Werner Becker (Psychoanalytiker)

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Werner Fred Klaus Becker (* 1. Februar 1927 in Berlin ; † 27. August 1980 , ebd.) war ein deutscher Psychoanalytiker und fruher Aktivist der Homophilenbewegung .

Leben und beruflicher Werdegang

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Werner Fred Klaus Becker wurde am 1. Februar 1927 als Sohn des Spandauer Stadt-Oberinspektors Emil Becker und dessen Frau Emma geboren. [1] Er besuchte das Spandauer Kant-Gymnasium und das Potsdamer Victoria-Gymnasium, das er im Fruhjahr 1945 mit dem Notabitur verließ.

Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg ließ sich Werner Becker zunachst zum Dolmetscher in Englisch, Franzosisch, Russisch und Spanisch ausbilden und wurde fur die alliierten Besatzungsbehorden in Berlin tatig. 1946 nahm er dann aber ein Studium der Medizin an der Berliner Universitat Unter den Linden auf, wo er unter anderem Vorlesungen des Philosophen und Psychologen Eduard Spranger besuchte. 1949 wechselte Becker an die Freie Universitat , die kurz zuvor im amerikanischen Sektor Berlins gegrundet worden war. Im selben Jahr begann er, an seiner Dissertation zu schreiben, und promovierte schließlich 1952. Beckers Dissertation uber die ?Atiologie und Differentialdiagnose der Homosexualitat“ lehnte sich in der Form der Datenerhebung stark an den deutschen Sexualwissenschaftler Magnus Hirschfeld und dessen ?Psychobiologischen Fragebogen“ an und war in der damaligen akademischen Sphare Deutschlands ein mutiges Novum, [2] wurde letztlich von den beiden Gutachtern aber nur mit ?rite“ (befriedigend) ? der niedrigsten Note bei einer bundesdeutschen Doktorprufung ? bewertet. [3] Nach Ablauf seines Pflicht-Assistenzdienstes an der Chirurgischen Universitatsklinik in West-Berlin bemuhte sich Becker um Arbeitsmoglichkeiten in Hamburg, doch waren diese Bemuhungen nicht von Erfolg gekront. Er absolvierte seine Facharztausbildung an der psychiatrischen Waldhaus-Klinik in Berlin-Nikolaussee und wechselte im Herbst 1954 an das Fachkrankenhaus fur Psychiatrie und Neurologie ?Wahrendorffsche Krankenanstalten“ in Ilten bei Hannover. [4]

Mitte 1956 verließ Becker Deutschland und ging nach Kanada, wo er einen ?Post-Graduate Diploma Course in Psychiatry“ an der Universitat in Montreal absolvierte. Er unterzog sich einer therapeutischen Analyse bei Henry Kravitz (1919?2000), und bei seiner Ruckkehr nach Deutschland bewarb er sich um 1960 um die Zulassung zur Psychoanalytischen Ausbildung am Berliner Psychoanalytischen Institut (BPI) . Becker machte eine weitere Lehranalyse bei Kate Drager (1900?1979), wurde 1962 Mitglied der Deutschen Psychoanalytischen Vereinigung und trat ein Jahr spater auch der Deutschen Gesellschaft fur Psychotherapie und Tiefenpsychologie bei. 1966 wurde er Leiter des Psychoanalytischen Instituts in Berlin, und in den 1970er Jahren betrieb er eine eigene psychoanalytische Praxis in Westend. Im Zuge seiner Tatigkeiten konnte er als einer der ersten deutschen Psychoanalytiker das Gedankengut Melanie Kleins in Deutschland einfuhren, mit dem er in Kanada in Beruhrung gekommen war. [5] Veroffentlichen konnte er aber offenbar eher wenig. [6]

Zu einem bisher nicht naher bekannten Zeitpunkt ging Werner Becker eine Lebenspartnerschaft mit einer Kollegin, Hildegard Enß (1926?2017), ein. Die Beziehung blieb kinderlos. Werner Becker starb am 27. August 1980 im Alter von 53 Jahren in Berlin-Charlottenburg. [7]

Engagement in der Homophilenbewegung

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Um 1950 galt Werner Becker als einer der ambitioniertesten und profiliertesten ?Kampfer“ gegen den § 175 StGB , der mannliche Homosexualitat unter Strafe stellte, und die rechtliche Ungleichstellung der Homosexuellen in Deutschland. Er stand im Austausch mit dem fruheren Mitarbeiter Magnus Hirschfelds, Kurt Hiller (1885?1972), der Becker als ?jungen Feuerkopf“ [8] charakterisierte und sehr schatzte, korrespondierte aber auch mit etlichen anderen und vor allem alteren ?Aktivisten“, die schon in der Sexualreformbewegung vor 1933 tatig geworden waren, unter ihnen etwa Hendrik Cornelius Rogge (1877?1953) in Agypten, Eric Thorsell (1898?1980) in Schweden, ?Rolf“ (eigentlich Karl Meier, 1897?1974) in der Schweiz, Hermann Weber (1882?1955) in Frankfurt am Main und andere. Unter Verwendung des Pseudonyms ?Akantha“ publizierte Becker um 1950 auch in der Schweizer Zeitschrift fur Homosexuelle Der Kreis sowie ihrem danischen ?Pendant“ Vennen (Der Freund). [9]

In Berlin arbeitete er zunachst mit Willi Pamperin (1902?1966) zusammen, der um 1947 im Ostteil der Stadt in Anlehnung an das alte Wissenschaftlich-humanitare Komitee (WhK) Magnus Hirschfelds das sogenannte Humanitare Komitee gegrundet hatte. [10] Es entwickelte jedoch keine nennenswerte Bedeutung. Als sich im Sommer 1949 das zweite Berliner WhK ? jetzt in West-Berlin ? etablierte, gehorte Werner Becker mit zu dem eher kleinen Kreis von Interessenten und Besuchern. Die Mitgliederzahl durfte im niedrigen zweistelligen Bereich gelegen haben. Becker ging indes fruh auf Distanz zu seinen Mitstreitern, insbesondere nach der sexualwissenschaftlichen Tagung, die der Arzt Hans Giese im April 1950 in Frankfurt am Main abhielt und zu der er Becker eingeladen hatte. Becker unterstellte Giese spater Phlegma und Eitelkeit, und er bezeichnete ihn als feige. [11] Inhaltliche Differenzen zwischen den beiden ergaben sich daraus, dass Giese sich nur fur eine Aufhebung des § 175 StGB einsetzen wollte, wobei der von den Nationalsozialisten eingefuhrte § 175a StGB, der die sogenannten ?qualifizierten“ Falle wie sexuelle Kontakte mit Minderjahrigen behandelte, erhalten bleiben sollte. Anders als Giese trat Becker fur eine geschlechtsneutrale Schutzaltersgrenze von 16 Jahren ? fur Madchen wie fur Jungen ? ein. [12]

Personliche Lebensumstande um 1950

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In der Nachfolgeorganisation des zweiten Berliner WhK, die 1951 unter der Bezeichnung ?Gesellschaft fur Reform des Sexualstrafrechts e.V.“ (GfRdS) gegrundet wurde und bis 1960 bestand, engagierte sich Werner Becker nicht mehr. [13] Die Grunde hierfur sind nicht nur darin zu suchen, dass die GfRdS fur Becker in erster Linie ein ?Geselligkeitsverein“ ohne weitergehenden politischen Anspruch war.

Um 1950 hatte Becker auch mit erheblichen personlichen Schwierigkeiten zu kampfen. Schon seine Dissertation hatte er unter dem Eindruck eines ?tragischen Doppel-Suicids“ zweier Homosexueller konzipiert. [2] Als er Anfang 1949 von einem Freund verlassen wurde, nahm Becker die Trennung so schwer, dass seine Eltern und besten Freunde zeitweise befurchteten, er konne sich das Leben nehmen. [14] 1950 erhielt Becker plotzlich eine Vorladung zur Polizei, denn sein ehemaliger Freund, der nun eine Beziehung mit einer Frau eingegangen war, hatte ausgesagt, dass es zwischen ihm und Becker zu ?unerlaubten Handlungen“ gekommen sei. [15] Den Hintergrund fur die Aussage bildete ein Erpressungsversuch an Becker.

1950 lernte Werner Becker einen weiteren jungen Mann kennen, den Ost-Berliner Georg Blattner (1931?2007), der sich offen als Gegner der SED zu erkennen gab. 1953 trafen sich die beiden wieder. Blattner war in der Zwischenzeit in die Volkspolizei gezwungen worden, wurde aber bald aus ihr ?ausgeschlossen“ und hatte in der Zwischenzeit eine Haftstrafe verbußt. Am 17. Juni 1953 demonstrierte er am Brandenburger Tor gegen die stalinistische Politik der DDR und fluchtete anschließend nach West-Berlin. Wenig spater fand er Arbeit bei einem Bauern im Raum Olpe ( Sauerland ). Da er indes mit Becker unter dessen Berliner Postfachadresse korrespondierte und der Bauer misstrauisch wurde, verdachtigte dieser seinen neuen Hilfsarbeiter als ?ostzonalen Spitzel“. Bei einer Visite entwendete die ortliche Polizei einen Brief Beckers und gewann so den Eindruck, beide Manner ? Becker und Blattner ? seien ?Hundertfunfundsiebziger“. Offenbar hatten sie einander erotisches Bildmaterial zugeschickt. Gegen Blattner wurde umgehend Haftbefehl wegen ?Verdunkelungsgefahr“ erlassen. Er musste spater eine Haftstrafe von sieben Monaten verbußen. [16]

Auch gegen Werner Becker wurde ein Strafverfahren eingeleitet, uber dessen Ausgang indes heute nichts bekannt ist. Vermutlich stand aber Beckers Wegzug aus Deutschland 1956 in unmittelbarem Zusammenhang mit eben diesem Verfahren.

Eine europaische Stromung

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Auffallend ist die zeitliche Koinzidenz der Ereignisse um Werner Becker mit anderen polizeilichen und gerichtlichen Maßnahmen wegen vermeintlich pornografischen Materials im europaischen Ausland. [17] So wurde etwa im Fruhjahr 1953 in Paris der homosexuelle Fotograf Karel Egermeier (1903?1991) festgenommen, wobei alle seine Fotos und Negative beschlagnahmt wurden. Mitte 1953 behauptete der Amsterdamer Fotograf Tan Hin Kong (1912?2003), er habe Probleme mit der niederlandischen Polizei. Seine gesamte fotografische Sammlung sei konfisziert worden. Anfang 1955 wurden dann die Kopenhagener Buroraume von Axel Lundahl Madsen (1915?2011) und Eigil Eskildsen (1922?1995), zwei Verlegern und Betreibern von Fotofirmen, die mit Aktfotografien junger Manner handelten und spater unter dem gemeinsamen Namen Axgil bekannt wurden, durchsucht. Die Durchsuchung und Beschlagnahmung etlicher Zeitschriften, Bilder, Adressverzeichnisse und samtlicher Korrespondenz bei Lundahl Madsen und Eskildsen war der Auftakt einer Maßnahme, die als ?große Pornografie-Affare“ in die Geschichte Danemarks einging. [18] Insgesamt sollen 1955 uber 1000 Personen in die danische ?große Pornografie-Affare“ hineingezogen worden sein. Es kam zu mehr als 80 Verurteilungen und zu etlichen Selbstmorden. Nicht zuletzt fur die danische homosexuelle Emanzipationsbewegung bedeutete die Affare einen schmerzhaften Ruckschlag. [19] Im Herbst 1955 wurde schließlich der Hamburger Verleger der Zeitschrift Der Ring Gerhard Prescha (1909?1996) wegen ?Verbreitung jugendgefahrdenden Schrifttums“ erstmals zu einer Geldstrafe verurteilt. Bis 1959 wurde Prescha insgesamt acht Mal wegen Verbreitung sogenannter unzuchtiger und vermeintlich jugendgefahrdender Schriften zu Geld- und Gefangnisstrafen verurteilt. [20]

  • Raimund Wolfert (2018): ?Ich gewinne mehr und mehr den Eindruck, dass es unmoglich ist, eine seriose Organisation mit vorwiegend oder ausschließlich HS-Mitgliedern aufzubauen.“ Werner Becker (1927?1980) und sein Beitrag zur homosexuellen Emanzipation um 1950 , in: Mitteilungen der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft Nr. 60 (Juni 2018), S. 35?56.
  • Raimund Wolfert (2018): [Auf Norwegisch] Ingen venn av de sma skritts politikk. Berlin-legen Werner Becker og hans forbindelser til den tidlige danske homobevegelsen , in: Bibliotek for Læger (Jg. 210), Nr. 3, S. 196?219.
  • Raimund Wolfert (2021): Ohne Wenn und Aber: Werner Becker (1927?1980) als zentraler Protagonist der West-Berliner Homosexuellenbewegung um 1950 , in: Semester-Journal (des Karl-Abraham-Instituts) , Nr. 36 (Wintersemester 2020/21), S. 20?35.
  • Raimund Wolfert (2023): In memoriam Magnus Hirschfeld. Vom Bemuhen, nach 1945 an Traditionen von vor 1933 anzuknupfen und einen diskreditierten Namen zuruck in den Diskurs zu bringen. Das Beispiel Werner Becker , in: Luzifer-Amor. Zeitschrift zur Geschichte der Psychoanalyse (Jg. 36), Nr. 72, S. 105?134.

Einzelnachweise

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  1. Wolfert 2023, S. 108.
  2. a b Becker, Werner F.: Uber die Atiologie und Differentialdiagnose der Homosexualitat. Eine Fragebogen-Untersuchung an 312 Personen. Inaugural-Dissertation zur Erlangung des Doktor-Grades der medizinischen Fakultat der Freien Universitat Berlin, 1951.
  3. Wolfert 2023, S. 119?120.
  4. Wolfert 2023, S. 120.
  5. Wolfert 2023, S. 126.
  6. Bekannt sind heute nur zwei Texte Beckers, die in Kanada bzw. nach seiner Ruckkehr nach Deutschland entstanden: Becker, W. F. (1959): On the Significance of Unconscious Factors in the Physician in Assessing Human Behaviour. Mimeographed text in: Libarary of the McGill University, Montreal, Juni 1959; Becker, Werner F. (1966): Uber die Ausbildung zum Psychoanalytiker. Gedanken zur Notwendigkeit des ?Erkenne dich selbst“ , in: Die Berliner Arztekammer: Offizielles Mitteilungsblatt der Arztekammer Berlin, Publikationsorgan der Akademie fur Arztliche Fortbildung in der Arztekammer Berlin 3 (6) [Sonderdruck, 3 Seiten].
  7. Wolfert 2023, S. 129.
  8. Kurt Hiller in einem Brief an Hans Giese, 9.9.1949. Vgl. Wolfert 2018, S. 35.
  9. So etwa: Akantha [d. i. Becker, Werner] (1949): Berlin tanzt! In: Der Kreis 17 (9), S. 8?10, 22; Neue wissenschaftliche Forschungsergebnisse uber die Entstehung der Homosexualitat. In: Der Kreis 19 (11), S. 5?8; Om homoseksualitetens opstaen (Artikel in zwei Teilen). In: Vennen 1 (1), S. 145?146, und 165?167; (1950): Natur eller unatur? In: Vennen 2, S. 55?57.
  10. Vgl. Raimund Wolfert (2015): Homosexuellenpolitik in der jungen Bundesrepublik. Kurt Hiller, Hans Giese und das Frankfurter Wissenschaftlich-humanitare Komitee (hirschfeld lectures, 8) . Gottingen: Wallstein, S. 16?19.
  11. Wolfert 2023, S. 113?114.
  12. Wolfert 2023, S. 114.
  13. Zur GfRdS siehe vor allem: Andreas Pretzel (2002): Berlin ? ?Vorposten im Kampf fur die Gleichberechtigung der Homoeroten“. Die Geschichte der Gesellschaft fur Reform des Sexualrechts e.V. 1948?1960 (Hefte des Schwulen Museums, 3) . Berlin: Verlag rosa Winkel.
  14. Wolfert 2023, S. 115.
  15. Wolfert 2023, S. 122.
  16. Wolfert 2023, S. 122?124.
  17. Vgl. Raimund Wolfert (2021): V on Batavia (Jakarta) nach Berlin. Tan Hin Kong ? ein umtriebiger Fotograf der fruhen europaischen ?Homophilenbewegung“ , in: Mitteilungen der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft Nr. 67, S. 46?63.
  18. Vgl. Raimund Wolfert (2009): ?Gegen Einsamkeit und 'Einsiedelei'“. Die Geschichte der Internationalen Homophilen Welt-Organisation . Hamburg: Mannerschwarm, S. 22?30.
  19. Raimund Wolfert (2010): Eine Vereinigung von ?Klemmschwestern“? Zur Geschichte der Internationalen Homophilen Welt-Organisation (IHWO) . In: Zeitschrift fur Sexualforschung . Band 23, Nr. 1, S. 1?22.
  20. Raimund Wolfert (2020): Gerhard Prescha (1909?1996), ein Verleger der deutschen ?Homophilenbewegung“ . In: Mitteilungen der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft Nr. 65/66, S. 59?69.