Verwaistes Werk

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Ein verwaistes Werk: Ein Foto, welches die Widerstandskampferin Simone Segouin zeigt. Wer die Aufnahme gemacht hatte, ist nicht bekannt, und seit dem Tod des Fotografen sind moglicherweise noch keine 70 Jahre verstrichen (siehe Regelschutzfrist ). Dieses Bild kann jedoch problemlos genutzt werden, da es von der US-Regierung erstellt wurde.

Ein verwaistes Werk ist ein urheberrechtlich geschutztes Werk, dessen Rechteinhaber auch nach einer sorgfaltigen Suche nicht festgestellt werden kann. Im weiteren Sinne gelten Werke als verwaist, wenn zwar die Rechteinhaber bekannt sind, aber nicht kontaktiert werden konnen. Ein Beispiel fur verwaiste Werke sind historische Fotografien, die wahrend eines Krieges oder einer Forschungsexpedition aufgenommen wurden, aber den Namen des Fotografen nicht angeben.

Derartige Werke sind fur potentielle Verwerter problematisch, da eine Nutzung, die die Zustimmung des Urhebers oder der Rechteinhaber voraussetzt, nicht moglich ist. Hinzu kommt, dass die Recherche nach dem Rechteinhaber eines verwaisten Werkes nicht selten teurer ist, als die Nutzungsrechte daran zu erwerben. Diese Problematik wird durch die Digitalisierung gedruckter Werke (z. B. Google Books ) verscharft, da Vertrage zwischen dem Autor und anderen Rechteinhabern (d. h. Verleger) nicht immer festlegen, wem die digitalen Nutzungsrechte gehoren.

Ein verwandtes Phanomen, aber kein verwaistes Werk im urheberrechtlichen Sinne ist Abandonware ? Software , deren Rechteinhaber zwar moglicherweise auffindbar waren, die sich aber nicht mehr um das Produkt kummern.

Ausmaß und Ursachen verwaister Werke [ Bearbeiten | Quelltext bearbeiten ]

Verlassliche Angaben uber die Anzahl verwaister Werke sind kaum verfugbar, obwohl Bibliotheken, Archive und Museen eine sehr große Anzahl davon beherbergen. Eine im Jahr 2009 veroffentlichte Studie schatzte, dass alle staatlichen Institutionen des Vereinigten Konigreichs uber insgesamt rund 25 Millionen verwaiste Werke verfugen. [1]

Die hohe Anzahl verwaister Werke resultiert gemaß Neil Netanel aus zwei Faktoren: [2]

  • urheberrechtliche Schutzfristen wurden im Laufe der Geschichte deutlich verlangert. Das erste amerikanische Urheberrechtsgesetz von 1790 schutzte Werke nur 14 Jahre lang (nach Erstveroffentlichung), und fur weitere 14 Jahre, falls der Urheber noch am Leben ist und eine Verlangerung beantragt. Fur zwischen 1831 und 1909 veroffentlichte Werke galt der Schutz fur 28 Jahre ab Erstveroffentlichung, mit einer moglichen Erneuerung des Schutzes fur 14 Jahre. Dagegen lauft etwa die heutige amerikanische (und deutsche) Regelschutzfrist erst 70 Jahre nach dem Tod des Urhebers ab. Mit kurzen Schutzfristen wurden Werke fruher in die Gemeinfreiheit ubergehen ? und der Zeitraum, innerhalb welchem unbekannte Personen die Rechte innehaben, wurde kurzer.
  • der urheberrechtliche Schutz wird automatisch vergeben, ohne dass der Urheber (oder der Inhaber der Nutzungsrechte) ihn beantragen oder erneuern muss. Dies wurde eine amtliche Dokumentation bedingen, was wiederum die Recherche nach den aktuellen Rechteinhabern wesentlich erleichtert oder gar uberflussig macht. In den USA ist die Registration eines Werkes heute nur noch notwendig, um vor einem Gericht wegen eines urheberrechtlichen Anspruches zu klagen.

Verwaiste Werke entstehen nicht nur durch eine unzureichende Dokumentation und Archivierung von Nutzungsvertragen und urheberrechtlich bedeutenden Angaben. Nach der deutschen Rechtslage kann eine juristische Person Inhaber des Nutzungsrechts sein, nach den Gesetzen der Vereinigten Staaten kann eine juristische Person sogar der Urheber eines Werkes sein. Wird diese juristische Person aufgelost, erschwert dies regelmaßig die Suche nach dem Rechteinhaber. Nach dem Tod einer naturlichen Person geht das Urheberrecht grundsatzlich auf die Erben uber, was unter Umstanden die Tatigkeit eines Erbenermittlers erforderlich macht.

Die Rechte an verwaisten Werken konnen sogar bei jener Person liegen, welche das Werk nutzen mochte, jedoch wird aufgrund der fehlenden Dokumentation jemand anderes als Rechteinhaber vermutet ? die Recherche nach den Urhebern wurde dann ins Leere fuhren. Die Nutzung des Werks ware dann, wie in den anderen Fallen, unmoglich.

Problemlage und Entwicklung der Rechtsmaterie [ Bearbeiten | Quelltext bearbeiten ]

Auch wenn einem in Verlagspublikationen der Hinweis, man habe trotz aller Sorgfalt Nutzungsrechtinhaber nicht ermitteln konnen und verpflichte sich zur Zahlung des ublichen Entgelts, nicht selten begegnet, stellt zum Beispiel eine Nutzung ohne Zustimmung der Rechteinhaber in Deutschland grundsatzlich eine Urheberrechtsverletzung dar. Lediglich die offentliche Zuganglichmachung und die Vervielfaltigung sind nach dem seit 1. Januar 2014 geltenden §§ 61 ff Urheberrechtsgesetzes (UrhG) unter bestimmten Voraussetzungen zulassig. Insbesondere muss der Nutzung eine sorgfaltige und erfolglose Suche nach dem Rechteinhaber vorausgehen. Die Quellen einer sorgfaltigen Suche sind in einer Anlage zu § 61a  UrhG fur die verschiedenen Werkarten und Schutzgegenstande gesetzlich festgelegt. Nicht jedermann darf verwaiste Werke in dieser Weise nutzen: Die Privilegierung gilt nur fur bestimmte offentliche Einrichtungen wie Archive, Bibliotheken und Bildungseinrichtungen sowie hinsichtlich ihrer eigenen Bestande fur offentlich-rechtliche Rundfunkanstalten ( § 61c  UrhG).

Anders als in den USA , wo man ? ausgehend von einer Diskussionsrunde des Copyright Office   [3]  ? seit 2005 heftig uber orphan works debattiert, wurde das Problem, obwohl es erhebliche praktische Relevanz hat, in Europa in Erwartung einer EU-Richtlinie national zunachst kaum diskutiert. In den USA ist aber eine gesetzgeberische Losung des Problems im Kongress jedoch bereits zweimal gescheitert: Die beiden Entwurfe des Public Domain Enhancement Act hatten jeden Urheber dazu angehalten, fur jedes seiner Werke eine symbolische Steuer zu entrichten, oder andernfalls auf den urheberrechtlichen Schutz zu verzichten. Das dafur notwendige Steuerregister hatte die Suche nach dem jeweiligen Urheber entscheidend erleichtert.

Am 4. Juni 2008 unterzeichneten europaische Reprasentanten von Museen, Bibliotheken, Archiven und Urheberrechtsbesitzer ein Memorandum of Understanding [4] zu verwaisten Werken. Es soll den archivierenden Kulturinstituten bei der Digitalisierung von verwaisten Werken aller Art helfen, um sie fur die Offentlichkeit verfugbar zu machen. [5] 2009 veroffentlichten die Strategic Content Alliance und der Collections Trust einen Report [6] uber die Bedeutung und Reichweite von verwaisten Werken fur Webservices.

Im Oktober 2012 gab die Europaische Union die Richtlinie 2012/28/EU zu Verwaisten Werken heraus. [7] Die Direktive bezieht sich auf verwaiste Werke, welche in der EU erstellt wurden (Bucher, Journale, Magazine und Zeitungen), Kinematografie und audio-visuelle Werke, Audioaufnahmen und eingebettete Werke. Unter gewissen Bedingungen kann die Direktive auch auf nicht-veroffentlichte Werke angewendet werden (wie Briefe und Manuskripte). [8] In Folge legte die EU-Kommission ein europaweites Register auf, die Datenbank verwaister Werke (Orphan Works Database) , [7] die vom Amt der Europaischen Union fur geistiges Eigentum  (EUIPO) gefuhrt wird. [9]

Das deutsche Gesetz zur Nutzung verwaister und vergriffener Werke und einer weiteren Anderungen des Urheberrechtsgesetzes vom 1. Oktober 2013 [10] setzt die Richtlinie 2012/28/EU (Verwaiste-Werke-Richtlinie) in den ab 1. Januar 2014 geltenden §§ 61 bis 61c  UrhG und den ab 1. April 2014 geltenden §§ 13d und 13e des Urheberrechtswahrnehmungsgesetzes um. Das Deutsche Patent- und Markenamt  (DPMA) fuhrt seit 2014 das Register vergriffener Werke , das mit der Verwertungsfrage in Zusammenhang steht.

Osterreich [ Bearbeiten | Quelltext bearbeiten ]

In Osterreich wurde die EU-Richtlinie mit der UrhG -Novelle 2014 ( BGBl. I Nr. 11/2015 ) umgesetzt und ist seither im § 56e  UrhG geregelt. [11]

Kanada [ Bearbeiten | Quelltext bearbeiten ]

In Kanada besteht seit 1997 eine gesetzliche Lizenz hinsichtlich verwaister Werke. [12] Diese muss ? unter Darlegung umfassender Recherchen zur Rechteklarung ? von einer Behorde beantragt werden; die anfallenden Lizenzgebuhren werden dann von dieser treuhanderisch verwaltet.

Losungsmoglichkeiten [ Bearbeiten | Quelltext bearbeiten ]

In den meisten Landern ist die Gewahrung urheberrechtlichen Schutzes nicht an Formlichkeiten, wie insbesondere die behordliche Registrierung des Werkes, gebunden. Von diesem Gedanken ist etwa auch die Berner Konvention von 1886 getragen. Die Einfuhrung einer Registrationspflicht, wie sie unter anderem von Lawrence Lessig und Zoe Lofgren gefordert wird, wurde das Problem verwaister Werke vermeiden.

Eine andere Losung stellt eine gesetzliche Lizenz oder eine Zwangslizenzierung dar. Denkbar sind auch erweiterte kollektive Lizenzen , mittels derer Verwertungsgesellschaften auch Rechte an verwaisten Werken wahrnehmen konnen. In Landern mit bewusst offen gehaltenen Ausnahmeregelungen im Stile der US-amerikanischen Fair-Use-Doktrin konnen bestimmte Nutzungen verwaister Werke zulassig sein. Die ? im deutschen Recht nicht existierende ? Fair-Use-Regelung des US-Rechts erlaubt beispielsweise die Nutzung aller Werke fur die Zwecke der Kritik, des Kommentars, der Berichterstattung, des Schulunterrichts, der universitaren Bildung und der Forschung , [13] wobei jeder einzelne Gebrauch nach gewissen Kriterien gepruft werden muss. Zu beachten ist allerdings, dass beim (US-amerikanischen) Fair Use keine konkreten, praxisnahen Normen existieren. So basiert Fair Use vor allem auf Fallrecht , was im deutschen Rechtskreis unublich ist.

Abgrenzung und verwandte Falle [ Bearbeiten | Quelltext bearbeiten ]

Abzugrenzen ist der Begriff des Verwaisens vom anonymen Werk , welches absichtlich ohne eine Autorenangabe publiziert wurde. Bei anonymen Werken ubt in aller Regel der Verleger oder der Herausgeber die Rechte des eigentlichen Urhebers aus. Ein anonymes Werk kann jedoch auch zu einem verwaisten Werk werden, zum Beispiel durch die Insolvenz des Verlegers.

Nicht als verwaistes Werk gilt ein amtliches Werk , das keinem Schutz mehr unterliegt, weil es die Behorde nicht mehr gibt und sie auch keinen Rechtsnachfolger hat.

Die spezifische Variante eines Verwaisten Werkes fur Software und Computerspiele ist die sogenannte Abandonware ( englisch fur ?Verlassene, aufgegebene (Soft)ware“). [14] Inwieweit das in Richtlinie 2012/28/EU (Verwaiste-Werke-Richtlinie) genannte ?Audiovisuelle Werk“ auch auf Software und Computerspiele bezogen werden kann, wird diskutiert. [15]

Siehe auch [ Bearbeiten | Quelltext bearbeiten ]

  • Die Tragik der Anti-Allmende droht, wenn bei verwaisten Werken mit vielen Rechteinhabern auch nur einer nicht mehr auffindbar ist, weil fur eine Anderung oder eine Veraußerung der Nutzungsrechte die Zustimmung aller Beteiligten erforderlich ist.
  • Provenienzforschung , zu den Voreigentumern von Kulturgut

Literatur [ Bearbeiten | Quelltext bearbeiten ]

  • Oliver Talhoff: Die Nutzung verwaister und vergriffener Werke im Urheberrecht = Band 144 von Dusseldorfer Rechtswissenschaftliche Schriften, zugleich Dissertation Heinrich-Heine-Universitat Dusseldorf 2016. Nomos 2016, ISBN 978-3-8487-3426-9
  • Jan-Michael Grages: Verwaiste Werke. Lizenzierung in Abwesenheit des Rechtsinhabers. Mohr Siebeck, Tubingen 2013, ISBN 978-3-16-152797-5 .
  • Frederik Moller: Verwaiste Werke. Eine Analyse aus internationaler Perspektive. (= Schriftenreihe des Archivs fur Urheber- und Medienrecht , Band 272) Nomos, Baden-Baden 2013, ISBN 978-3-8487-0941-0 .
  • Gerald Spindler , Jorn Heckmann: Retrodigitalisierung verwaister Printpublikationen. Die Nutzungsmoglichkeiten von ?orphan works“ de lege lata und ferenda. In: GRUR International 2008, S. 271?284.
  • Anna Vuopala: Assessment of the Orphan works issue and Costs for Rights Clearance (PDF; 285 kB), European Commission, DG Information Society and Media, Unit E4 Access to Information, Mai 2010.

Weblinks [ Bearbeiten | Quelltext bearbeiten ]

Einzelnachweise [ Bearbeiten | Quelltext bearbeiten ]

  1. JISC Collections Trust: An assessment of the scope of ‘Orphan Works’ and its impact on the delivery of services to the public. https://sca.jiscinvolve.org/wp/files/2009/06/sca_colltrust_orphan_works_v1-final.pdf
  2. Neil Netanel (2008): Copyright's Paradox. ISBN 978-0-19-513762-0
  3. http://www.copyright.gov/orphan/
  4. Digital Libraries Initiative - High Level Expert Group (HLEG) | Europa - Information Society. Ec.europa.eu, abgerufen am 20. April 2013 .
  5. Report on Digital Preservation, Orphan Works and Out-of-Print Works, Selected Implementation Issues. European Commission, 18. April 2007, abgerufen am 9. Juni 2007 .
  6. In from the Cold: An assessment of the scope of 'Orphan Works' and its impact on the delivery of services to the public . JISC Collections Trust, April 2009, S.   9 ( sca.JISCinvolve.org ( Memento des Originals vom 18. November 2009 im Internet Archive ) [abgerufen am 21. Mai 2019]).
  7. a b Verwaiste Werke. In: ec.europa.eu > Der EU-Binnenmarkt > Urheberrechte und verwandte Schutzrechte . Europaische Kommission, abgerufen am 20. April 2013 .
  8. Memo - Orphan works - FAQ. In: europa.eu. European Commission, abgerufen am 27. Mai 2014 .
  9. Datenbank verwaister Werke. euipo.europa.eu (abgerufen 18. Oktober 2016).
  10. Gesetz zur Nutzung verwaister und vergriffener Werke und einer weiteren Anderung des Urheberrechtsgesetzes Text, Anderungen, Begrundungen und Vorgangsablauf
  11. Urheberrechtsgesetz-Novelle 2014 im BGBl veroffentlicht. Christian Handig, Osterreichischen Vereinigung fur gewerblichen Rechtsschutz und Urheberrecht, oev.or.at, 20. Januar 2015.
  12. Copyright Act (R.S.C. 1985, c. C-42), S. 77.
  13. 17. Titel des U.S. Code , § 107. Siehe https://www.law.cornell.edu/uscode/text/17/107
  14. Henrike Maier: Games as Cultural Heritage Copyright Challenges for Preserving (Orphan) Video Games in the EU. (PDF) In: JIPITEC. Humboldt-Universitat zu Berlin, 2015, S. 127 , abgerufen am 18. Januar 2016 : ? The Computerspielemuseum in Berlin estimates that around 50 % of their collection consists of at least partial orphans.
  15. Henrike Maier: Games as Cultural Heritage Copyright Challenges for Preserving (Orphan) Video Games in the EU. (PDF) In: JIPITEC. Humboldt-Universitat zu Berlin, 2015, S. 120 , abgerufen am 18. Januar 2016 .