Ein
verwaistes Werk
ist ein
urheberrechtlich
geschutztes Werk, dessen Rechteinhaber auch nach einer sorgfaltigen Suche nicht festgestellt werden kann. Im weiteren Sinne gelten Werke als verwaist, wenn zwar die Rechteinhaber bekannt sind, aber nicht kontaktiert werden konnen. Ein Beispiel fur verwaiste Werke sind historische Fotografien, die wahrend eines Krieges oder einer Forschungsexpedition aufgenommen wurden, aber den Namen des Fotografen nicht angeben.
Derartige Werke sind fur potentielle Verwerter problematisch, da eine Nutzung, die die Zustimmung des Urhebers oder der Rechteinhaber voraussetzt, nicht moglich ist. Hinzu kommt, dass die Recherche nach dem Rechteinhaber eines verwaisten Werkes nicht selten teurer ist, als die Nutzungsrechte daran zu erwerben. Diese Problematik wird durch die
Digitalisierung
gedruckter Werke (z. B.
Google Books
) verscharft, da Vertrage zwischen dem Autor und anderen Rechteinhabern (d. h. Verleger) nicht immer festlegen, wem die digitalen Nutzungsrechte gehoren.
Ein verwandtes Phanomen, aber kein verwaistes Werk im urheberrechtlichen Sinne ist
Abandonware
?
Software
, deren Rechteinhaber zwar moglicherweise auffindbar waren, die sich aber nicht mehr um das Produkt kummern.
Verlassliche Angaben uber die Anzahl verwaister Werke sind kaum verfugbar, obwohl Bibliotheken, Archive und Museen eine sehr große Anzahl davon beherbergen. Eine im Jahr 2009 veroffentlichte Studie schatzte, dass alle staatlichen Institutionen des
Vereinigten Konigreichs
uber insgesamt rund 25 Millionen verwaiste Werke verfugen.
[1]
Die hohe Anzahl verwaister Werke resultiert gemaß
Neil Netanel
aus zwei Faktoren:
[2]
- urheberrechtliche Schutzfristen wurden im Laufe der Geschichte deutlich verlangert. Das erste amerikanische Urheberrechtsgesetz von 1790 schutzte Werke nur 14 Jahre lang (nach Erstveroffentlichung), und fur weitere 14 Jahre, falls der Urheber noch am Leben ist und eine Verlangerung beantragt. Fur zwischen 1831 und 1909 veroffentlichte Werke galt der Schutz fur 28 Jahre ab Erstveroffentlichung, mit einer moglichen Erneuerung des Schutzes fur 14 Jahre. Dagegen lauft etwa die heutige amerikanische (und deutsche)
Regelschutzfrist
erst 70 Jahre nach dem Tod des Urhebers ab. Mit kurzen Schutzfristen wurden Werke fruher in die
Gemeinfreiheit
ubergehen ? und der Zeitraum, innerhalb welchem unbekannte Personen die Rechte innehaben, wurde kurzer.
- der urheberrechtliche Schutz wird automatisch vergeben, ohne dass der Urheber (oder der Inhaber der Nutzungsrechte) ihn beantragen oder erneuern muss. Dies wurde eine amtliche Dokumentation bedingen, was wiederum die Recherche nach den aktuellen Rechteinhabern wesentlich erleichtert oder gar uberflussig macht. In den USA ist die Registration eines Werkes heute nur noch notwendig, um vor einem Gericht wegen eines urheberrechtlichen Anspruches zu klagen.
Verwaiste Werke entstehen nicht nur durch eine unzureichende Dokumentation und Archivierung von Nutzungsvertragen und urheberrechtlich bedeutenden Angaben. Nach der deutschen Rechtslage kann eine
juristische Person
Inhaber des Nutzungsrechts sein, nach den Gesetzen der Vereinigten Staaten kann eine juristische Person sogar der Urheber eines Werkes sein. Wird diese juristische Person aufgelost, erschwert dies regelmaßig die Suche nach dem Rechteinhaber. Nach dem Tod einer naturlichen Person geht das Urheberrecht grundsatzlich auf die Erben uber, was unter Umstanden die Tatigkeit eines
Erbenermittlers
erforderlich macht.
Die Rechte an verwaisten Werken konnen sogar bei jener Person liegen, welche das Werk nutzen mochte, jedoch wird aufgrund der fehlenden Dokumentation jemand anderes als Rechteinhaber vermutet ? die Recherche nach den Urhebern wurde dann ins Leere fuhren. Die Nutzung des Werks ware dann, wie in den anderen Fallen, unmoglich.
Auch wenn einem in Verlagspublikationen der Hinweis, man habe trotz aller Sorgfalt Nutzungsrechtinhaber nicht ermitteln konnen und verpflichte sich zur Zahlung des ublichen Entgelts, nicht selten begegnet, stellt zum Beispiel eine Nutzung ohne Zustimmung der Rechteinhaber in Deutschland grundsatzlich eine
Urheberrechtsverletzung
dar. Lediglich die offentliche Zuganglichmachung und die Vervielfaltigung sind nach dem seit 1. Januar 2014 geltenden
§§ 61 ff
Urheberrechtsgesetzes (UrhG) unter bestimmten Voraussetzungen zulassig. Insbesondere muss der Nutzung eine sorgfaltige und erfolglose Suche nach dem Rechteinhaber vorausgehen. Die Quellen einer sorgfaltigen Suche sind in einer Anlage zu
§ 61a
UrhG fur die verschiedenen Werkarten und Schutzgegenstande gesetzlich festgelegt. Nicht jedermann darf verwaiste Werke in dieser Weise nutzen: Die Privilegierung gilt nur fur bestimmte offentliche Einrichtungen wie Archive, Bibliotheken und Bildungseinrichtungen sowie hinsichtlich ihrer eigenen Bestande fur offentlich-rechtliche Rundfunkanstalten (
§ 61c
UrhG).
Anders als in den
USA
, wo man ? ausgehend von einer Diskussionsrunde des
Copyright Office
[3]
? seit 2005 heftig uber
orphan works
debattiert, wurde das Problem, obwohl es erhebliche praktische Relevanz hat, in Europa in Erwartung einer EU-Richtlinie national zunachst kaum diskutiert. In den USA ist aber eine gesetzgeberische Losung des Problems im Kongress jedoch bereits zweimal gescheitert: Die beiden Entwurfe des
Public Domain Enhancement Act
hatten jeden Urheber dazu angehalten, fur jedes seiner Werke eine symbolische Steuer zu entrichten, oder andernfalls auf den urheberrechtlichen Schutz zu verzichten. Das dafur notwendige Steuerregister hatte die Suche nach dem jeweiligen Urheber entscheidend erleichtert.
Am 4. Juni 2008 unterzeichneten europaische Reprasentanten von Museen, Bibliotheken, Archiven und Urheberrechtsbesitzer ein
Memorandum of Understanding
[4]
zu verwaisten Werken. Es soll den archivierenden Kulturinstituten bei der Digitalisierung von verwaisten Werken aller Art helfen, um sie fur die Offentlichkeit verfugbar zu machen.
[5]
2009 veroffentlichten die Strategic Content Alliance und der Collections Trust einen Report
[6]
uber die Bedeutung und Reichweite von verwaisten Werken fur Webservices.
Im Oktober 2012 gab die Europaische Union die
Richtlinie 2012/28/EU
zu Verwaisten Werken heraus.
[7]
Die Direktive bezieht sich auf verwaiste Werke, welche in der
EU
erstellt wurden (Bucher, Journale, Magazine und Zeitungen),
Kinematografie
und audio-visuelle Werke,
Audioaufnahmen
und eingebettete Werke. Unter gewissen Bedingungen kann die Direktive auch auf nicht-veroffentlichte Werke angewendet werden (wie Briefe und Manuskripte).
[8]
In Folge legte die EU-Kommission ein europaweites Register auf, die
Datenbank verwaister Werke
(Orphan Works Database)
,
[7]
die vom
Amt der Europaischen Union fur geistiges Eigentum
(EUIPO) gefuhrt wird.
[9]
Das deutsche
Gesetz zur Nutzung verwaister und vergriffener Werke und einer weiteren Anderungen des Urheberrechtsgesetzes
vom 1. Oktober 2013
[10]
setzt die
Richtlinie 2012/28/EU (Verwaiste-Werke-Richtlinie)
in den ab 1. Januar 2014 geltenden
§§ 61 bis 61c
UrhG und den ab 1. April 2014 geltenden
§§ 13d und 13e
des
Urheberrechtswahrnehmungsgesetzes
um. Das
Deutsche Patent- und Markenamt
(DPMA) fuhrt seit 2014 das
Register vergriffener Werke
, das mit der Verwertungsfrage in Zusammenhang steht.
In Osterreich wurde die EU-Richtlinie mit der
UrhG
-Novelle 2014 (
BGBl. I Nr. 11/2015
) umgesetzt und ist seither im
§ 56e
UrhG geregelt.
[11]
In
Kanada
besteht seit 1997 eine
gesetzliche Lizenz
hinsichtlich verwaister Werke.
[12]
Diese muss ? unter Darlegung umfassender Recherchen zur Rechteklarung ? von einer Behorde beantragt werden; die anfallenden Lizenzgebuhren werden dann von dieser treuhanderisch verwaltet.
In den meisten Landern ist die Gewahrung urheberrechtlichen Schutzes nicht an Formlichkeiten, wie insbesondere die behordliche Registrierung des Werkes, gebunden. Von diesem Gedanken ist etwa auch die
Berner Konvention von 1886
getragen. Die Einfuhrung einer Registrationspflicht, wie sie unter anderem von
Lawrence Lessig
und
Zoe Lofgren
gefordert wird, wurde das Problem verwaister Werke vermeiden.
Eine andere Losung stellt eine
gesetzliche Lizenz
oder eine
Zwangslizenzierung
dar. Denkbar sind auch
erweiterte kollektive Lizenzen
, mittels derer Verwertungsgesellschaften auch Rechte an verwaisten Werken wahrnehmen konnen. In Landern mit bewusst offen gehaltenen Ausnahmeregelungen im Stile der US-amerikanischen
Fair-Use-Doktrin
konnen bestimmte Nutzungen verwaister Werke zulassig sein. Die ? im deutschen Recht nicht existierende ? Fair-Use-Regelung des US-Rechts erlaubt beispielsweise die Nutzung aller Werke fur die Zwecke
der Kritik, des Kommentars, der Berichterstattung, des Schulunterrichts, der universitaren Bildung und der Forschung
,
[13]
wobei jeder einzelne Gebrauch nach gewissen Kriterien gepruft werden muss. Zu beachten ist allerdings, dass beim (US-amerikanischen) Fair Use keine konkreten, praxisnahen Normen existieren. So basiert Fair Use vor allem auf
Fallrecht
, was im deutschen
Rechtskreis
unublich ist.
Abzugrenzen ist der Begriff des Verwaisens vom
anonymen Werk
, welches absichtlich ohne eine Autorenangabe publiziert wurde. Bei anonymen Werken ubt in aller Regel der Verleger oder der Herausgeber die Rechte des eigentlichen Urhebers aus. Ein anonymes Werk kann jedoch auch zu einem verwaisten Werk werden, zum Beispiel durch die Insolvenz des Verlegers.
Nicht als verwaistes Werk gilt ein
amtliches Werk
, das keinem Schutz mehr unterliegt, weil es die Behorde nicht mehr gibt und sie auch keinen Rechtsnachfolger hat.
Die spezifische Variante eines Verwaisten Werkes fur
Software
und
Computerspiele
ist die sogenannte
Abandonware
(
englisch
fur ?Verlassene, aufgegebene (Soft)ware“).
[14]
Inwieweit das in
Richtlinie 2012/28/EU (Verwaiste-Werke-Richtlinie)
genannte ?Audiovisuelle Werk“ auch auf Software und Computerspiele bezogen werden kann, wird diskutiert.
[15]
- Die
Tragik der Anti-Allmende
droht, wenn bei verwaisten Werken mit vielen Rechteinhabern auch nur einer nicht mehr auffindbar ist, weil fur eine Anderung oder eine Veraußerung der Nutzungsrechte die Zustimmung aller Beteiligten erforderlich ist.
- Provenienzforschung
, zu den Voreigentumern von Kulturgut
- Oliver Talhoff:
Die Nutzung verwaister und vergriffener Werke im Urheberrecht
= Band 144 von Dusseldorfer Rechtswissenschaftliche Schriften, zugleich Dissertation Heinrich-Heine-Universitat Dusseldorf 2016. Nomos 2016,
ISBN 978-3-8487-3426-9
- Jan-Michael Grages:
Verwaiste Werke. Lizenzierung in Abwesenheit des Rechtsinhabers.
Mohr Siebeck, Tubingen 2013,
ISBN 978-3-16-152797-5
.
- Frederik Moller:
Verwaiste Werke. Eine Analyse aus internationaler Perspektive.
(=
Schriftenreihe des Archivs fur Urheber- und Medienrecht
, Band 272) Nomos, Baden-Baden 2013,
ISBN 978-3-8487-0941-0
.
- Gerald Spindler
, Jorn Heckmann:
Retrodigitalisierung verwaister Printpublikationen. Die Nutzungsmoglichkeiten von ?orphan works“ de lege lata und ferenda.
In: GRUR International 2008, S. 271?284.
- Anna Vuopala:
Assessment of the Orphan works issue and Costs for Rights Clearance
(PDF; 285 kB), European Commission, DG Information Society and Media, Unit E4 Access to Information, Mai 2010.
- ↑
JISC Collections Trust: An assessment of the scope of ‘Orphan Works’ and its impact on the delivery of services to the public.
https://sca.jiscinvolve.org/wp/files/2009/06/sca_colltrust_orphan_works_v1-final.pdf
- ↑
Neil Netanel (2008): Copyright's Paradox.
ISBN 978-0-19-513762-0
- ↑
http://www.copyright.gov/orphan/
- ↑
Digital Libraries Initiative - High Level Expert Group (HLEG) | Europa - Information Society.
Ec.europa.eu,
abgerufen am 20. April 2013
.
- ↑
Report on Digital Preservation, Orphan Works and Out-of-Print Works, Selected Implementation Issues.
European Commission, 18. April 2007,
abgerufen am 9. Juni 2007
.
- ↑
In from the Cold: An assessment of the scope of 'Orphan Works' and its impact on the delivery of services to the public
. JISC Collections Trust, April 2009,
S.
9
(
sca.JISCinvolve.org
(
Memento
des
Originals
vom 18. November 2009 im
Internet Archive
) [abgerufen am 21. Mai 2019]).
- ↑
a
b
Verwaiste Werke.
In:
ec.europa.eu >
Der EU-Binnenmarkt > Urheberrechte und verwandte Schutzrechte
.
Europaische Kommission,
abgerufen am 20. April 2013
.
- ↑
Memo - Orphan works - FAQ.
In:
europa.eu.
European Commission,
abgerufen am 27. Mai 2014
.
- ↑
Datenbank verwaister Werke.
euipo.europa.eu (abgerufen 18. Oktober 2016).
- ↑
Gesetz zur Nutzung verwaister und vergriffener Werke und einer weiteren Anderung des Urheberrechtsgesetzes
Text, Anderungen, Begrundungen und Vorgangsablauf
- ↑
Urheberrechtsgesetz-Novelle 2014 im BGBl veroffentlicht.
Christian Handig, Osterreichischen Vereinigung fur gewerblichen Rechtsschutz und Urheberrecht, oev.or.at, 20. Januar 2015.
- ↑
Copyright Act (R.S.C. 1985, c. C-42), S. 77.
- ↑
17. Titel des
U.S. Code
, § 107. Siehe
https://www.law.cornell.edu/uscode/text/17/107
- ↑
Henrike Maier:
Games as Cultural Heritage Copyright Challenges for Preserving (Orphan) Video Games in the EU.
(PDF) In:
JIPITEC.
Humboldt-Universitat
zu Berlin, 2015,
S. 127
,
abgerufen am 18. Januar 2016
: ?
The
Computerspielemuseum
in Berlin estimates that around 50 % of their collection consists of at least partial orphans.
“
- ↑
Henrike Maier:
Games as Cultural Heritage Copyright Challenges for Preserving (Orphan) Video Games in the EU.
(PDF) In:
JIPITEC.
Humboldt-Universitat
zu Berlin, 2015,
S. 120
,
abgerufen am 18. Januar 2016
.