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Jenseits von Krambambuli - Volltext Jenseits von Krambambuli - Volltext

Jenseits von Krambambuli

Die phallischen Anmaßungen der Schriftstellerin Marie von Ebner-Eschenbach.
Von Daniela Strigl

Online seit: 23. Juni 2015

Am 25. Mai 1899 bedankt sich Marie von Ebner-Eschenbach beim Kaiser in einer Audienz fur die Verleihung des ?Ehrenzeichens fur Kunst und Wissenschaft“ ? noch heute die hochste einschlagige Auszeichnung, die Osterreich zu vergeben hat. Die Schriftstellerin ist, wie Franz Joseph zu bemerken geruht, nach Carmen Sylva, der dichtenden Konigin von Rumanien, die zweite Frau, der er das Ehrenzeichen verliehen hat. Ebner-Eschenbach ist eine Jahrgangskollegin des Kaisers, wenige Wochen junger als er: 1830 geboren, wird sie im selben Jahr wie Franz Joseph sterben, 1916. Wie keine andere Stimme der Literatur verkorpert sie, nicht nur durch ihre Lebensdaten, sondern auch durch ihr Werk, die Franzisko-josephinische Epoche.

Marie von Ebner-Eschenbach mit ihrem Cousin und Ehemann Cousin Moritz von Ebner-Eschenbach
Marie von Ebner-Eschenbach mit ihrem Cousin und Ehemann Cousin Moritz von Ebner-Eschenbach (1815?1898). Foto: Ludwig Angerer, um 1865

Aus Anlass ihres 70. Geburtstags erhielt Marie Ebner-Eschenbach als erste Frau das Ehrendoktorat der Universitat Wien. Ihr Promotor, der Germanistik-Ordinarius Jakob Minor, nannte die Ausgezeichnete mit feiner Differenzierung ?unstreitig die erste deutsche Schriftstellerin, nicht bloß in Osterreich, sondern auch in Deutschland. Sie ist aber auch, ganz abgesehen von dem Geschlechtsunterschied, einer der ersten deutschen Schriftsteller und heute jedenfalls der bedeutendste deutsche Schriftsteller in Osterreich.“ In der Tat erreichte Marie Ebners Ruhm, der sich erst spat, um ihren funfzigsten Geburtstag, eingestellt hatte, seinen Gipfel. In einer die deutschen Lande umspannenden Unternehmung, der sogenannten ?Ebner-Feier“, fand eine Auffuhrung dreier ihrer Einakter im Burgtheater statt, richteten ?die Frauen Wiens“ eine Grußadresse mit 10.000 Unterschriften an die Jubilarin und wurde eine silberne Ebner-Medaille gepragt, die der deutsche Literaturnobelpreistrager Paul Heyse mit einem Huldigungsgedicht begleitete. Die Baronin von Ebner-Eschenbach war eine Starautorin, sie versandte hunderte Autogrammkarten und vorgedruckte Dankbilletts. An der Schwelle des neuen Jahrhunderts, als die nachste Generation der ?Modernen“ Bahr, Schnitzler, Hofmannsthal zu reussieren begann, war sie die regierende Furstin der Literatur.

Gemessen an ihrem Lebensplan, ist Ebner-Eschenbach aber eigentlich spektakular gescheitert: Was sie werden wollte ? und sie wollte von klein auf etwas werden ? ist sie nicht geworden: der Shakespeare des 19. Jahrhunderts. Bereits als Madchen hatte sie, wie sich ihr spaterer Mann erinnert, ein ganz unweibliches heißes ?Verlangen nach großen Thaten“, die sie aber auf der Buhne zu vollbringen gedachte.

Bis in die Schullesebucher unserer Tage hat Ebner-Eschenbach vor allem mit ihren Novellen Er laßt die Hand kussen , Die Spitzin und, naturlich,? Krambambuli , der Apotheose der Hundetreue, uberdauert. Ihr daneben bekanntestes Werk ist wohl der Roman Das Gemeindekind , den die Autorin selbst wie alle ihre langeren Texte ?Erzahlung“ genannt hat. Das Denkmal der Klassikerin des Poetischen Realismus hat jedoch unleugbar Staub angesetzt. Die ?Dichterin der Gute“ und des Mitleids hat den Hautgout der Langeweile, aber auch der Ruhrseligkeit. Ebner-Eschenbachs Image ist heute nicht nur das einer immer schon alten, sondern das einer altmodischen Frau. Was vor gut hundert Jahren Gegenstand der Verehrung war, ist zum Rezeptionshindernis geworden.

In der Literaturwissenschaft gibt es in den letzten Jahrzehnten zwar einerseits ein verstarktes Interesse vor allem von Germanistinnen aus dem angelsachsischen Raum, die im Kanon des 19. Jahrhunderts nach bedeutenden Autorinnen suchen und neben Annette von Droste-Hulshoff im Grunde nur Ebner-Eschenbach finden. Auf der anderen Seite hat sich das skizzierte Muster einer kritischen Rezeption verfestigt, die der einst Gefeierten einen amodernen Hang zur Harmonisierung und ein konservatives Weltbild unterstellt.

Der bornierte Blick

Wie konnte es dazu kommen, dass Marie Ebners mannlicher Gestus ebenso ubersehen wird wie die modernen Signale der Ambivalenz und Subversion in ihrem Werk? Zum ersten malte sie selbst mit am Bild der altersweisen, gutigen, tierlieben, bescheidenen Dichterin ? wobei Bild auch wortlich zu verstehen ist: Wie Peter C. Pfeiffer gezeigt hat, hat sie durch die Auflage von Korrespondenzkarten mit ihrem Altersbild dazu beigetragen, dass das ?altfrauliche und entsexualisierte Image“ der Marie von Ebner-Eschenbach sich verfestigte.

Es scheint zweitens, als wurde ein differenzierender Blick auf die Literatur des 19. Jahrhunderts allzu oft dem Fetisch Moderne geopfert. Die Werke einer Ebner-Eschenbach, eines Ferdinand von Saar, eines Peter Rosegger oder auch Charles Dickens mussen heute vor ruckwarts projizierten asthetischen Kriterien bestehen. Was immer auf den Leser ruhrend und ergreifend zu wirken vermag, gerat unter den Generalverdacht des Kitsches. Die Angst vor Gefuhl und Sentiment (das sich sehr wohl etwa auch bei Schnitzler oder Thomas Mann findet) steht so heute einer Wurdigung von echtem Pathos im Wege. Literatur als ?Axt fur das gefrorene Meer in uns“, um mit Kafka zu sprechen, ist aber ein Werkzeug von mannigfacher Gestalt. Es mag eine Sache des Etiketts sein: Statt Gute und Mitleid kann man auch Engagement und padagogischen Eros, Herzensbildung, existenzielle Betroffenheit und Intensitat ins Treffen fuhren.

So scheint die Kritik an Ebner-Eschenbach in mehrfacher Hinsicht symptomatisch fur germanistische Borniertheit. Zweifellos hat die uberaus produktive Autorin auch wenig gegluckte sentimentale oder melodramatische Texte verfasst. Aus dem Kontext gerissene Passagen verraten jedoch oft nur die oberflachliche Lekture des Interpreten. Der Schluss der Geschichte Der Herr Hofrat , fur den langjahrigen Ordinarius der Universitat Augsburg Helmut Koopmann ?an Mediokritat kaum zu uberbieten“, ist in seiner strahlenden Idyllik nur recht zu begreifen, wenn man weiß, dass ein alter Hagestolz sich in die Frau seines Neffen verschaut hat und einsam zuruckbleibt, wahrend das junge Paar zur Sommerreise aufbricht: ?Und sie fuhren mit sonnenhellem Herzen in den sonnenhellen Tag hinaus, den grunen Waldern und Bergen, den schimmernden Seen […] entgegen; […] und kraft ihrer Liebe und Begeisterung gehorte ihnen die Welt.“

Der osterreichische Sonderweg eines nicht immer nur ?poetischen“ Realismus, der etliche Beruhrungspunkte mit dem Naturalismus zeigt, ohne dass sich ein solcher ausgebildet hatte, wird drittens von (reichs-)deutscher Warte haufig ebenso ubersehen wie der jenen kennzeichnende Hang zur Ironie und zur Melancholie. Dass Ignoranz und Arroganz einer Wissenschaft nicht gut anstehen, wusste schon die junge Marie Ebner, als sie in ihrer Satire Aus Franzensbad die ?osterreichische Muse“ beim deutschen ?Zeus“ Gervinus, dem Gottervater der Literarhistoriker, abblitzen lasst: ?Lerne mich kennen, Großer, Unfehlbarer, Allwissender!“ ? ?Ich lerne nicht mehr; ich lehre.“

Als mindestens genauso haltbar erweist sich viertens das philologische Vorurteil gegen die ?Frauenliteratur“: Zu ihrem Gluck, so Koopmann, habe Marie Ebner nicht im klassischen Weimar publiziert, denn dann hatten Goethe und Schiller sie ?den Dilettantinnen, den schreibenden Frauenzimmern“ zugerechnet und verachtet ? was an deren Stelle nun der Literaturwissenschaftler besorgt. Wer ?Oberflachlichkeit“ fur das ?Stigma dieser Frauenliteratur des 19. Jahrhunderts“ halt, kann die Mitleids-Konzeption einer Ebner-Eschenbach als ?falsche Religiositat“ abtun, statt sich mit ihren Wurzeln in der grundlichen Schopenhauer-Lekture der Autorin zu beschaftigen. Der kann einerseits seinem Gegenstand echte Weiblichkeit absprechen (?Kann man sich vorstellen, dass diese Frau wild, exzessiv, grenzenlos getraumt hat?“) und ihm andererseits eben diese Weiblichkeit in aestheticis zum Vorwurf machen: ?Dienstmadchenliteratur“, ?Gartenlaubenstil“ und ?Gouvernantenhaftes“; entweder ?unweibliche“ Beherrschtheit oder feminine Gefuhligkeit ? das klassische Doublebind des Germanisten.

Ebner-Eschenbach wusste wohl: ?Eine gescheite Frau hat Millionen geborener Feinde: ? alle dummen Manner.“? Was Marie Ebners Haltung vielen in Wahrheit verdachtig macht, ist, was schon Zeitgenossen bemerkt haben: ihr prononciert ?mannliches“ Schreiben, ihr energischer Zugriff auf den Stoff, ihr Scharfblick, ihre unverhohlene Lust am Urteil, am Spott, an der Karikatur, ihre ? um mit Elfriede Jelinek zu sprechen ? phallische Anmaßung.

Helmut Koopmann hat die germanistische Kritik an Ebner-Eschenbach exemplarisch auf die Spitze getrieben. In einem Sammelband zum 75. Todestag 1994 formuliert er sein Lekture-Resumee noch positiv: ?Spatherbst einer Gesellschaft. Soziale Erzahlkunst in Marie von Ebner-Eschenbachs Novellen“. Die Vorstellung, die Autorin habe ?die alte, untergehende Adelsgesellschaft“ der Monarchie ?verherrlicht, sie habe biedermeierliche Dorf- und Schloßgeschichten geschrieben“ sei falsch. Ihre erzahlerische Welt sei eigentlich eine ?Katastrophenlandschaft“: ?Soziale Erzahlkunst ist auch die Kunst, den Untergang einer sozialen Welt darzustellen.“ Koopmann bemangelt zwar sentimentale Passagen, er konstatiert, dass der Ruckgriff auf die ?Ideale des 18. Jahrhunderts“, auf Verstandnis, Toleranz und Mitmenschlichkeit, den Texten ?bei aller Modernitat ihrer Sozialdiagnose, etwas Altmodisches“ verleihe, aber er will dies nicht als Vorwurf verstanden wissen.

Funf Jahre spater hat sich die Waage des Interpreten deutlich zuungunsten Ebner-Eschenbachs geneigt, was sich bereits im eher despektierlichen Titel des Aufsatzes ausspricht: ?Schloß-Banalitaten. Lebenslehren aus einer halbwegs heilen Welt“. Koopmanns Text ist weniger eine Analyse denn eine Philippika ? oder eher ein Pamphlet, ist er doch fur eine literaturwissenschaftliche Studie erstaunlich emotional. Auf den 17 Seiten der Abhandlung fallt, vom Titel abgesehen, sechsmal das Wort ?Banalitaten“, funfmal ?Kitsch“ oder ?kitschig“. Sie entbehrt ein Mindestmaß an philologischer Sorgfalt, ist voll von Wiederholungen, doppelten Zitaten und falschen Inhaltsangaben.

Der Autor lasst an seinem Objekt kein gutes Haar, weder menschlich noch literarisch. Die Baronin Ebner-Eschenbach, heißt es gleich zu Beginn, habe ?hemmungslos“ produziert, aber hatte sie langsamer geschrieben, ?sahe es wohl in ihren Erzahlungen […] und Romanen nicht anders aus“; in manchem widerspricht Koopmann seinen fruheren Urteilen diametral: Vieles sei ?heruntergekommenes Biedermeier“, vieles ?nach Gutsherrinnenart“, namlich ?etwas herablassend“, die Gesellschaftsordnung sei ?die heilige Kuh“.

Zu Ebners Aphorismus ?Zuviel Talent kann man nicht haben, aber zu viele Talente“ bleibt dem Portratisten ?nur hinzuzufugen, daß sie weder das eine noch das andere zu haben scheint.“ Und: ?Ihre Leser und Interpreten sind freilich lange genug darauf hereingefallen.“

Eine Zerrissene

Marie Ebners Weg zum Ruhm war ein Umweg gewesen, ein steiniger dazu. Die Tochter des Grafen Dubsky musste ihren Ehrgeiz gegen den Willen ihres Vaters und ihrer Bruder befriedigen, auch ihr Ehemann ? und Cousin ? Moritz Freiherr von Ebner-Eschenbach, der sich um ihre Bildung nachdrucklich angenommen hatte, missbilligte ihre dramatischen Versuche. Eine Frau als Theaterautorin galt um 1860 noch als unerhort, die adeligen Herren, allesamt Offiziere, furchteten nach etlichen Verrissen im Feuilleton um den Ruf der Familie. Als ?M. Ebner-Eschenbach“ hatte Marie ihr Drama Maria Stuart in Schottland auf den Postweg geschickt, als das vermeintliche Stuck eines Autors wurde es schließlich vom beruhmten Intendanten Eduard Devrient in Karlsruhe angenommen. In Osterreich indes blieb Marie von Ebner-Eschenbach auch als Verfasserin von Gesellschaftsstucken glucklos. 1873 fiel ihre mit dem Hochadel saftig abrechnende Komodie Das Waldfraulein im Wiener Stadttheater bei der Presse so grundlich durch, dass die Autorin dem Theater den Rucken kehrte.

Erst jetzt, jenseits der vierzig, wandte sie sich der Gattung zu, die sie beruhmt machen sollte: der Erzahlung. Die ?schmale Ernte“ ihres ersten Erzahlbandes, der 1875 bei Cotta erschien, schickte sie, ?so ziemlich am Ende meiner Laufbahn angelangt“, ihrem alten Freund Devrient: ?Mein Talent hat nicht gehalten, was Sie und ich uns einstens davon versprachen.“ ? In der Novelle Ein Spatgeborner spiegelt die Autorin ihre Verwundung durch die Kritik in der Gestalt des beamteten Nebenbeidichters Andreas Muth, der in Folge einer Verwechslung zu Buhnenehren gelangt und an der Intrige eines routinierten Meinungsmachers zugrunde geht. Zwanzig Jahre vor Arthur Schnitzlers jungst mit großem Trommelwirbel ausgegrabener Erzahlung Spater Ruhm hat Ebner-Eschenbach den Plot komplexer, dichter, boser behandelt. Bei ihr endet der Held nicht in Philister-Behaglichkeit, sondern tragisch.

Die ?Erzahlungen“ stießen auf freundliches Echo, wirklichen Erfolg jedoch erzielte Marie Ebner erst mit ihrem Roman Lotti, die Uhrmacherin , der 1880 zunachst in Fortsetzungen in der angesehenen Deutschen Rundschau Julius Rodenbergs erschien.

Will man Marie Ebner heute Gerechtigkeit widerfahren lassen, muss man sie als eine Zerrissene zwischen den Epochen, den politischen und den literarischen Stromungen begreifen. Als die 18-jahrige Grafin Dubsky just im Revolutionsjahr 1848 ihren um 15 Jahre alteren Cousin heiratet, kann sie sich nach dessen Zeugnis nicht entscheiden, ?ob sie die Parthei der Bedrohten oder die der Bedrohenden ergreifen sollte“. In ihrer Familie galt sie auch Jahrzehnte spater als ?Freigeist“ und lebte in immer wieder aufflackernden Konflikten. Wie ihr Gatte, der es als Militartechniker zum General bringen sollte, sah sie die kaiserliche Politik zeitlebens kritisch und blieb doch stets patriotisch. Wie er stand sie der katholischen Kirche distanziert gegenuber, ohne sich von den christlichen Werten zu verabschieden.

Ebner-Eschenbachs Kritik an ihrem eigenen Stand zielte aber nicht auf eine Abschaffung, sondern eine Art Renobilitierung des Adels ab: Nur wer seine Privilegien durch echte Verdienste um das Gemeinwohl zu rechtfertigen imstande sei, verdiene auch, sie zu behalten. ?Satirisches gibt es nicht bei Ebner-Eschenbach, daran hindert sie ihr Verzeihensblick“, dekretiert Helmut Koopmann, der im Eifer der Klischee-Suche selbst kein Rezeptionsklischee umschifft. Denn wie anders als satirisch ließe?sich die Brieferzahlung Aus Franzensbad bezeichnen, die die junge Marie Ebner 1858 wohlweislich anonym veroffentlichte und in der sie nicht nur die reichsdeutschen Literaturpapste, sondern auch die Dunkel der im bohmischen Franzensbad kurenden adeligen Damen und Herren aufs Korn nahm.

Einen ironischen, ja sarkastischen Zugriff hat auch Ebner-Eschenbachs Erzahlung ?Er laßt die Hand kussen“, die 1886 in den Neuen Dorf- und Schloßgeschichten erschien. Die Novelle spielt in absolutistischer Zeit: ein Gartner namens Mischka verscherzt sich die Gunst der Schlossherrin dadurch, dass er ohne Trauschein mit Weib und Kind lebt. Im Namen der Moral verfugt die Grafin gegen den hartnackig Unbotmaßigen am Ende funfzig?Stockhiebe. Seine Begnadigung auf Fursprache des Dorfarztes erlebt Mischka nicht mehr, wie der stets untertanigste Kammerdiener Fritz vermeldet: ?Er laßt die Hand kussen, er ist schon tot.“

Mit Hilfe der Erzahlstimme der Rahmenhandlung ? ein alter Graf erzahlt einer alten Grafin die Geschichte seiner Großmutter ? zeigt Ebner-Eschenbach das Handeln der Vorfahrin in einer psychoanalytisch verfolgbaren Motivkette unmissverstandlich als durch Sexualneid motiviert. Am Ende sagt die Gutsherrin, deren Regiment vor Tisch und Bett ihrer Untertanen nicht haltgemacht hat, zum Arzt, er moge sie ?mit den hauslichen Angelegenheiten der Leute verschonen“: ?da mische ich mich nicht hinein.“ Die (Land-)Arzte treten in Marie Ebners Erzahlungen uberhaupt als Vorfahren des Dr. Schnitzler auf, als Anwalte der Aufklarung und Vernunft, als Widersacher der Pfarrer und Sympathisanten des gemeinen Volkes.

Nicht nur die Sprache der Figuren, vor allem die Ironie des Erzahlers, der von einer ?kleinen Ubereilung“ seiner Vorfahrin spricht, entlarvt hier eine verbrecherische Selbstgerechtigkeit. ?Soziale Kritik? Sie ist verhullt und verkleidet“, lautet Koopmanns Kommentar. In Wahrheit legt die von Bildern des Prugelns durchsetzte Novelle radikal bloß, wie Herrschaft sich formlich einschreibt in die Haut des Untertanen, und sie tut das auf eine Weise, die durch betonte Distanz in der Erzahlhaltung unter die Haut der Leser gehen soll. Die erste Adressatin der padagogischen Bemuhung ist die den feudalen Zeiten nachtrauernde Zuhorerin, die das Wort des Erzahlers ? ?Der Mischka […] schamte sich in seine Haut hinein“ ? prinzipiell anzweifelt: ?Es ist doch stark, daß Sie jetzt gar in der Haut Mischkas stecken wollen!“ Die Antwort des Grafen ist eine poetologische Selbstcharakterisierung der Autorin: ?Bis uber die Ohren! […] bis uber die Ohren steck’ ich darin! Ich fuhle, als ware ich es selbst, die Besturzung und Beschamung, die ihn ergriff.“

Alles ist Geschichte

Diese mit Nachdruck verfochtene Position eines empathischen Realismus verbindet die Darstellung der Conditio humana mit einer prazisen Psychologie und dem treffsicheren Zeitbild. Ebner-Eschenbach erzahlt, in einem Reflex der Lehre Darwins, mit Sympathie von einem Vater, der seine als genetisch bose erkannte Tochter als unwertes Leben gleichsam zum Tod verurteilt ( Das Schadliche ), und sie verhandelt, ebenfalls verstandnisvoll, das Thema Euthanasie aus dem Blickwinkel eines Arztes ( Die Reisegefahrten ). Sie schildert die Dressur eines Vierzehnjahrigen durch seinen ehrgeizigen Kleinburger-Vater, die mit dem Selbstmord des Sohnes endet ( Der Vorzugsschuler ). ?Tragisches wird selten sichtbar“, meint Koopmann, uber allem liege ein ?Hauch von Verklarung“.

Wie Theodor Fontane in Deutschland oder Ferdinand von Saar in Osterreich wollte Ebner-Eschenbach soziale Wirklichkeit darstellen, ohne Elendsmalerei zu betreiben. Vom Naturalismus distanzierte man sich bewusst, obwohl Saar mit seiner Novelle Die Steinklopfer ein literarisches Denkmal der fur den Bau der Semmeringbahn ausgebeuteten Arbeiter schuf und Ebner-Eschenbach mit dem Gemeindekind (1887) die Geschichte eines dorflichen Außenseiters schrieb, der den Circulus vitiosus von schlechtem Ruf und schlechtem Benehmen durchbricht und als wahrer Selfmademan vom Dieb zum Mitglied der Dorfgemeinschaft aufsteigt. Auf dem vaterlichen Gut im mahrischen Zdislawitz, ihrem Geburtsort, sind Marie Ebner solche ?Gemeindekinder“ begegnet.

Von der Perfidie demonstrativer Rechtschaffenheit und der zerstorerischen Kraft des Vorurteils handelt dieses Schlusselwerk des Spatrealismus; von Koopmann als ?gefuhlsreich und tranenselig“ bezeichnet, ruhrt es gerade durch seine unsentimentale Haltung: Die Kinder eines als Morder zum Tode verurteilten Taglohners fallen in die Obhut der Gemeinde. Wahrend das Madchen Milada von der Schlossherrin in einem Kloster untergebracht wird, kommt der Bub beim Dorfhirten unter, der das Kostgeld in die eigene Tasche steckt. Die Prognose fur Pavels Zukunft ist duster, und dieser tut das Seine, um ihr zu entsprechen. Alle falschen Beschuldigungen gegen sich racht der Bub mit echten Vergehen. Dennoch ist das Gute von Anfang an in ihm angelegt, als das ?Bewusstsein einer Macht“, ?einer andern, einer hoheren als der, die seine starken Arme und sein finsterer Trotz ihm oft verliehen“. Diese Macht wirkt in Pavels zahem Kampf um Bewahrung, mit vielen Ruckschlagen und ohne rundum guten Ausgang. Pavel verschafft sich zwar endlich Respekt, doch in seinem Vertrauen nachhaltig beschadigt, nimmt er keine Frau und grundet keine Familie.

Das Gemeindekind ist ein Entwicklungs- und Bildungsroman, dessen Held sein Selbstbewusstsein nicht allein uber materiellen Besitz, sondern auch uber die Fahigkeit zur sprachlichen Artikulation gewinnt. Ebner-Eschenbach zeigt psychologisch scharfsichtig die Ausgrenzungsmechanismen einer dorflichen Gemeinschaft, sie nimmt die anachronistische Adelsherrschaft genauso aufs Korn wie die Kirche: Die Nonnen lassen die kleine Milada an allzu heiligmaßiger Kasteiung sterben. Der Lehrer mit dem sprechenden Namen Habrecht vertritt die Aufklarung. Der Atheist praktiziert als einziger christliche Nachstenliebe. Habrecht lehrt Pavel, dass nur wer so weit kommt, sich selbst zu achten, der allgemeinen Verachtung standhalten kann. Sein Credo, dass heute jedem, der nicht blind sei, ?der leere Teller des Nachbars den Appetit verderben“ musse, formuliert Marie Ebners Haltung in der ?sozialen Frage“, die ihr die Bewunderung Viktor Adlers eintrug und die Wiener Arbeiter-Zeitung zum Abdruck des Gemeindekinds bewog. Bei aller Distanz zum Sozialismus machte Ebner bewusst Menschen von niedrigem Stand zu ihren Protagonisten und gab ihnen ihre eigene, dialektal gepragte Sprache. Pavel legt Zeugnis ab wider den von den Naturalisten propagierten Determinismus. Die Autorin glaubte an das Individuum und an die Moglichkeit der Selbstschopfung aus freiem Willen. Ein Heiliger wird Pavel nicht ? aber dafur uberlebt er. Das Motto stammt von George Sand: ?Tout est l’histoire“, ?Alles ist Geschichte“.

Eine ahnliche Entwicklung zeigt Ebner-Eschenbach in der Erzahlung Der Kreisphysikus : Uber Jahre ist Doktor Nathaniel Rosenzweig, ganz dem Klischee des Juden entsprechend, allein auf die Mehrung seines Besitzes aus und hilft seinen Kranken nur aus professionellem Stolz. Dem außeren Aufstieg lasst die Autorin jedoch eine innere Lauterung folgen, auch hier lost sich die Verhartung des Herzens, und Rosenzweig entdeckt sein soziales Gewissen. Im Wien des Dr. Karl Lueger bezog die Baronin Ebner-Eschenbach klar Stellung: Sie trat Bertha von Suttners ?Verein zur Abwehr des Antisemitismus“ bei und hielt den Burgermeister schlicht fur einen ?Schuft“.

Eine gescheite Frau

Ein offentliches Bekenntnis zur Frauenbewegung hat sie dagegen nie abgelegt, wiewohl ihre Aphorismen eine klare Sprache sprechen: ?Als eine Frau lesen lernte, trat die Frauenfrage in die Welt.“ In ihren Heldinnen zeichnet Marie Ebner immer wieder starke, stolze, tuchtige, ja ehrfurchtgebietende Frauen, die ihre ethischen Grundsatze ? Treue, Wahrheitsliebe, Gerechtigkeit ? bisweilen mit ungeheurem Starrsinn bis zur Selbstbestrafung exekutieren. Maria Grafin Dornach in Unsuhnbar zahlt dazu, eine osterreichische Effi Briest, die mit dem Gestandnis ihres Ehebruchs nach dem Tod des Gatten sich und ihr Kind aus Familie und Gesellschaft ausschließt und sich konsequent ins? Grab gramt. Auch Lotti, die Uhrmacherin , die Heldin des ersten Handwerkerinnen-Romans deutscher Sprache, leistet Verzicht ? auf ihren unreifen Brautigam, der sein Dichter-Talent verschleudert, wahrend Lotti ihr Handwerk zur Kunst veredelt.

Vor allem aber sind es Frauen aus dem Volk, mahrische Bauerinnen und Magde (Ebner-Eschenbach sprach von klein auf Tschechisch), die in ihren Geschichten uber sich hinauswachsen; am markantesten die Titelheldin des Romans Bo?ena , die Magd mit dem Gardemaß, die sich in einem schwachen Moment mit einem unwurdigen Mannsbild einlasst und deshalb ihre Aufsichtspflicht gegenuber der Tochter ihres Dienstherrn, des Weinhandlers Heißenstein, vernachlassigt. Von da an weiht sie ihr Leben dem Bemuhen, den Fehler ? die Tochter ist mit einem Leutnant durchgebrannt ? wiedergutzumachen. Uberlegen zieht sie die Faden, um am Ende uber Luge und Intrige, uber bourgeoisen Geltungsdrang und eingebildete Gebildete zu triumphieren.

Nicht Moral im Sinne der herrschenden Sexualmoral, sondern Selbstachtung ist das Movens der Ebnerschen Figuren. Unversohnt bleiben der reiche Bauer und die arme Bauerin an der Totenbahre ihrer Mutter ( Die Totenwacht ): Vor Jahren hat er sie vergewaltigt und mit dem Kind allein gelassen ? jetzt lehnt sie seinen Antrag ab. Mit Selbstachtung hat auch der Selbstmord der Professorengattin zu tun, die sich in Das tagliche Leben (siehe untenstehenden Text) am Vorabend ihrer Silbernen Hochzeit erschießt und so die Fassade burgerlicher Familienideologie zum Einsturz bringt. Hier wird nichts mehr heil. Illusionslos moderne Texte wie dieser zeigen augenfallig, wie wenig die Punze des ?Guten Menschen von Zdißlawitz“ (Gertrud Fussenegger) Ebner-Eschenbach gerecht wird.

Bereits ihre Lobredner zu Lebzeiten haben, wie Manuela Gunter gezeigt hat, durch die ?geschlechtliche Markierung“ ihres Werkes dessen Anerkennung als ?Literatur“ diskreditiert und die bescheidene Marie Ebner in den ?Mythos von der großen ?Mutter‘“ eingereiht: ?Die Autorin galt fortan als sentimentale Seele […]: nicht ihr Anspruch auf eine ?mannliche‘, also eine durch sich selbst autorisierte Stimme wird wahrgenommen, sondern nur die Maskierung, hinter der sie diesen Anspruch zu verbergen hofft.“ So sei es gelungen, im Zuge der Kanonisierung Ebner-Eschenbachs ?subversives Potential“ zu entscharfen. Die ?Millionen geborener Feinde“ der ?gescheiten Frau“ seien so dumm also nicht gewesen.

So bleibt Ebner-Leserinnen und -Lesern wohl gar nichts anderes ubrig, als ihnen im Dienste der Denkmalpflege mit einer echt weiblichen Waffe entgegenzutreten: dem Staubwedel.

Daniela Strigl ist Literaturwissenschaftlerin und Kritikerin in Wien. Sie ist gemeinsam mit Evelyne Polt-Heinzl und Ulrike Tanzer Herausgeberin einer vierbandigen Werkausgabe von Marie von Ebner-Eschenbach, deren letzter Band im Herbst im Residenz Verlag erscheint. Gegenwartig arbeitet sie an einer Biografie von Ebner-Eschenbach, die im Fruhjahr 2016 im Residenz Verlag erscheint.
Fur ihre Arbeit als Literaturkritikerin wurde sie u.a. mit dem Osterreichischen Staatspreis fur Literaturkritik, dem Alfred-Kerr-Preis und zuletzt mit dem Berliner Preis fur Literaturkritik ausgezeichnet.

Dieser Beitrag ist ursprunglich?in VOLLTEXT 2/2015 erschienen.