한국   대만   중국   일본 
Rammstein: Auf Tour mit der Band - SZ Magazin

USA, 20.56 Uhr

In vier Minuten startet eine der großten Shows der jungeren Popgeschichte. Zehntausend Amerikaner werden mit Rammstein singen. Das SZ-Magazin begleitete die Band durch die Tage und Nachte in Kanada und den Vereinigten Staaten. Willkommen zu einer Reise, die Narben hinterlasst.

Denver: Lindemann mit brennenden Flugeln beim Lied Engel .

≫Wer Gutes tut, dem wird vergeben / So seid recht gut auf allen Wegen / Dann bekommt ihr bald Besuch / Wir kommen mit dem Liederbuch.

Thilo ≫Baby≪ Goos, Veranstaltungstechnik, Denver Coliseum: ≫Das, mein Lieber, ist eine der großten Buhnen, die momentan unterwegs sind. 24 Meter breit, 15 Meter hoch, eine reine Stahlkonstruktion. Hier werden 100 Lautsprecherboxen und viel Licht ans Hallendach gehangt, die Crew zieht 50 Tonnen Equipment an 120 Motoren hoch. Die Anlage hat 380 000 Watt. Es muss dengeln. Es ist Rammstein. Zwei der 24 Trucks hat die US Trucking Company alleine fur die beiden mitreisenden Kraftwerke dabei. Das sind zwei Megawatt-Aggregate, und die ziehen rund 1000 Liter Diesel pro Show ausm Tank. Die Kraftwerke braucht man, damit in den Stadten nicht das Licht ausgeht, wenn’s bei Rammstein angeht. Oko ist das nicht. Man muss sich entscheiden: Heiße alte Konzertlampen statt kaltes Licht? Brauchst du Strom. Die meisten Produktionen sehen heute aus wie Fernsehstudios. Auch die Rockkonzerte. Eiskalt. So geht’s auch. Aber nicht bei Rammstein.≪

Rammstein ? Die Band

Phoenix Flake Lorenz nach der Show. Es ist 23.15 Uhr. Der Aktionskunstler wird nun duschen, die Damen der Aftershowparty mit hochgezogenen Augenbrauen links liegen lassen, ins Hotel fahren und dort bis zum Einschlafen lesen.

Sanger und Texter Till Lindemann: Schmerzensberserker, Doblinfigur, boser Wolf? Hinter Masken und Wunden ein leise sprechender Mann und brillanter Erzahler, der vor Fans nahezu panisch Reißaus nimmt ? und in Ruhe an Gedichten und Liedtexten feilt.

Bassist Oliver Riedel: Die Diskrepanz zwischen Maskerade und Mensch konnte großer nicht sein. Er sucht und findet Ruckzugsorte uberall: das Meer zum Surfen, das Flugzeug zum Lesen, die Garderobe zum Spielen auf der Akustischen. Auf der Buhne? Eine Art fleischfressende Pflanze.

Meistgelesen diese Woche:

Schlagzeuger Christoph Schneider ermutigte Till Lindemann Anfang der Neunziger, nicht mehr Englisch zu singen: ≫Ich horte, dass er Gedichte schreibt. Und sagte: Alter, sing mal auf Deutsch!≪

Gitarrist Richard Kruspe: Der Rockstar ? der lange in New York lebte und uberlegt, wieder in die USA zu ziehen: ≫Ich weiß, was alles falsch lauft in Amerika. Aber ich liebe diesen sagenhaften Pioniergeist hier. Einfach mal machen, nicht immer dieses kalte deutsche Phlegma.≪

Gitarrist Paul Landers: ≫Die Motivation war immer wesentlich: Arger machen. Das ist so, und das bleibt so. Rammstein andert sich nicht. Das Wetter am Berg andert sich ? aber der Berg andert sich nicht.≪

Artisten unter der Zirkuskuppel
Rammstein formierten sich 1994 in Berlin-Prenzlauer Berg. Die Musiker spielten zuvor teils in der legendaren DDR-Band Feeling B . Schnell provozierten Rammstein, zu deren Vorbildern die slowenische Kunstgruppe Laibach zahlte, deutsche Behorden und Kritiker mit brachialem Sound und einer martialischen Buhnenperformance aus Feuer und Licht. Anerkennung und Ruhm kamen uber das Ausland: US-Regisseur David Lynch untermalte mit der Band 1996 seinen Psychothriller Lost Highway . Der linke Philosoph Slavoj ?i?ek sagte in einem Interview der taz im Jahr 2010: ≫So wie Charlie Chaplin in Der große Diktator Hitler zwischen Gebrabbel nur ?Apfelstrudel? und ?Wiener Schnitzel? sagen lasst, so sabotiert Rammstein auf obszone Weise die faschistische Utopie.≪ Rammstein sind: Sanger und Texter Till Lindemann, (49), Gitarrist Paul Landers, (47), Gitarrist Richard Kruspe, (45), Bassist Oliver Riedel, (41), Schlagzeuger Christoph Schneider, (46), und Keyboarder Christian Flake Lorenz, (45).

Brauchst du Strom. Von unten, aus dem Keller der Buhne, pfeifen Rauchfontanen durch den Gitterboden, bis weit hoch an die Decke. Von unten schießen Flammen durch den Gitterboden. Von unten strahlt das Licht durch den Gitterboden. Auf dem Gitterboden steht Rammstein-Sanger Till Lindemann. Er sieht ein bisschen traurig aus, wie einer, der aus der Unterwelt vorbeischaut. Dazu diese Stimme: wie sehr schlechtes Wetter. Hort er womoglich selbst Stimmen? Man denkt an den ≫ehemaligen Zement- und Transportarbeiter≪ Franz Biberkopf aus Doblins Berlin Alexanderplatz . Die Freiheit? Ein Panoptikum. Die Stadte? Ein Exzess. Das Leben? Man muss ihm entgegentreten, dem Leben, mit Wucht. Lindemann ruft ≫Links, zwo, drei, vier≪ und marschiert, als hatte er unter jeder Arschbacke eine Batterie, er fragt dann diese vielen Amerikaner Abend fur Abend: ≫Konnen Herzen singen? Kann ein Herz zerspringen? Konnen Herzen rein sein? Kann ein Herz aus Stein sein?≪

Die Menschen in den Konzerthallen hier in Amerika singen jede einzelne dieser Fragen mit. Sie weichen zuruck vor dem Feuer. Sie schwitzen in der Hitze. Sie schließen die Augen vor dem Licht. Irgendwann, nach diesen Wochen auf Konzertreise hier in Nordamerika, kurz vorm Abflug am fruhen Morgen auf dem Bett des Zimmers 1023 im ≫Zaza Hotel≪ in Houston liegend, die finale Gewissheit: So hell ist das, so laut, so heiß, wenn ein Planet entsteht. Rechts eingelassen in die Eisenbuhne steht ein Bunker fur die Pyrotechniker. Wer wahrend der Show durch diesen Bunker schleicht, bewegt sich durch die Eingeweide einer gigantischen Maschine aus Kabeln, Dusen, Schlauchen, Sauerstoffflaschen. Zum Beispiel steht Gitarrist Paul Landers in dem Lied Asche zu Asche an seinem brennenden Mikrofonstander auf dem Gitterdach dieses Bunkers, die Sohlen seiner Stiefel nur Millimeter uber den Kopfen der Techniker, und durch schmale Sehschlitze schaut man, wahrend Landers uber einem steht, hinaus auf eine Show, die eine traurige und komische Geschichte erzahlt. Sie handelt von der Dunkelheit und davon, auf welche Art und Weise das Licht in die Dunkelheit tritt. Das Licht bei Rammstein, das ist zum Beispiel ein an Lindemanns Brust geheftetes rotes Herz, pochend in der stockfinstren Halle: Minimal Art in einem Lied, das mit dem Gewicht einer Planierraupe um die Ecke biegt, Mein Herz brennt . Oder es sind bei Engel Lindemanns Flugel aus Stahl, funfzig Kilo tragt er da, und am Ende der Show werden diese Flugel Flammen spucken. Oder es sind die Feuerstoße, mit denen Lindemann als Hollenkasper den Keyboarder und weiß gekalkten Riesenkomiker Flake Lorenz in einem Eisentopf zubereitet, bis der heraushupft und mit rauchender Hose uber die Buhne rast.

Flake Lorenz, Autofahrt von San Antonio nach Houston: ≫Alles, was aus Anstrengung entsteht, ist Scheiße. Hor dir die Musik im Radio an. Leiernder, wehleidiger, stumpfer Dreck. Entstanden aus Anstrengung. Gemacht von Leuten, die Hauser abbezahlen mussen. Stumpf anmoderiert von Leuten, die Hauser abbezahlen mussen. Kapitalismus macht stumpf. Ich habe mich noch keine funf Minuten im Leben angestrengt. Man muss sich entscheiden. Gute Kunst entsteht nicht aus Anstrengung. Sondern absichtslos. Aus Lust.≪

Von Amerika selbst werden nach dieser Reise Eindrucke nur wie Fetzen zuruckbleiben. Das grune Denver und der Red Rock State Park zum Beispiel, hier der Park Ranger, der warnt, als man Richard Kruspe nackt in die Felsen stellt, um ihn abzulichten: ≫Freunde, wenn die Sheriffs kommen, heißt das fur jeden von euch: mindestens 180 Tage Gefangnis.≪ Die Mockingbird Lane in Dallas, der ≫Rockfish Diner≪ und das Mittagessen mit Lindemann in brutender Hitze. Lindemanns Erinnerungen an die DDR und seinen Brieffreund Dschenja aus Kasachstan, der eines Tages leibhaftig anruckte und als Gastgeschenk bunte Teller aus der Heimat mitbrachte zu den Jugendweltfestspielen: ≫Komsomolzen hier, FDJ dort. Die Jugendweltfestspiele wurden organisiert, damit die jungen Sozialisten sich vermehren. Das war ein einziges Gepoppe.≪ Der kleine Till, ein sensibler, eigensinniger Junge. Am 19. Marz 1970 sieht er im Westfernsehen Willy Brandt zu Besuch in Erfurt, dort ans Fenster des ≫Erfurter Hofs≪ tretend. Stundenlang brullt das Kind durchs Haus: ≫Willy Brandt ans Fenster! Willy Brandt ans Fenster!≪ Seine Bautischlerlehre im ≫Betriebsteil 5≪, Rostock-Schmarl: ≫Ein Holzstamm, nu mach ein Fenster draus, Lindemann! Ich mach dir heute noch aus einem Stamm ein Fenster.≪ Ein anderer Reisefetzen: der Spaziergang mit Flake Lorenz durch Huntington Beach. Flakes Entsetzen uber die puebloartigen Bauherrentotgeburten unter kalifornischer Sonne, bewacht wie das Pentagon. Flake fluchend: ≫Wer lebt hier? Wer will hier leben? Wahnsinn. Stumpf.≪ Wie er in das Pazifik-Suburbia plotzlich sagt: ≫Ich wohnte mal auf der Fehrbelliner Straße 7.≪ Und? ≫Nu halt dich fest: Im selben Haus wohnten Frau Fett und Herr Fleischfresser.≪

Will er einen verarschen?
≫Ich schwor’s. Astrid Fett in der einen Wohnung. Wolfgang Fleischfresser in der anderen. Ich hab auch Zeugen.≪

Aber die Show. Aber das Licht. Aber das Feuer. Alles ist in jeder Millisekunde an seinem Platz. Cirque du Soleil minus Eskapismus. ≫Berghain≪ plus Lyrik. Till Lindemann erwirbt alle paar Jahre in einem Crashkurs im Berliner Velodrom den sogenannten Pyro-Schein. Was er dann in seinen großen, vernarbten Handen halt, ist etwas doppeldeutig Herrliches, namlich das hier: ≫Erlaubnis und Befahigung zum Abbrand pyrotechnischer Satze.≪ Krachen tut es heute schnell mal auch woanders. Rammstein aber wissen, wann es brennen muss und wann nicht, wann die Show ein Traum und wann sie ein Albtraum sein sollte. Sie ist in den Kopfen von Geschichtenerzahlern entstanden, diese Show, nicht in den Kopfen von Eventhanseln. Zum Beispiel: Schlagzeuger Christoph Schneider. Der Vater ist Opernregisseur, und schon der junge Schneider horte von mystischen Konzerten im Westen, von fliegenden Schweinen und gigantischen Mauern. So entstand in Schneiders Kopf fruh die Vorstellung von einem Hollenzirkus, einem Schwarzen Theater. Keyboarder Christian Lorenz ist der Anti-Epiker, sein Spitzname Flake verweist auf die hoch storrischen wie auch liebenswurdigen Wickie -Figuren aus dem gleichnamigen Dorf in der TV-Serie. Flake ist ? eigentlich ? eine verspatete Fluxus-Geburt, dazu ein Spazierganger wie außer ihm hochstens noch Robert Walser. Und als solcher also: ein Radikaler. Einer seiner lapidaren, umwerfenden Satze zum Leben, mal eben so hingeworfen beim Weg aus der Halle zuruck ins Hotel: ≫Man fickt. Oder man fickt nicht. ’N bisschen ficken geht nicht.≪

Till Lindemann tragt etliche Narben am Korper und auch im Gesicht, da er zum Beispiel jeden Abend mit der Stirn den schweren Mikrofonstander wegkopft. Kommt man dieser Show nahe, muss man sagen: Sie ist tatsachlich richtig gefahrlich. Man tragt Narben davon von umherfliegenden Funken, Augenreizungen von Licht und Rauch, Verbrennungen von den Feuerstoßen.

Die Dunkelheit ist das eine, das Licht das andere. Die Lautstarke ist das eine, das Flustern das andere. Die Trauer ist das eine, die Komik ist das andere. Man wird Rammstein nicht verstehen, wenn man sich mit Widerspruchen nicht abfinden mag. Das geht schon damit los, dass diese monstergroße Sonderbotschaft der deutschen Sprache nicht in den Riesentopfen der Kultursubventionierung zusammengebraut wurde.

Goethe-Institut? Tja, am Arsch.

Die Wut von Bildungsburgerkindern

Houston Die kleinere der beiden Buhnen in der Hallenmitte, fotografiert aus zwolf Meter Hohe von der Hallendecke.

Oliver Riedel, Fruhstuck, Huntington Beach: ≫Gutes entsteht aus Freundschaft, Boses entsteht aus Fanatismus. Die Band war immer ein Ding unter Freunden, nur so sind wir durch alle Krisen. Wir sind etwas extrem und widerspruchlich. Jeder tut’s auf seine Weise. Narziss und Goldmund. Meine Mutter schenkt mir immer noch jedes Jahr einen Hesse. Mein Lieblingsautor? Murakami.≪

≫Mich interessiert kein Gleichgewicht / Mir scheint die Sonne ins Gesicht≪: Wenn viele tausend junge Menschen in aller Welt diese deutsche Lyrik mitsingen, so liegt das an einem vom Staat nicht subventionierten, dafur aber immer wieder mal zensierten Kunstprojekt. Das Projekt Rammstein entstand in den fruhen Neunzigern in einem Probenkeller am Prenzlauer Berg, ein sonderbares Baby war das, gegrundet von einer Horde Jungs, die die große Oper und den Konzeptrock mochten, die im Jazz, im Blues und in der Klassik geschult waren, die aber eine solche Wut hatten, dass westdeutscher Punk dagegen so gefahrlich ruberkam wie, sagen wir, ein nicht gut besuchter Ostermarsch bei feinem Regen.

Paul Landers, Autofahrt nach dem Konzert in Anaheim, zuruck ins Hotel nach Huntington Beach:
≫Arger, Hass, das sind prima Motoren. Naturlich stand ich damals in Berlin im Haus der Jungen Talente herum. Jazz. Dietmar Diesner, Volker Schlott, herrlich. Klar bedeutet Jazz eigentlich Arger. Aufstand. Furor. Den Jazz haben die Heulsusen vom Feuilleton aufm Gewissen, das ist naturlich eigentlich keine Cordhosenmusik. Im Grunde kennen wir sechs uns seit dreißig Jahren. Und wir sind als Band seit bald zwanzig Jahren gar nicht vorstellbar ohne: Wut. Das hatte mit der DDR eigentlich nix zu tun. Oder nur wenig. Man konnte sich auflehnen, sich stoßen. Aber wutend bist du, oder du bist es eben nicht. Im Kapitalismus gibt’s ja nun erwiesenermaßen kein Arschloch weniger als im Sozialismus. Der Widerstand im Osten war eckiger, im Westen ist er oliger. Wir standen vorm Haus der Jungen Talente in Ostberlin. Und hatten eine Wut. Und Fehlfarben, nehme ich an, standen in Dusseldorf vorm ?Ratinger Hof?. Und hatten eine Wut. Oder?≪

Es handelt sich ? und man muss nicht die Lippen schurzen, um diese delikate Wahrheit auszusprechen ? um die Wut von Bildungsburgerkindern. Nur zum Beispiel: Till Lindemann als Sohn des DDR-Kinderbuchautors Werner Lindemann und der Kulturjournalistin Gitta Lindemann. Schlagzeuger Christoph Schneider als Sohn des Opernregisseurs Martin Schneider, der heute noch als Professor an der Hanns-Eisler-Musikhochschule in Berlin lehrt. Gitarrist Paul Landers als Sohn des Philosophen und Slawisten Anton Hiersche. 78-jahrig saß der Vater im Dezember in einem der Rammstein-Konzerte in der Berliner O2-Arena. Dann mailte er seinem Sohn Paul: ≫Indem ihr die Dinge bis uber das Extrem hinaustreibt, nehmt ihr ihnen das Anstoßige. Doch hinter der Groteske geht die Ahnung von etwas sehr Ernstem, Wesentlichem nicht verloren. Ihr seid nicht doppel-, sondern dreibodig. Im Russischen gibt es in Bezug auf solche Kunst den schwer ubersetzbaren Terminus Sa-um , wortlich: Hintersinn. Man muss die Darbietung mitdenken, um ?hinter den Sinn? zu kommen.≪

Kein Pathos ohne Hintersinn. Das Lied Engel , eine kinderliedhafte Hymne daruber, wie man als vernunftbegabter Mensch vom Glauben abfallt. 10 000 Amerikaner, die jede Zeile mitsingen, in erstaunlich sicherem Deutsch: ≫Wer zu Lebzeit gut auf Erden / Wird nach dem Tod ein Engel werden / Den Blick gen Himmel fragst du dann / Warum man sie nicht sehen kann.≪ Der Chor der Engel: ≫Erst wenn die Wolken schlafen gehn / Kann man uns am Himmel sehn / Wir haben Angst und sind allein.≪ Und Lindemann und all diese vollkommen verruckt gewordenen Texaner: ≫Gott weiß, ich will kein Engel sein.≪ Hier nun die sagende Schleife der Gitarristen Kruspe und Landers, ein euphorisierter Beat, gestutzt durch irgendwie so was wie Peitschenhiebe aus der Rhythmusgruppe, der uhrwerkhaft Schlage wie tuckische Synkopen setzende Christoph Schneider am Schlagzeug und der Sandberg-Bass Oliver Riedels, der sich schlank und groß uber sein Instrument beugt wie eine fleischfressende Pflanze uber die Beute. Kann tonnenschwere Rockmusik das haben, was sich nicht ubersetzen lasst: einen Groove? Komisch, dass das geht.

Richard Kruspe, Fahrt vom Flughafen in Denver zum Red Rock State Park: ≫Amerika war immer der Traum. Amerika ist auch immer mein personlicher Traum gewesen. Ich fuhle mich in New York wohler als in Berlin. Berlin zieht mich runter, New York zieht mich rauf. Als die Nummer losging in der Presse, wir seien irgendwie rechts, weil Till das R rollt und wir archaisch aussehen, das war bitter. Rammstein haben keine rechte, sondern eine linke Geschichte. Wir haben uns von den Skinheads die Fresse polieren lassen ? im Gegensatz zu all den Herrschaften, die in den Zeitungen bequem diesen hohen moralischen Ton fuhrten und eigentlich ja ihre Arsche nicht ausm Burosessel kriegten.≪

Kruspe, der schon fruh davon traumte, Rockstar zu werden, der den Pink-Floyd-Gitarristen David Gilmour verehrt, Kruspe, der strahlt und die Interaktion mit den Menschen in der Halle genießt ? der eine tiefe, fragende Seele mit sich herumtragt. Moglich, dass dem einen oder anderen Rammsteinfan Mutter zu sentimental ist, das Lied, in dem Kruspe live ungewohnlich sehnsuchtsgeladen die Saiten dehnt. Aber was waren Rammstein ohne Mutter ? Und was waren Rammstein, wenn sie dann auch diese Elegie nicht wieder brechen wurden? Till Lindemann formuliert auf der Buhne in Dallas eine seiner beruhmtesten Liedzeilen um. Statt von der Mutter ist plotzlich von wem die Rede? Von der Mutti. ≫Werf in die Luft die nasse Kette / Und wunsch mir, dass ich eine Mutti hatte.≪ Hat er sie noch alle, der Biberkopf?

Michael Slade, Bestsellerautor, mailt nach dem Konzert in Vancouver an Paul Landers in Anlehnung an H. G. Wells: ≫Ich habe sie alle gesehen, Paul, ich war sogar Zeuge von Presleys Auftritt in der Ed Sullivan Show. Dann die Beatles, dann Pink Floyd, die Rolling Stones, The Clash, The Cramps. Aber was seid ihr bloß? Ihr seid etwas anderes. Europe has arrived. Fur mich war dieser Abend wie mein erster Opernabend damals, als ich per Anhalter quer durch Europa nach Wien gefahren bin. Ihr seid eine kristallklare, wirklich uberwaltigende Erfahrung: Unten ihr funf, die finsteren Morlocks. Und oben Flake: der Eloi!≪

Womoglich ist Till Lindemann, der nur einer von sechs ist bei Rammstein, als Widerspruch-in-Sich immerhin schon ein schoner Hinweis. Auf der Buhne eine Kreatur. Und aber auch ein Mann, der leise und wie geschrumpft im Schatten einer Poolbar eines Hotels in Phoenix sitzt, uber seinen Texten, uber seinen Zeichnungen, und man trinkt da also gegen diese sagenhafte Hitze hubsch Budweiser, und zwar nicht eins, sondern eins nach dem anderen. Sein Blick fallt plotzlich auf einen schmal gebauten Raben, der auf dem Nebentisch in einen Brotkorb schaut. Er kommt nicht mehr los von dem Vogel, starrt, sagt: ≫Kuck. Schon. Ein ganz schlanker Vogel. Die sind hier uberall. Kluge, schlanke Tiere.≪ Zeichnungen auf Buttenpapier hat er dabei, in Tee getaucht, mit feiner Tinte darauf Drachen und pustende Wolken. Dazu Gedichte. Teils ist das Lyrik fur seinen Enkel, den kleinen Fritz. Teils ist es auch Lyrik fur keinen kleinen Fritz dieser Welt.

Aber immer ist dies Lyrik ohne jedes Parfum, glasklares, bitteres, dreistes, sensibles Zeug. Mal werden Lieder fur Rammstein draus, mal nicht. Mal sind es regelrechte Kurzgeschichten. Mal stehen da nur zwei Zeilen, alleine auf einem Blatt, und schon klingt das wie die Gesamtausgabe Rainer Werner Fassbinders.

≫In stillen Nachten weint ein Mann / Weil er sich erinnern kann.≪

Nicht auszudenken, oder? Fassbinder und Lindemann! Gemeinsam marschierend! Lustigste, traurigste Aufsassigkeit! Befahigt zum Abbrand pyrotechnischer Satze und Bilder in dieser elenden, feigen, wehleidigen, verblodeten, zu Tode subventionierten deutschen Formatradio-, Kino- und Fernsehwelt des Jahres 2012.

≫Die sind besessen davon, dass es gut ist .

Till Lindemann, ≫Rockfish Diner≪, Mockingbird Lane, Dallas: ≫Alles Gute in meinem Kopf entsteht auf dem Land. Ich hab eine Wohnung in Berlin, aber manchmal zieht Berlin mich runter. Also lebe ich viel in meinem Dorf, oben, zwischen Schwerin und Wismar. Viele meiner Freunde, die mit uns hier auf Tour sind, leben auch dort. Mein Vater ist schon lange tot. Aber meine Mutter lebt da. Meine Tochter Nele mit ihrem Sohn, dem kleinen Fritz, ist oft da. Wir sind eine große Familie. Ich angle. Ich jage. Ich starre auf den See. Ich schlafe nachts im Wald und horche. Ich hore in die Natur. Sagenhaft, was du nachts im Wald horst. Das ist unbeschreiblich schon. Ich hasse Larm. Ich hasse Geschwatz. Ich setze mich dem aus, das ist dann der reine Masochismus. Und dann muss ich mich davor schutzen. Larm macht irre. Man kommt darin um.≪

Leonard Cohen singt in Anthem : ≫There is a crack in everything / That’s how the light gets in.≪ Rammstein erzahlen von diesem Riss, und so ist das im Theater: Wenn man Gluck hat und man hat einen großen Theaterabend gesehen, dann wird einen dieser Riss noch lange beschaftigen. Dazu braucht es zuerst Inspiration. Man braucht die ruhige Sprache, die Lindemann auf dem Land findet. Man braucht, wie Paul Landers sagt: ≫Wut.≪ Dann, wie Richard Kruspe sagt: ≫Das Team. Nimm einen bei uns raus, und du hast die Band nicht mehr.≪ Das alles zusammen: der großte Kulturexport deutscher Sprache. Katharina Wagner wurde die Band gerne fur Bayreuth gewinnen. Und Oliver Riedel sagt nur: ≫Es musste auch dort bruzzeln, knistern, es mussten auch im Festspielhaus die Funken fliegen. Wir konnen ja nicht nach Bayreuth und da Classic Rock abseiern.≪ Und dann kommen, Abend fur Abend, die Zahlen zum Gemut, die Formeln zur Seele, also die Produktion zur Intuition.

Nicolai Sabottka, Tour- und Produktionsmanager, AT&T Center, San Antonio: ≫Fur Tills brennende Flugel und all das Feuer verwenden wir Lycopodium. Das sind gemahlene Barlappsporen. Ein Naturprodukt. Elf Tonnen war die Jahresernte in China. Davon haben wir vier Tonnen aufgekauft. Die sind nach dem letzten Konzert, morgen in Houston also, weg. Wenn Till das Lycopodium durch eine Flamme schießt, und wir blasen von unten durchs Gitter Luft dazu, da brennts dir die Hosenbeine weg. Ich sag immer: Lyco ist fur alle da! Die Band konnte das billiger machen. Aber die Band will das nicht. Die sind besessen davon, dass es gut ist. Und das sage ich nicht, weil ich fur die arbeite.≪

Diese Produktion kostet insgesamt rund eine halbe Million Euro pro Abend. Sabottka ist dafur verantwortlich, dass die Buhne in Flammen steht, nicht die Halle. Fur so etwas eignet sich besser als jeder andere: ein Westfale. Sabottka ist freundlich, er redet nur das Notigste, dies aber, wie man gleich sehen wird, mit Bedacht. Taglich schlagt seine Stunde nicht um 21 Uhr, wenn die Show beginnt. Sondern um 16 Uhr. Es ist dies immer wieder der heikelste Moment des Tages.

Es erscheinen um Punkt 16 Uhr, in jeder Stadt, in jeder Halle, sechs Marshalls der ortlichen Feuerwehr. Sie bekommen in der leeren Halle die pyrotechnischen Effekte vorgefuhrt. Sie haben schon viel gesehen im Leben und sind trotzdem etwas fassungslos. In Anaheim gibt es schlechte Stimmung bei den Fire Marshalls. Sie beraten sich. Einer sagt leise zu seinem Kollegen: ≫That’s fuckin’ weird.≪ Eine Frage stellen sich bei Rammstein amerikanische Feuerwehrleute wie deutsche Feuilletonisten im Akkord: Durfen die das? In Anaheim beratschlagen funf Feuerwehrmanner, denen eine Feuerwehrfrau vorsteht. Vor allem die Chefin ist ausgesprochen humorlos. Es gibt endlose Diskussionen. Am Ende trollt sich die Feuerwehr. Und Sabottka erzahlt ungeruhrt, mit der Miene eines notlandungserprobten 747-Piloten: ≫Mein Job jetzt gerade war es, der Feuerwehr zu erklaren, dass wir alle Antrage ordnungsgemaß eingereicht haben. Auf dieser Basis und auf der Basis der Vorfuhrung gerade seien wir entschlossen, alle Raketen heute ab 21 Uhr abzufeuern. Gerade eben gab es ein psychologisches Extraproblem: einen weiblichen Fire Marshall. Die Frau war die Chefin der funf mannlichen Fire Marshalls. Keinesfalls durfte sie von mir vor den Kerlen vorgefuhrt werden. Also musste ich ihr das Gefuhl geben, dass sie mit jedem Zweifel im Recht ist, und dass wir diese Zweifel aber schon praventiv ausgeraumt haben. Da es mir gelungen ist, ihr das verstandlich zu machen, wird die Show heute mit allen pyrotechnischen Begleitelementen von 21 Uhr an uber die Buhne gehen.≪ Pause. Dann: ≫Dies ist grundsatzlich mal erfreulich.≪

Unglaublicher Sabottka. Supersabottka. Griechenland retten? Achmadinedschad Bescheid geben? Wir haben seine Nummer.

Funf Wochen tourten Rammstein so durch Kanada und die USA, und diese funf Wochen, sie waren wiederum nur das Finale einer Konzertreise, die bis jetzt eigentlich drei Jahre dauerte. Zwei Programme. Von 2009 an die finstere und von einem Index der verruckten Bundesprufstelle fur jugendgefahrdendes Dingsbums uberschattete Liebe ist fur alle da -Tournee. Seit 2011 dann die Best Of -Tournee. Europa mit Konzerten zum Beispiel in London und Moskau, die beiden denkwurdigen Abende in Paris im Fruhling: Zweimal 17 000 Menschen im legendaren Bercy, die Halle knuppelvoll mit jungen Menschen unten in der Arena und klassisch christine-lagardehaft kostumierten Damen und grau melierten Herren oben auf den Rangen: Kulturvolk, im Programm blatternd, wie in der Comedie-Francaise. Davor Russland, Skandinavien, England, Deutschland. Davor Sudamerika, Mexico City, Monterrey, Massen von Menschen, von denen viele Wochen vorher neben den Stadien ihre Zelte aufschlugen: Rammstein sind ein universales Phanomen, und anders als ein Kunstler wie Gerhard Richter, anders als ein Regisseur wie Wolfgang Petersen mussen sie dabei wesentlich nicht nur auf Bilder und Tone vertrauen, sondern auch auf die Emotionalitat einer in Bilder und Tone kongenial eingewebten deutschen Sprache. Das merken die Leute offenbar, dass es hinter der brachialen Fassade der Musik eine oft erstaunlich leise Lyrik ist, die sie da mitsingen: ≫Doch der Abend wirft ein Tuch aufs Land / Und auf die Wege hinterm Waldesrand.≪

Vor allem die letzten beiden Wochen durch den Suden der USA sind dann eine heikle Choreografie des Alltags: Die Show lauft seit Monaten wie geschmiert. Sie ist fur Musiker und Techniker zur blanken Gewohnheit geworden. Flake Lorenz sagt, da sitzt man mit ihm wegen Flugzeuguberdruss in einem Chevrolet Malibu und fahrt vier Stunden von San Antonio nach Houston: ≫Ich habe Heimweh. Tour ist stumpf. Tour ist nicht Produktion. Tour ist Reproduktion.≪ Heimweh wonach? ≫Nach der Jenny. Meiner Frau. Nach den Kindern. Nach meinem Dorf in Brandenburg. So ne Sachen.≪ Was man in diesen Tagen auch lernt, rund um diese explosiven Konzerte: So sicher diese Band einen Berg von Ruhrung auslost, so wenig konnen die, die diese Ruhrung auslosen, mit der Burde leben, diese Ruhrung ausgelost zu haben. Steht ein Fan plotzlich auf der Straße, im Restaurant, vorm Hotel und starrt einen an: Was tun? Wie soll man, die Zimmerkarte schon in der Hand, vor einem Hotel in Kalifornien, Arizona oder Texas einlosen, was man vor Jahren in einem Lied versprochen hat?

Die Musiker zappeln dazu taglich im Transit: Abflug mit der neunsitzigen Falcon, Ankunft am Flughafen, rein in den Van, raus ausm Van, rein ins Hotel, raus ausm Hotel, rein in die Halle, Show, Aftershowparty, raus aus der Halle. Paul Landers: ≫Der Mensch braucht zwei bis drei Tage, bis er sich an einen Ort gewohnt hat. Wenn du diese Tage nie hast, wirst du irre. Der Korper reist immer der Seele voraus.≪ Flake, der erzahlt, dass er mal eine Strichliste gefuhrt hat, mit Komplimenten amerikanischer Fans vor Hotels. Ganz vorne: ≫You are awesome.≪ Zweiter Platz: ≫You are fuckin’ awesome.≪ In San Antonio wetzt Landers draußen vom River Walk ins ≫Mokara Hotel≪ zuruck, aus einem Supermarkt kommend. Man will wissen, was in seiner Papiertute ist. ≫Warte≪, ruft Landers und verschwindet im Aufzug. Er schickt aus seinem Zimmer dann eine Mail mit Foto. Zu sehen: Rotwein, Knoblauch, Schwarzbrot, Salami. Er schreibt: ≫Nichts Gekochtes, nichts Gebratenes, kein Kellner, keine Menschen. Herrlich. Gruß, Paul.≪

Oliver Riedel, ≫Shorebreak Hotel≪, Huntington Beach: ≫Was ich vermisse? Ruhe. Ich setze mich vor den Konzerten backstage in diese Großraumduschen mit der Akustischen und spiele Flamenco. Gute Akustik. Dabei sammle ich mich selbst ein, sozusagen. Am schlimmsten sind die Hotels und Restaurants. Uberall Drum ’n’ Bass, House, ein einziges Geploppe, Gesirre, Gezwitscher, Geloope. Du kannst durch diese Hotels durchtanzen, vom Zimmer durch den Flur durch den Aufzug durch den Fruhstuckssaal und dann raus durch die Rezeption bis auf die Straße. Dich im Kreis drehen, mit dem Kopf wackeln, in die Hande klatschen, rausgrooven. Das ist Terror.≪

Die Show in San Antonio, es ist die vorletzte, man hockt hinter der Buhne schon wieder in diesem Salat aus Eisen, Kabeln und Requisiten, und plotzlich findet man all dies weniger beeindruckend als vielmehr: ruhrend. Was die rumschleppen. Rein in die Halle. Raus aus der Halle. Kann es die Moglichkeit sein, dass sechs Deutsche in ihren Vierzigern Abend fur Abend diesen Eisenkochtopf auf die Buhne rollen, um den dunnen Mann mit der Hornbrille zuzubereiten? Albern, von hinten betrachtet, diese Requisiten. Die dann ab 21 Uhr aber auf der Buhne im Netz der Inszenierung erstrahlen. Als hatte jemand den Dingen eine Seele eingehaucht. Es dauert an jedem Abend immer nur ein paar Minuten, und man zappelt im Netz dieses Theaters der Lieder. Und dazu gehort eben auch das Lied mit dem Topf. Kannibalismus in Rotenburg, nicht ganz unkomisch, darin dann diese bittergroßen Zeilen: ≫Ein Schrei wird zum Himmel fahren / Schneidet sich durch Engelsscharen / Vom Wolkendach fallt Federfleisch / Auf meine Kindheit mit Gekreisch.≪

≫Wahn ? Verhohnung des Wahns ? Verabschiedung≪

Vancouver Flake Lorenz unternimmt eine Schlachbootfahrt durch das Publikum wahrend das Liedes Haifisch , einem kleinen traurigen Gruß an Bert Brecht: ≫Und der Haifisch, der hat Tranen / Und die laufen vom Gesicht / Doch der Haifisch lebt im Wasser / So die Tranen sieht man nicht.≪

Christoph Schneider, ≫Palomar Hotel≪, Dallas: ≫Wir haben das mit den Interviews und den deutschen Journalisten irgendwann gelassen. Deutsche Journalisten wollen Musiker, die mit ihrer Musik und ihren Texten identisch sind. Deswegen sehen die meisten deutschen Musikjournalisten auch aus wie die Bands, die sie verehren, und die verehrten Bands sehen aus wie die sie verehrenden Musikjournalisten. Das ist eine Ubereinkunft und sicher irgendwie gemutlich. Rammstein aber war immer ein Rollenspiel. Wer sieht schon aus wie Till auf der Buhne? Wir haben jetzt in der Show diesen Einmarsch uber die Kopfe der Leute hinweg, mit den Flaggen, mit den Fackeln. Als geprugelte Hunde kriechen wir in der Mitte der Show wieder uber die Brucke zur Hallenmitte zuruck. Schließlich, am Ende, verabschieden wir uns von dieser Brucke aus vom Publikum. Ein Dreischritt: Wahn ? Verhohnung des Wahns ? Verabschiedung. Deutsche Kritiker sehen da nur: Flaggen und Fackeln. Schon toben die wie die Hausmeister. Das fanden wir irgendwann naturlich auch lustig.≪

Rammsteins letzte Zugabe: Sextourismus, ausgebreitet in dem katapultosen Kracher Pussy, und hier in dem Schlachtruf eines verwahrlosten Deutschen (≫I can’t get laid in Germany≪) auf dem Weg ins Liebesparadies: ≫Schnaps im Kopf / Du holde Braut / Steck Bratwurst in Dein Sauerkraut.≪

Bitte?
Hort man recht?
Sind die bescheuert?

Wer auch hier das russische Sa-um , den Hintersinn, nicht bedenkt, der hat allerdings womoglich schon wieder was verpasst, und sei es halt mitten in Texas.

Alma, 23 , geboren in Mexiko, sitzt mit ihrem Mann John, geboren in Texas, auf der Terrasse der Bar ≫Rita’s on the River≪ in San Antonio. Sie ist auffallend hubsch, trinkt ein Budweiser Light und tragt ein Rammstein-T-Shirt: ≫Ich werde dir nicht meinen echten Namen sagen und auch nicht, wie lange wir gefahren sind, John und ich, um das Konzert heute zu besuchen. Ich bin vor einigen Jahren illegal von Mexiko nach Texas. Sie behandelten mich hier wie Dreck. Andererseits hast du hier eine Chance. Kennst du T. C. Boyles ?America?? Alles darin ist wahr. Rammstein machen, glaube ich, Musik fur Leute, die sich an ihre eigenen Gesetze halten, fur Leute, die kampfen. In Mexiko sind sie so beliebt wie keine zweite Band. Ich liebe es, wenn Till ?Amerika? singt. Es ist da viel Wut und auch viel Komik dabei, oder? Wenn er singt: ?Wir bilden einen lieben Reigen / Die Freiheit spielt auf allen Geigen.? Heute Abend werde ich das Lied besonders laut mitsingen. Mein Dad ist jetzt auch hier. Ich habe ihn jahrelang nicht gesehen. Das hat mir das Herz zerrissen. Wir werden heute Abend alle zusammen zum Konzert gehen. Ich glaube, es wird der schonste Abend meines Lebens. Leider kommen mir jetzt die Tranen. Wir chicas aus Mexiko sind etwas sentimental.≪

Die Crew, das sind uber sechzig Leute, dazu kommen fur jeden Auf- und Abbau 150 Menschen aus der jeweiligen Stadt, die Locals. Jedes Konzert endet gegen 23 Uhr, dann fallen die Locals wie die Eisenfresser uber dieses Metropolis her. Schaut man um 0.30 Uhr in die Halle, ist sie leer. Man denkt an Marion Braschs Ab jetzt ist Ruhe , den Roman uber ihre judische Emigrantenfamilie in der DDR. Es ist eines der ratlosesten und auch deshalb schonsten Bucher seit Langem, ein Ostblues, bitter, komisch, wirklich ziemlich grandios. Christoph Schneider liest es am Pool und ist dabei weit weg. Flake Lorenz hat es zuvor gelesen, ≫wie gefesselt≪. In dem Buch ein Dialog zwischen Marion Braschs Bruder, dem Schriftsteller Thomas Brasch, und Heiner Muller. Heiner Muller also, der den Exilanten Thomas Brasch fragt, wie es sich denn jetzt so im Westen lebe. Und der antwortet: ≫Im Osten waren die Wande aus Beton, im Westen sind sie aus Gummi.≪ Man denkt an Paul Landers und seine Worte uber den Osten und den Westen: Damals war alles eckig, jetzt ist alles olig.

Paulo San Martin, Band- und Produktionsassistent, backstage, Denver Coliseum: ≫Die DDR war solidarisch mit uns Chilenen. Meine Eltern sind mit mir im September 1973 aus Santiago in die DDR geflohen. Da war ich sieben. Pinochet hatte geputscht. Einige aus meiner Familie wurden verschleppt, andere wurden direkt umgebracht. 1978 kam ich in Prenzlauer Berg in die 5. Klasse. Da saß ich plotzlich neben dem Flake. Ich kenne den also seit 34 Jahren. Zusammen hingen wir eigentlich immer in denselben Laden ab: im ?Tacheles? auf der Oranienburger, im ?Eimer? auf der Rosenthaler, naturlich im ?Schonhauser 5?. Ich liebe den Flake, das ist der feinste Freund, den du haben kannst. Ich mach den Job hier nur fur Rammstein. Ich wurde das fur keine andere Band machen. Es ist ein Familiending.≪

Am Ende, nach der Ballade Ohne Dich , stehen die Musiker vor diesen aufgewuhlten Texanern im Toyota Center von Houston. Till Lindemann, der bisher nicht zum Publikum gesprochen hat, er sagt, nach all den Nachten hier in Amerika, nur das hier: ≫Ladies and gentlemen: Rammstein. Thank you.≪

Heike Kramer, Band-Tourmanagerin, backstage, Toyota Center, Houston: ≫Ich war mit vielen Bands unterwegs. Sind Rammstein etwas Besonderes? Absolut. Ich sag dazu aber nix. Nur das hier: Die halten einer Frau die Tur auf. Alles klar?≪

Till Lindemann steht nach der letzten Show in seinem schwarzen Bademantel in den Katakomben herum, ihm gegenuber Richard Kruspe, Lindemann mit einem Bier, Kruspe mit einer Zigarette. Die rechte Hand Lindemanns ist stark geschwollen, die Stirn blutet, das Kajal lauft die Wangen runter. Morgen Mittag geht es zuruck nach Berlin. Einige aus der Band werden sogleich an die Ostsee fahren. Kinder. Frauen. Ruhe. Was plant Flake? ≫Nuschte.≪ Kruspe? Sonnenblumen sind prachtig, sie drehen sich immer zum Licht: Kruspe plant schon wieder Richtung Amerika.

Lindemann wird daheim als Erstes das Buch fur den Enkel zusammenbasteln, er ist wie besessen von dem Ding. Kurz vor Redaktionsschluss schickt er aus Berlin eine Mail mit einem Bild. Darauf, selbst fertig gebunden, ein großes dunkelblaues Bilderbuch, vorne drauf seine Zeichnung vom Kind mit dem Drachen, daneben eine Maus, darunter der Titel des Großvaters Till Lindemann fur den Enkel: ≫Lieber Fritz, nimm meine Hand.≪

Bei Doblin gibt es zu Franz Biberkopf diese Zeilen hier, und sie gehoren sicher zum Besten, was je in deutscher Sprache geschrieben wurde: ≫Wir sehen am Schluß den Mann wieder am Alexanderplatz stehen, sehr verandert, ramponiert, aber doch zurechtgebogen.≪

Ab jetzt ist Ruhe.
Was bleibt?
Ein fadenfeiner Duft nach Schwefel.

Mit Journalisten reden die Musiker ungern oder gar nicht. Der Fotograf Andreas Muhe, (32), und der Leiter der Seite Drei der Suddeutschen Zeitung, Alexander Gorkow, (45), kennen die Band seit Jahren. Erstmals gewahrten die Musiker jetzt einen tiefen Einblick in ihr Leben und ihre Arbeit: Muhe und Gorkow begleiteten Rammstein mehrere Wochen lang auf ihrer Tournee durch die Arenen Kanadas und der USA. Gorkow erinnert sich an ≫viele, viele Stunden mit nachdenklichen, musikalischen und im Kern total aufsassigen Anarchisten≪.