin. Mit den militärischen Abenteuern
auf dem chinesischen Festland wuchs auch der politische Einfluss der japanischen
Militärs, die bereits laut über die Errichtung eines Kolonialreiches
auf Kosten Chinas nachdachten. Sie nutzten in der Folge ihr in der Verfassung
verbrieftes Recht auf direkten Zugang zum tennô weidlich aus, um
ihren Vorstellungen Nachdruck zu verleihen.
Itô erkannte die Gefahr, die von der Politik der
Militärs ausging, und warnte davor. Seine Warnungen kamen allerdings
zu spät, er wurde 1909 von einem koreanischen Attentäter auf
dem südmandschurischen Bahnhof von Harbin ermordet. Die Ermordung
Itôs, der auch als Generalgouverneur Koreas amtete, wurde von Japan
zum Vorwand genommen, um Korea im folgenden Jahr formell zu annektieren
und unter eine brutale Militärverwaltung zu stellen, die bis 1945
dauerte. Nach dem Tode von Itô übte Feldmarschall
Yamagata
Aritomo
(1838-1922), der Schöpfer der modernen japanischen Armee,
den grössten Einfluss auf die Politik Japans aus.
Am 31. Juli 1912 starb der Meiji-Tennô und mit seinem
Tode fand die Ära Meiji ihr Ende.
6.
Die Taishô-Periode (1912-1926)
Die kurze Ära unter dem kränklichen Taishô-Tennô
war geprägt vom politischen Machtkampf zwischen den Führern der
erstarkenden Parteien und den anderen Machtcliquen, d.h. der Beamtenschaft
und Aristokratie
(mombatsu)
, den grossen Firmenkonglomeraten (
zaibatsu)
und den Militärs (
gunbatsu)
. Unter den zaibatsu sind insbesondere
Mitsui und Mitsubishi zu erwähnen; diese traten als Hauptgeldgeber
der beiden führenden Parteien auf.
Aus dem ersten Weltkrieg ging Japan wirtschaftlich, als
Kriegslieferant für die Entente und Haupthandelspartner Chinas, und
auch strategisch gestärkt, auf Kosten der ostasiatischen Besitzungen
Deutschlands, hervor. Diese Erfahrung förderte bei den japanischen
Militärs den Appetit auf weitere imperiale Expansion. Der im Gefolge
der bolschewistischen Machtergreifung ausgebrochene Bürgerkrieg in
Russland bot den japanischen Militärs eine willkommene Gelegenheit,
als Teil einer multinationalen Unterstützungstruppe für die in
Sibirien operierenden antikommunistischen Kräfte, Territorialgewinne
zu realisieren. Die kostspielige Expedition scheiterte jedoch am erbitterten
Widerstand der Russen, die japanischen Truppen mussten ihre Positionen
im russischen Fernen Osten 1922 räumen und gaben 1925 schliesslich
auch die Besetzung Nordsachalins auf.
Innenpolitisch gewannen die Parteien nach dem Ende der
Oligarchenherrschaft der Meiji zunächst an Bedeutung. Im engen Korsett
der Meiji-Verfassung dienten sie ihren Führern allerdings lediglich
dazu, in der Regierung an Einfluss gegenüber der Bürokratie und
den Militärs zu gewinnen. Abhängig von starken Persönlichkeiten
und von den Konzernen, blieben sie anfällig für Spaltungen und
Korruption. Nur die linken Parteien konnten ein ideologisches Profil entwickeln,
blieben in ihrem Einfluss aber grösstenteils auf intellektuelle Kreise
und städtische Arbeiter beschränkt und hatten eine Tendenz zur
Radikalisierung. Derart instrumentalisiert, stellten die japanischen Parteien
keine Plattformen im demokratischen Wettbewerb der politischen Ideen dar,
sondern widerspiegelten lediglich die bestehende faktionelle Cliquenherrschaft.
Ihren grössten Erfolg konnten die Parteien 1912 verbuchen, als es
ihnen im Verbund mit den Spitzen der Bürokratie gelang, die Forderungen
der Militärs nach höheren Verteidigungsausgaben vorübergehend
abzuwehren.
1918 stand mit dem bürgerlichen Politiker
Hara
Takashi
(1856-1921)
erstmals der Führer der Mehrheitspartei
an der Spitze des 1885 eingeführten japanischen Kabinetts. Im März
1925 wurde das allgemeine Männerwahlrecht ab dem 25. Altersjahr eingeführt,
damit stieg die Zahl der Wahlberechtigten auf 14 Millionen an. Vom Wahlrecht
weiterhin ausgeschlossen blieben die Frauen, die Sozialhilfeempfänger
sowie die Einwohner von Korea und Taiwan, die damals ebenfalls zum japanischen
Kaiserreich gehörten. Diese Reform des Wahlrechts verwirklichte ein
wesentliches Ziel der demokratischen Bewegung des vorigen Jahrhunderts;
zudem stärkte es die Autorität der regierenden Parteienkabinette.
Diese lösten sich in rascher Folge ab, acht von fünfzehn Premierministern
zwischen 1912 und 1932 waren Parteipolitiker, die übrigen kamen aus
dem Beamten- oder Militärapparat. Drei der Parteipremiers wurden während
ihrer Amtszeit ermordet.
Die Militärs bestanden mit Hinweis auf den kaiserlichen
Oberbefehl darauf, dass der Heeres- und der Marineminister ein aktiver
Militär sein musste; sie konnten den Premierminister nun unter Druck
setzen, indem sie sich weigerten, die beiden Ministerposten zu besetzten.
7.
Die Shôwa-Periode (1926-1989)
Die Anfänge der neuen Ära waren gekennzeichnet
durch den Niedergang der Parteienkabinette. Gegen die zunehmende Radikalisierung
der Militärs konnten sich die zivilen Premiers auf Dauer nicht durchsetzen.
Insbesondere die Offiziere der japanischen Kolonialtruppen in der südlichen
Mandschurei bestimmten durch ihre eigenmächtigen Aktionen immer mehr
das Gesetz des Handelns. Ultranationalistische Geheimbünde inspirierten
Anschläge auf gemässigte bürgerliche Politiker und Militärs,
gegen die Linke ging die Polizei aufgrund der repressiven Gesetze zur Aufrechterhaltung
der öffentlichen Ordnung vor.
Im Mai 1932 drangen fanatische Offiziere in den Amtssitz
des Premierministers ein und erschossen
Inukai Tsuyoshi
(1855-1932).
Er war der letzte Parteipremier, die nachfolgenden Kabinette wurden von
Militärs dominiert, denen nur noch die linken Parteien Widerstand
entgegensetzten, was schliesslich zu deren Zerschlagung führte.
Im Jahre 1935 verboten die Militärs die von dem Verfassungsrechtler
an der Kaiserlichen Universität Tokio,
Minobe Tatsukichi
(1873-1948),
aufgestellte sogenannte "Organtheorie". In der bereits 1911 publizierten
Theorie vertrat Minobe die Ansicht, dass der tennô nicht als die
Verkörperung des Staates angesehen werden könne, sondern lediglich
als oberstes Organ desselben; nach dieser Theorie lag die Souveränität
beim Volke. Der Majestätsbeleidigung beschuldigt, musste Minobe seinen
Sitz im Unterhaus räumen und wurde mit einem Publikationsverbot belegt.
Gezielte Provokationen der japanischen Militärs in
der Südmandschurei führten ab 1931 zu immer weiter eskalierenden
bewaffneten Auseinandersetzungen mit China und brachten Japan durch den
Angriff auf Shanghai und das Bündnis mit Nazideutschland auf Kollisionskurs
mit amerikanischen und britischen Interessen.
Der japanische Angriff am 7. Dezember 1941 auf den amerikanischen
Flottenstützpunkt
Pearl Harbor
auf Hawaii führte schliesslich
zum Krieg mit den USA. Nach den beiden Atombombenabwürfen auf Hiroshima
(6. August) und Nagasaki (8. August 1945), trat der tennô aus seinem
Schatten heraus, und am 15. August vernahm die japanische Bevölkerung
zum ersten Mal seine Stimme über den Rundfunk, wo er erklärte,
"das Unerträgliche zu ertragen."
Am 2. September 1945 unterzeichneten japanische Regierungsvertreter
an Bord des amerikanischen Kriegsschiffes
Missouri
in der Bucht
von Tokio die Kapitulationsurkunde. Als die Amerikaner in Japan einmarschierten,
waren sie vom Ausmass der Zerstörungen überrascht. 2,7 Millionen
japanische Soldaten und Zivilisten, etwa vier Prozent der Bevölkerung
bei Kriegsbeginn, fielen dem Krieg zum Opfer. Bei Kriegsende waren sechseinhalb
Millionen Japaner in den verstreuten Winkeln des ehemaligen Imperiums gestrandet.
Neben Millionen von Verwundeten gab es neun Millionen Obdachlose. Ein Viertel
der physischen Vermögenswerte des Landes - Transportwege und -mittel,
Infrastruktur, Immobilien - war zerstört worden. 64 grössere
Städte, darunter Hiroshima und Nagasaki, lagen weitgehend in Trümmern.
65 Prozent von Tokio waren ausgebombt.
8.
Die neue Verfassung vom 3. November 1946
Als "Supreme Commander for the Allied Powers" (SCAP) leitete
der US-General
Douglas MacArthur
(1880-1964) die Besetzung Japans.
Seine starke Persönlichkeit bestimmte die Besatzungspolitik entscheidend,
die alliierten Gremien ("Far Eastern Commission", "Allied Council for Japan")
blieben im Hintergrund. Er erliess am 11. Oktober 1945 einen Befehl über
die Liberalisierung der Verfassung und über die "fünf grossen
Reformen". Diese betrafen folgende Forderungen:
1. Die Frauen müssen das Stimm- und Wahlrecht erhalten,
müssen zur Politik zugelassen und im gesellschaftlichen Leben gleichberechtigt
werden.
2. Die Arbeitnehmer müssen das Koalitions- und Streikrecht
erhalten.
3. Die Unterdrückungsapparate müssen vollumfänglich
beseitigt werden.
4. Das Bildungswesen muss liberalisiert werden.
5. Die Demokratisierung der Wirtschaft: Zerschlagung der
Grosskonzerne (zaibatsu) und ökonomischer Aufbau auf der Grundlage
von Klein- und Mittelbetrieben.
Mit einer von General MacArthur verordneten Bodenreform (Verteilung
des Grossgrundbesitzes an die Bauern) kam auch die Nahrungsmittelproduktion
wieder in Gang. Die repressiven Polizeigesetze wurden von MacArthur aufgehoben
und alle politischen Gefangenen kamen bis Oktober 1945 frei. Der General
entschied sich, die Institution des tennô im Interesse einer besseren
Durchsetzbarkeit seiner Politik beizubehalten. Am 1. Januar 1946 liess
er öffentlich verkünden, dass der tennô kein Gott sei.
Im darauffolgenden Jahr begann die Säuberung der japanischen Verwaltung
von Militärs und Spitzenbeamten. Am 23.12.1948 wurde Tojo Hideki im
Gefängnis des Tokioter Stadtteils Sugamo gehenkt. General Tojo war
während des Pazifikkrieges Japans Premierminister. Nach der Niederlage
wurde er zum Hauptangeklagten des von den Alliierten durchgeführten
Tokioter Kriegsverbrechertribunals. Es heisst, die Amerikaner hätten
Tojo geopfert bzw. Tojo habe sich selbst aufgeopfert, um den Showa-Tennô
- den Vater des jetzigen Kaisers - und damit die Institution des Tennôtums
zu schonen. Tojo übernahm die Verantwortung für den Krieg, nicht
der tennô. General MacArthur war überzeugt, dass seine Aufgabe
wesentlich erschwert werden würde, wenn das Tribunal den tennô
antastete, und liess ihn deshalb ungeschoren. Tojo erscheint nach dieser
Interpretation als unschuldiger, aber geopferter Diener seines Herrn. Es
ist bis heute ungeklärt, in welchem Masse Tojo oder der tennô
tatsächlich die Schuld am Ausbruch des Krieges trägt.
Am 10. April 1946 liess MacArthur entgegen dem Rat seines
Hauptquartiers (GHQ) Wahlen aufgrund der alten Verfassung abhalten; er
hoffte, dadurch die nötige Legitimationsgrundlage für das Projekt
einer neuen Verfassung zu gewinnen, selbst auf die Gefahr hin, dass die
alte politische Elite seine Bemühungen torpedieren könnte. Aus
den Wahlen ging das erste Nachkriegskabinett unter dem bürgerlichen
Politiker
Yoshida Shigeru
(1885-1954) von der liberalen Partei hervor.
Der Parteiführer Hatoyama Ichirô durfte den Kabinettsvorsitz
nicht übernehmen, weil das GHQ gegen ihn die Enthebung als Beamter
verfügte.
Die Regierung erhielt im Oktober 1945 von MacArthur den
Auftrag, den Entwurf einer neuen Verfassung für Japan im amerikanischen
Sinne auszuarbeiten. Der Anfang 1946 publizierte Revisionsentwurf ging
nach wie vor von der Souveränität des tennô aus und räumte
ihm die Oberaufsicht über den Staat ein. Dieser Entwurf wurde jedoch
vom GHQ am 13. Februar 1946 in allen Punkten abgelehnt.
Verärgert beauftragte MacArthur seinen Stab, unverzüglich
einen eigenen Entwurf zu verfassen, welcher dann der japanischen Regierung
präsentiert wurde. Die amerikanische Fassung stipulierte ausdrücklich
die Souveränität des Volkes, ordnete der Institution des Kaiserhauses
symbolischen Charakter zu und sah den generellen Verzicht Japans auf Krieg
und Aufrüstung vor.
Nach zehntägigen Beratungen nahm die japanische Regierung
den Entwurf der Amerikaner an, die als einzige Konzession ein Zweikammerparlament
(statt dem Unterhaus als einziger Kammer) zugestanden.
Am 6. März veröffentlichte die Regierung die
japanische Version der amerikanischen Vorlage als eigene Leistung. Diese
"Grundlinien eines Verfassungsentwurfs" wurden in der Öffentlichkeit
aufmerksam diskutiert und am 3. November 1946 stimmten beide Kammern des
Parlamentes der endgültigen Version beinahe einstimmig zu.
Die bis heute gültige und unveränderte Verfassung
Japans beginnt mit den Worten: "Wir, das japanische Volk, handelnd durch
unsere rechtmässig gewählten Vertreter...". Dieser klare Hinweis
auf die Volkssouveränität unterscheidet sich fundamental von
der alten Meiji-Verfassung, die seinerzeit mit den Worten eingeleitet wurde:
"Wir, Nachfolger auf dem prosperierenden Thron...".
In Artikel 1 der geltenden Verfassung wird der japanische
Kaiser als "Symbol des Staates und der Einheit des Volkes" bezeichnet.
Einzigartig steht Art. 9 der Verfassung Japans da, der
wie folgt lautet:
"In aufrichtigem Streben nach einem auf Gerechtigkeit
und Ordnung gegründeten internationalen Frieden verzichtet das japanische
Volk für alle Zeiten auf den Krieg als ein souveränes Recht der
Nation und auf die Androhung oder Ausübung von Gewalt als Mittel zur
Beilegung internationaler Streitigkeiten.
Um das Ziel des vorhergehenden Absatzes zu erreichen,
werden keine Land-, See- und Luftstreitkräfte oder sonstige Kriegsmittel
unterhalten. Ein Recht des Staates zur Kriegsführung wird nicht anerkannt."
Mit dem Beginn des kalten Krieges begann Japan, ironischerweise
unter amerikanischem Druck, eigene bewaffnete Einheiten aufzustellen und
verfügt heute über eine Berufsarmee von 239'000 Mann und einem
der weltweit höchsten Militärbudgets. Die Militärausgaben
sind zwar auf 1% des Bruttoinlandproduktes begrenzt, als Folge des japanischen
Wirtschaftswunders erreichten sie jedoch 40.9 Mrd. US $ (Stand 1997). Art.
9 JV wurde indessen nicht angetastet. Die verfassungsrechtliche Zulässigkeit
des japanischen Militärs wird mit einer kunstvollen Verfassungsauslegung
erreicht. Deshalb heissen die Streitkräfte in Japan "Selbstverteidigungsgruppe"
(
jieitai, self defence forces).
Das Militär hat in der Staatsorganisation
nicht den Rang eines Ministeriums, sondern ist eine "cabinet level government
Agency", was einem Bundesamt entspricht. Die "Selbstverteidigungsgruppe"
ist direkt dem Premierminister unterstellt und strikt unter ziviler Kontrolle.
Der japanische Pazifismus und Art. 9 JV geben bei den Einsätzen japanischer
Militärs im Rahmen von UNO-Missionen immer wieder Anlass zu hitzigen
Diskussionen. Auch in den asiatischen Ländern, die unter dem japanischen
Militarismus zu leiden hatten, stösst der Einsatz von Japans Streitkräften
regelmässig auf Kritik. Dazu trägt nicht zuletzt die Tatsache
bei, dass die japanische Kriegsmarine nach wie vor unter der alten Reichskriegsflagge
segelt (Sonnenball mit Strahlenkranz).
Die Diskussion um eine Anpassung der japanischen Verfassung
an die geänderten Verhältnisse ist politisch sehr heikel, in
der Bevölkerung geniesst die geltende Verfassung nach wie vor uneingeschränkte
Unterstützung. Umgekehrt wird von nationalistisch gesonnen Politikern
hinter vorgehaltender Hand nicht selten die Auffassung vertreten, die japanische
Verfassung von 1946 sei von den Amerikanern oktroyiert worden und müsse
durch eine eigene Verfassung ersetzt werden. Dieses Argument gilt allerdings
in der Öffentlichkeit als unmöglich und wird in der Regel nicht
frei geäussert.
Auch der mit dem verlorenen Krieg zusammenhängende
Bereich der Staatssymbolik ist sensibel: Erst im Spätsommer 1999 gelang
es der Regierung, ein Gesetz durchzubringen, das die Staatsflagge
(hinomaru)
und
die Nationalhymne
(kimigayo)
als offizielle Symbole des japanischen
Staates festschrieb. Damit sind die staatlichen Schulen angewiesen, sich
dieser Symbole zu bedienen, was bei der politisch mehrheitlich links stehenden
Lehrerschaft auf Widerstand stösst. Die Erfahrung des verlorenen Krieges
und der damit verbundenen Katastrophe zeitigt damit mannigfaltige Wirkungen
in der geschriebenen Verfassung wie auch in der japanischen Verfassungswirklichkeit.
Endnote:
1
Bei
japanischen Namen wird der Familienname stets vorangestellt.