Unter
Turntablism
versteht man die Manipulation von
Schallplatten
mit einem
Plattenspieler
durch einen
DJ
, so dass die Tone der Schallplatte in einem vollig neuen Kontext zusammengesetzt werden bzw. der Plattenspieler selbst zur Erzeugung neuer Tone dient. Gepragt wurde dieser Begriff 1995 von
DJ Babu
von den
Beat Junkies
aus
Los Angeles
. Vor allem US-amerikanische
Rap
- und
Hip-Hop
-Musiker entwickelten ab den 1970er Jahren eine Reihe von Techniken, die elementarer Bestandteil der entsprechenden
Musik-Genres
wurden. Eine der bekanntesten ist das 1975 erfundene
Scratching
bzw. Scratchen.
Der Turntablism hat auch Eingang in verschiedene andere Musikstile gefunden. Die Entstehungsgeschichte ist eng mit der Plattenspieler-Modellreihe
Technics SL-1200
(ab 1972) verbunden, die sich durch
konstruktive
Besonderheiten besonders fur diese Anwendung eignet und bis heute produziert wird.
Bereits auf dem Festival ?Neue Musik Berlin 1930“ experimentierte
Paul Hindemith
mit Schallplatten mit von ihm eigens dafur zusammengemischten Eigenaufnahmen.
[1]
[2]
Blieb dies zunachst ein Einzelfall, so wurden in den spaten 1940er-Jahren von weiteren Musikern Plattenspieler als
Musikinstrumente
verwendet.
Kunstler und Komponisten wie
Marcel Duchamp
,
John Cage
oder
Edgar Varese
und besonders die Vertreter der
Musique concrete
experimentierten mit Plattenspielern.
Turntablism ist eine Weiterentwicklung und Verfeinerung der im
Hip-Hop
seit der Erfindung durch Musiker wie
Kool DJ Herc
,
Grandmaster Flash & the Furious Five
,
Afrika Bambaataa
und
Grandwizard Theodore
bekannten Techniken.
Im Wesentlichen haben sich zwei Spezialgebiete im Turntablism entwickelt:
- Das
Scratching
, das sich auf alle Techniken, die mit einer
Schallplatte
zu bewerkstelligen sind, bezieht, und
- das
Beatjuggling
, die rhythmische Ineinanderreihung von zwei Schallplatten.
Diese Bereiche wurden von vielen Kunstlern vorangetrieben, von denen vor allem die kalifornische Formation ISP (Invisibl Skratch Piklz/ Mitglieder u. a.: D-Styles,
DJ Qbert
, Flare, MixMasterMike, Shortkut, Yogafrog) als einer der bedeutendsten Motoren der Szene, wenn nicht sogar als die wichtigste treibende Kraft, zu nennen ware. Sie entwickelten verschiedenartige Techniken und beeinflussten die ?junge“ (Scratching-)Szene enorm und tiefgreifend.
Zu den Meistern des
Beatjuggling
gehoren z. B.
The X-Ecutioners
(Roc Raida, Rob Swift, Total Eclipse, Mista Sinista)
Bedeutende Turntablism-Crews der heutigen Zeit sind Ned Hoddings, Birdy Nam Nam, C2C, Lordz of Fitness und viele Weitere. Hauptsachlich inspiriert durch diese Skratchmusiker entwickelt sich das Genre immer mehr zur innovativen Musikalitat und dem Plattenspieler als wirklichem Musikinstrument, was im Kontrast zu der oftmals ?unmusikalischen“ und technisierten Battleszene steht. Neuere Entwicklungen (wie z. B. die mp3-Kompatibilitat von Plattenspielern, Effektgerate, Loopstationen etc.) erlauben es, die ?Beschrankungen“ des analogen Plattenspielers durch das oben Genannte zu umgehen. Allerdings scheiden sich daruber die Geister vieler Turntablisten: einige gelten als Verfechter des Vinyls und des Analogen, andere sind der Digitalisierung gegenuber offen gesinnt und wiederum andere versuchen, diese beiden Seiten in Einklang zu bringen. Allgemein lasst sich attestieren, dass die ?Scratchindustrie“ und zahlreiche Kunstler durch diese Innovationen geringere Gewinne erzielen.
Nennenswerte Platten dieser Entwicklungen sind ?Scetchbook“ von Ricci Rucker & Mike Boogie, ?
Phantazmagorea
“ von
D-Styles
, das ?
Birdy Nam Nam
“ Album der gleichnamigen Crew und ?
Table Manners
“ von
Noisy Stylus
sowie ?
Wave Twisters
“ von DJ Qbert.
Abseits des Hip-Hop werden Turntables heute vor allem in der
improvisierten
und
experimentellen Musik
verwendet. Bekannte Vertreter dieser Richtung sind
Otomo Yoshihide
,
Christian Marclay
,
eRikm
,
dieb13
, das
Institut fur Feinmotorik
und
Philip Jeck
.
Eine Schnittstelle zwischen der klassischen Notation und dem Turntablism wurde durch die S-Notation geschaffen. Durch diese Notation ist es moglich, alle Bewegungsablaufe, die am Plattenspieler und Mixer getatigt werden, aufzuzeichnen, um z. B. mit anderen ?klassischen“ Instrumenten zusammenzuspielen.
- Kodwo Eshun
:
Heller als die Sonne: Abenteuer in der Sonic Fiction.
Berlin: ID Verlag 1999.
ISBN 3-89408-085-X
- Ralf Niemczyk, Torsten Schmidt:
Das DJ Handbuch.
Zweite Auflage. Koln: Kiepenheuer & Witsch 2000. (= KiWi 573).
ISBN 3-462-02909-6
- Ulf Poschardt
:
DJ Culture. Diskjockeys und Popkultur.
Uberarbeitete und erweiterte Neuausgabe. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch 1997.
ISBN 3-499-60227-X
- Christoph Hein:
Der Turntable als Musikinstrument.
In:
PopScriptum 7 ? Musik und Maschine
, Herausgegeben vom Forschungszentrum Populare Musik der Humboldt-Universitat zu Berlin.
Volltext
- Felix Klopotek
:
How They Do It. Free Jazz, Improvisation und Niemandsmusik.
Ventil Verlag 2002,
ISBN 3930559757
- Sebastian Krekow:
Das neue HipHop Lexikon.
Verlag Schwarzkopf und Schwarzkopf 2004,
ISBN 3896024671
- ↑
Ralph Kogelheide:
Jenseits einer Reihe ?tonender Punkte“. Kompositorische Auseinandersetzung mit Schallaufzeichnung, 1900-1930
. Selbstverlag, Hamburg 2017,
ISBN 978-3-7450-4876-6
.
- ↑
Martin Elste
:
Hindemiths Versuche ?grammophonplatteneigener Stucke“ im Kontext einer Ideengeschichte der Mechanischen Musik im 20. Jahrhundert.
In: Marion Saxer (Hrsg.):
Spiel (mit) der Maschine. Musikalische Medienpraxis in der Fruhzeit von Phonographie, Selbstspielklavier, Film und Radio.
transcript Verlag, Bielefeld 2016,
ISBN 978-3-8376-3036-7
,
S.
347–366
.