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In funf Taler streckt sich der Ort zwischen den Harzbergen. Etwa 2.000 Einwohner hatte er in meiner Kinderzeit, aber er war kein Dorf. O nein, die Grundner waren beleidigt, wenn man ihren Ort so nannte. Bad Grund war eine der sieben Harzer Bergstadte! Der Herzog von Braunschweig-Luneburg hatte ihnen diesen Status im 16. Jahrhundert verliehen, um Bergleute in den Harz zu locken, dazu jedem Stadtchen ein oder zwei Sonderrechte: Wildemann und Clausthal hatten beispielsweise das Recht, Munzen zu schlagen, Bad Grund hatte das Holzrecht, jeder Einwohner durfte bis ins 19. Jahrhundert kostenlos aus dem Wald holen, was er an Winterholz brauchte … Dieses Recht gab es schon nicht mehr, aber noch immer schleppten die Bergleute, und Forstarbeiter den ganzen Sommer uber Aste, Tannenzapfen, Borke und Stuckenstucke zusammen, sodass sie kein Geld fur Heizung ausgeben mussten. Das Stadtrecht blieb bis in die Nachkriegszeit.
Neben der Kirche stand ein Fachwerkhaus mit der Aufschrift Magistrat (nicht Rathaus ), von dem aus die Angelegenheiten des Stadtchens geregelt wurden. Tief gekrankt waren dann die Grundner, als Bad Grund in der Gebietsreform mit den Kuhdorfern im Vorharz zur Samtgemeinde Gittelde-Bad Grund zusammengeschlossen wurden, und man mit allen Anliegen ins neue Rathaus in Windhausen musste, ausgerechnet nach Windhausen, dem man sich turmhoch uberlegen fuhlte!
Magistrat
Rathaus
Kuhdorfern
Das Harzvorland war fur uns ja auch eine andere Welt, wenn man auch nur uber einen Berg hinubermusste, um es zu erreichen. Die sanften Hugel und flachen Wiesen konnten doch mit unseren Bergen nicht konkurrieren! Ganz genau konnte man sehen, wo der Harz aufhorte. Dort wo das erste Kornfeld sich ausbreitete. Genau dort war auch die Klimascheide. Wenn es oberhalb dieser Grenze schon schneite, regnete es oft unterhalb noch. Im Vorland gab es Haufendorfer, im Harz zog sich jeweils eine Straße die Taler hinaus. Nur vom Markt bis zum Flutdorf war Platz fur eine Parallelstraße. Fur mich waren die funf Taler zwischen den Bergen die Welt und Bad Grund die schonste Stadt im Harz. Durch jedes Tal konnte man hinaufgehen, soweit man Lust hatte, dann einen der Horizontalwege am Berg entlang und im nachsten, ubernachsten oder dritten Tal wieder hinunter. Wie abwechslungsreich waren diese Wege.
Der Eichelberg und Vosshai mit dunklen Tannenwaldern und zwischen Moos und Steinen murmelnden Bachlein, an denen es die leuchtend gelb-schwarzen Feuersalamander gab, der lichte Buchenwald des Gittelder Berges mit dem Postkartenblick auf Ortskern und Kirche, der Rosteberg mit seinem Heidekraut, das Eichelbachtal, in dem im Mai der Ginster zwischen den dunklen Fichten leuchtete. Besonders reizvoll fur uns Kinder war der Iberg. Unter seinem Buchendach gab es im April ein Blutenmeer von Buschwindroschen in Weiß und Gelb und blauen Leberblumchen. Der Seidelbast duftete, und von den rot-blauen Kuckucksblumen (Fruhlingsplatterbsen) konnten wir ganze Strauße pflucken. Vorsichtig mussten wir dabei sein, wenn wir vom Weg abgingen; denn jede laubbedeckte Kuhle konnte ein Iberger Loch sein, eine im Kalkstock ausgewaschene Karsthohle oder einer der alten Schachte vom fruheren Eisenerzabbau. Aber die Gefahr machte die Sache gerade spannend. Auch die vielen Tollkirschenbusche waren gefahrlich, aber jedes Grundner Kind wusste, dass die glanzend schwarzen Fruchte ein gefahrliches Gift enthielten.
Iberger Loch
Eine besondere Attraktion war das große Loch , ein alter Schacht, der mit ein paar Stangen abgesichert war. Ringsherum gab es keinen Stein mehr, weil alle nach und nach von Kindern hineingeworfen waren. Man zahlte dann, wie lange es dauerte, bis er unten aufschlug und staunte immer wieder, wie tief es doch war …
große Loch
Nur mit Eintrittsgeld und Fuhrer zu begehen war die Tropfsteinhohle, in der man nicht nur aus den Tropfsteinen allerlei Fabelwesen erkennen konnte, sondern auch, wenn man ganz leise war, die Zwerge im Berg klopfen horen konnte. Der Zwergkonig Hubich wohnte am Rande des Ibergs mit seinem Volk unter zwei hohen Kalkfelsen, dem großen und dem kleinen Hubichenstein. Auf dem großen war ein Adler befestigt, und mancher junge Bursche aus Bad Grund hat es geschafft, zum Adler hinaufzuklettern. Meine Vettern Hans und Kurt haben sich dabei sogar fotografiert. Der kleine war mit Treppen besteigbar gemacht, und man hatte von oben einen Blick uber die Baumwipfel und die Taler des Ortes. Ich bin gern hinaufgestiegen, aber die hohen Stufen waren fur meine kleinen Beine eine große Anstrengung, und Mutter musste mir hinterher immer die Kniekehlen mit Fichtenspiritus einreiben, wenn ich nachts Schmerzen kriegte.
Noch interessanter als der Aufstieg war die Hohle unter dem Hubichenstein. Sie ging nur ein Stuck unter den Fels hinein und fuhrte im Bogen wieder ins Tageslicht. Ganz klein musste man sich machen, das letzte Stuck auf allen Vieren krabbeln und der Bogen in der Mitte war stockdunkel. Das war naturlich viel spannender als die ausgebaute Tropfsteinhohle.
Ganz oben auf dem Iberg gab es den Albert-Turm. Dorthin machte die ganze Familie mit Tanten, Vettern und Cousinen immer den Osterausflug. Es ging durch den bluhenden Iberg hinauf, vorbei an Senken mit altem Schnee bis dorthin, wo der ganze Waldboden mit den weißen Blutensternen des Barlauchs bedeckt war. In der kleinen Waldgaststatte zu Fußen des Turms kehrten wir ein, und Vetter Hans dichtete ins Gastebuch: Wir sitzen hier mit vollem Bauch, und draußen stinkt's nach Knobelauch . Auch die Gletschertopfe mussten wir immer wieder besehen, zwei kreisrunde, etwa zwei Meter tief in den Fels geschliffene Locher. Ich weiß noch heute nicht, ob sie wirklich von der Eiszeit herruhrten.
Wir sitzen hier mit vollem Bauch, und draußen stinkt's nach Knobelauch
Am Fuße des Ibergs lag das einzige unbebaute Tal, das Teufelstal. Es soll seinen Namen nicht vom Teufel ableiten, sondern vom bergmannischen Abtaufen , einen Schacht graben. Es sah auch gar nicht teuflisch aus, sondern sehr lieblich mit sanften Wiesenhangen zwischen Laubwaldern auf den Bergen zu beiden Seiten. Die Wiesen wurden jedes Jahr zweimal gemaht und kaum gedungt. Darum gab es dort eine bunte Fulle von Blumen: Storchschnabel, Stiefmutterchen, Hahnenfuß, Klee, Lichtnelken, Hornklee, Veilchen und viele andere. In der Mitte floss ein Bachlein, schlangelte sich unter Heckenrosen und anderen Buschen hindurch, wand sich durch morastige Stellen, wo man Sumpfdotterblumen, Schlangenknoterich und Brunnenkresse finden konnte, schaumte uber Steine und breitete sich zu kleinen Tumpeln. Oben am verlandeten Kesselteich setzten wir kurze, dicke Stockchen ins Wasser als Schiffchen und trieben sie mit langen Stocken durch alle Hindernisse bis zum Ende der Wiesen. Gewonnen hatte der, dessen Schiffchen zuerst unten war. Manchmal war es schwierig, ein festhangendes Schiffchen zu erreichen, und wir sind oft mit nassen Fußen nach Haus gekommen.
Abtaufen
Schiffchen
Nicht ganz so reizvoll war es, zwischen Gittelder und Konigsberg zum Horstkamp hinaufzugehen zu den Wiesen, die sich jenseits der Hohe ins Harzvorland absenkten, aber auf diesen Wiesen gab es im Fruhjahr eine solche Menge Schlusselblumen, dass die Grundner sie waschkorbeweise zum Verkauf holten, und etwas spater bluhte eine gleiche Menge an Margeriten. Im Winter aber war hier eine herrlich sanfte, lange Skiabfahrt, die meinen angstlichen Versuchen angemessen war.
Die Berge, die uns direkt vor der Haustur lagen, waren der Schurfberg mit alten Buchen und einem kleinen Wasserfall und der Roland mit Fichtenwald. Wie oft haben wir hier Moosgartchen oder Buden gebaut, uns mit Sandpudding und Grasgemuse auf Blattertellern gegenseitig bewirtet, sind durch einen Windbruch gekrabbelt oder haben Verstecken gespielt. Bei gutem Wetter brauchten wir kein Spielzeug, obgleich wir auch einen Ball fur die Ballprobe an der Hauswand und einen Kreisel hatten. Aber das Material fur das beliebte Spiel Klipp war leicht herzustellen: Ein kurzes, dickes Stockchen wurde auf beiden Seiten angespitzt, und der Klipp war fertig. Er wurde uber eine Rille im Lehmboden gelegt und mit einem langeren Stock hochgeschleudert. Eine komplizierte Spielregel gab es, wie er gefangen, geworfen, zum Hochspringen geklippt und in der Luft weitergeschlagen werden musste. Gegenuber von unserem Haus war Platz genug fur solch ein Spiel.
Ballprobe
Klipp