Gedenkblatt zur Abstimmung uber die Bundesverfassung vom 19. April 1874
Die
Totalrevision der Schweizer Bundesverfassung 1874
war das Thema einer
Volksabstimmung
in der
Schweiz
. Sie fand am 19. April 1874 statt und betraf die geplante Totalrevision der seit 1848 bestehenden
Bundesverfassung
. Nachdem ein zentralistischer Verfassungsentwurf
zwei Jahre zuvor
knapp am Widerstand von
Katholisch-Konservativen
und Foderalisten gescheitert war, wurde ein neuer Entwurf erarbeitet, der einige der Kritikpunkte berucksichtigte und nun die Zustimmung der Foderalisten fand. Die 1874 angenommene Verfassung hatte bis 1999 Bestand und wirkt in ihren Grundzugen bis heute nach.
Am 12. Mai 1872 war ein vom
Parlament
ausgearbeiteter
Entwurf fur eine neue Verfassung
am
Volks- und Standemehr
gescheitert. Nicht nur die
Katholisch-Konservativen
hatten ihn abgelehnt, sondern auch uberwiegend aus der
Romandie
stammende
Foderalisten
, die sich gegen den zu stark ausgepragten
Zentralismus
zur Wehr gesetzt hatten. Das relativ knappe Abstimmungsergebnis (50,51 % Ablehnung) bewog die Revisionsbefurworter dazu, die Arbeiten an einer neuen Verfassung umgehend wieder aufzunehmen. Das Ergebnis der
Nationalratswahlen 1872
starkte ihre Position. Bereits in der ersten Sitzung des neu gewahlten
Nationalrats
stand die Verfassungsrevision zur Debatte. Eine von 80 Nationalraten unterzeichnete und im Dezember 1872 von beiden Parlamentskammern mit deutlicher Mehrheit uberwiesene
Motion
forderte den
Bundesrat
auf, unverzuglich mit den Vorbereitungen zu beginnen.
[1]
Um die Krafte zu bundeln und im Volk fruhzeitig vermehrten Ruckhalt fur eine Revision zu gewinnen, grundeten besonders reformfreudige
Freisinnige
im Februar 1873 den
Schweizerischen Volksverein
, einen Vorlaufer der
FDP
.
[2]
Der am 4. Juli 1873 vom Bundesrat prasentierte Revisionsentwurf kam den Foderalisten entgegen, indem er die Bundeskompetenzen in den Bereichen Armee, Rechtsvereinheitlichung und Schule gegenuber der Vorlage von 1872 zuruckschraubte. So sollte sich die Zustandigkeit des Bundes vorerst auf die Gesetzgebung uber die personliche Handlungsfahigkeit, das
Obligationenrecht
, die Handels- und Wechselfreiheit sowie das
Betreibungs- und Konkursrecht
beschranken. Angesichts des weiterhin erbittert gefuhrten
Kulturkampfs
stellte der Entwurf
religionspolitische
Aspekte in den Mittelpunkt. Mithilfe
konfessioneller Ausnahmeartikel
sollte der Machtanspruch der
Romisch-katholischen Kirche
in die Schranken gewiesen werden. Dazu gehorten ein Verbot des
Jesuitenordens
, das Verbot der Errichtung oder Wiedererrichtung von
Klostern
sowie das Verbot der Einrichtung neuer
Bistumer
in der Schweiz ohne ausdruckliche Genehmigung des Bundes. Ausserdem sollte Angehorigen des geistlichen Standes die Wahl in den Nationalrat verwehrt werden.
[1]
Beide Rate wahlten eine Revisionskommission, wobei jene des Nationalrats eindeutig die Fuhrungsrolle ubernahm. In den Beratungen setzte sich ein Kompromiss durch, wonach dem Bund das Gesetzgebungsrecht in vorgegebenen Teilbereichen uberlassen werden sollte; hingegen sollten Teile des Zivilrechts, das Strafrecht und die Strafprozessordnungen weiterhin in die Kompetenz der
Kantone
fallen. Ahnlich wie 1872 sollte das Militarwesen Sache des Bundes sein, allerdings sollten die Kantone ihre Truppen beibehalten durfen. Als Zugestandnis an Konservative und
Demokraten
hielten die Rate am Ubergang von einer reprasentativen zu einer
halbdirekten Demokratie
fest und bestatigten den bereits 1872 gefallten Beschluss,
fakultative Referenden
einzufuhren. Mit Kompromissen gelang es, die massgebenden foderalistischen Freisinnigen und Liberalen der Romandie fur das Projekt zu gewinnen. Die strategische Losung lautete dabei
Il nous faut les Welsches!
(?Wir brauchen die
Welschen
!“)
[1]
In allen Bereichen, die den Kulturkampf tangierten, traten samtliche reformbereiten Krafte geeint auf und gingen teilweise sogar noch weiter als der Bundesrat. So sollte dem Bund und den Kantonen erlaubt werden, gegen Eingriffe kirchlicher Behorden in die Rechte der Burger und des Staates ≪die geeigneten Massnahmen≫ treffen zu konnen. Ebenfalls gegen die Katholisch-Konservativen gerichtet war eine Bestimmung im Schulartikel, wonach der Primarschulunterricht obligatorisch und kostenlos sein musse sowie von Angehorigen aller Bekenntnisse ohne Beeintrachtigung ihrer Glaubens- und Gewissensfreiheit besucht werden durfe. In der Schlussabstimmung nahm der Nationalrat die Revision mit 103 zu 20 Stimmen an, der
Standerat
mit 25 zu 14 Stimmen; samtliche Neinstimmen kamen von den Konservativen.
[1]
Im Wesentlichen umfasste der Verfassungsentwurf folgende Neuerungen:
[1]
Im Abstimmungskampf widerspiegelten sich die neuen Mehrheitsverhaltnisse im Parlament zugunsten einer Revision. Die Foderalisten konnten mit den Kompromissen bezuglich eingeschrankter Zentralisierung leben und standen auch entschlossen hinter den kulturkampferischen Verscharfungen. Entsprechend stellten sich nur noch die Katholisch-Konservativen gegen die Verfassungsrevision. Sie verurteilten die Angriffe auf die Souveranitat der Kantone, die Glaubigen und die Kirche. Demgegenuber priesen die Befurworter die Neuerungen als demokratischen Fortschritt, wodurch der Zusammenhalt und der Friede im Land gefordert wurden. Eine klare Mehrheit der Abstimmenden nahm die Vorlage an. Zum Teil deutlich lehnten uberwiegend katholisch-konservative Kantone die neue Verfassung ab. Im Vergleich zu 1872 wechselten die Kantone
Appenzell Ausserrhoden
,
Genf
,
Graubunden
,
Neuenburg
und
Waadt
ins Ja-Lager, wodurch auch ein Standemehr resultierte.
[1]
In Kraft trat die neue Verfassung am 29. Mai 1874.
Nr.
|
Art
|
Stimm-
berechtigte
|
Abgegebene
Stimmen
|
Beteiligung
|
Gultige
Stimmen
|
Ja
|
Nein
|
Ja-Anteil
|
Nein-Anteil
|
Stande
|
Ergebnis
|
12
[3]
|
OR
|
k. A.
|
k. A.
|
k. A.
|
538'212
|
340'199
|
198'013
|
63,21 %
|
36,79 %
|
13½:8½
|
ja
|
Quelle:
Bundeskanzlei
[4]
Ja (13½ Stande)
Nein (8½ Stande)
Kanton
|
Ja-Stimmen
|
Ja-Anteil
|
Nein-Stimmen
|
Nein-Anteil
|
Kanton Aargau
Aargau
|
0
27'196
|
65,13 %
|
0
14'558
|
34,87 %
|
Kanton Appenzell Ausserrhoden
Appenzell Ausserrhoden
(½)
|
00
9'858
|
82,85 %
|
00
2'040
|
17,15 %
|
Kanton Appenzell Innerrhoden
Appenzell Innerrhoden
(½)
|
.000
427
|
14,30 %
|
00
2'558
|
85,70 %
|
Kanton Basel-Landschaft
Basel-Landschaft
(½)
|
00
9'236
|
86,61 %
|
00
1'428
|
13,39 %
|
Kanton Basel-Stadt
Basel-Stadt
(½)
|
00
6'821
|
86,43 %
|
00
1'071
|
13,57 %
|
Kanton Bern
Bern
|
0
63'367
|
77,66 %
|
0
18'225
|
22,34 %
|
Kanton Freiburg
Freiburg
|
00
5'568
|
20,67 %
|
0
21'368
|
79,33 %
|
Kanton Genf
Genf
|
00
9'674
|
77,39 %
|
00
2'827
|
22,61 %
|
Kanton Glarus
Glarus
|
00
5'169
|
75,88 %
|
00
1'643
|
24,12 %
|
Kanton Graubunden
Graubunden
|
0
10'624
|
52,81 %
|
00
9'492
|
47,19 %
|
Kanton Luzern
Luzern
|
0
11'276
|
38,27 %
|
0
18'188
|
61,73 %
|
Kanton Neuenburg
Neuenburg
|
0
16'295
|
92,87 %
|
00
1'251
|
0
7,13 %
|
Kanton Nidwalden
Nidwalden
(½)
|
.000
522
|
18,93 %
|
00
2'235
|
81,07 %
|
Kanton Obwalden
Obwalden
(½)
|
.000
562
|
16,68 %
|
00
2'807
|
83,32 %
|
Kanton Schaffhausen
Schaffhausen
|
00
6'596
|
96,79 %
|
.000
219
|
0
3,21 %
|
Kanton Schwyz
Schwyz
|
00
1'988
|
17,61 %
|
00
9'298
|
82,39 %
|
Kanton Solothurn
Solothurn
|
0
10'739
|
65,14 %
|
00
5'746
|
34,86 %
|
Kanton St. Gallen
St. Gallen
|
0
26'134
|
56,72 %
|
0
19'939
|
43,28 %
|
Kanton Tessin
Tessin
|
00
6'245
|
33,30 %
|
0
12'507
|
66,70 %
|
Kanton Thurgau
Thurgau
|
0
18'232
|
82,90 %
|
00
3'761
|
17,10 %
|
Kanton Uri
Uri
|
.000
332
|
0
7,91 %
|
00
3'866
|
92,09 %
|
Kanton Waadt
Waadt
|
0
26'204
|
60,15 %
|
0
17'362
|
39,85 %
|
Kanton Wallis
Wallis
|
00
3'558
|
15,52 %
|
0
19'368
|
84,48 %
|
Kanton Zug
Zug
|
00
1'797
|
39,61 %
|
00
2'740
|
60,39 %
|
Kanton Zurich
Zurich
|
0
61'779
|
94,62 %
|
00
3'516
|
0
5,38 %
|
Schweiz
|
340'199
|
63,21 %
|
198'013
|
36,79 %
|
Die Einfuhrung des fakultativen Referendums machte den Einbezug jener Krafte, die nicht nur in Bezug auf einen speziellen Themenkreis, sondern auf ein breites Spektrum politischer Fragen referendumsfahig waren, uber kurz oder lang zu einer Notwendigkeit. Sie leitete damit einen langen soziopolitischen Prozess ein, in dessen Verlauf die schweizerische
Konkordanzdemokratie
entstehen sollte. Bis 1996 wurde die Bundesverfassung uber 140 Mal teilrevidiert. Die Einfugungen in den bestehenden Text wurden mit lateinischen Zahlen (bis, ter, quater usw.) gekennzeichnet. Da sie in Bezug auf Entstehungszeit, Ausfuhrlichkeit und sprachlicher Formulierung grosse Unterschiede aufwiesen, wurde die Bundesverfassung uber die Jahrzehnte zusehends heterogener und unubersichtlicher. Die Anderungen tangierten die
bundesstaatliche Kompetenzverteilung
, die
politischen Rechte
, die Organisation der Bundesbehorden und die
Grundrechte
. Allgemein verschoben sich die Kompetenzen von den Kantonen immer mehr zum Bund hin, wahrend neue Kompetenzen von Anfang an dem Bund ubertragen wurden. Viele dieser Kompetenzerweiterungen zogen die Schaffung entsprechender Behorden nach sich und fuhrten so zu einem massiven Ausbau der Bundesverwaltung sowie zu einer Zunahme des Bundespersonals. Grundlegende Teilrevisionen waren die Einfuhrung der
Volksinitiative
(1891), des
Proporzwahlrechts
bei Nationalratswahlen (1918), des Staatsvertragsreferendums (1921) und des
Frauenstimmrechts
(1971).
[5]
Die Bundesverfassung von 1874 wurde am 1. Januar 2000 durch die
totalrevidierte Verfassung von 1999
abgelost.
- Wolf Linder, Christian Bolliger und Yvan Rielle (Hrsg.):
Handbuch der eidgenossischen Volksabstimmungen 1848?2007
. Haupt-Verlag, Bern 2010,
ISBN 978-3-258-07564-8
.
- ↑
a
b
c
d
e
f
Yvan Rielle:
≪Il nous faut les Welsches≫ ? Kompromisse ebnen der neuen Bundesverfassung den Weg.
In:
Handbuch der eidgenossischen Volksabstimmungen 1848?2007.
S. 34?37.
- ↑
Olivier Meuwly:
Schweizerischer Volksverein.
In:
Historisches Lexikon der Schweiz
.
13. September 2012
, abgerufen am
29. Marz 2020
.
- ↑
Vorlage Nr. 12.
In:
Chronologie Volksabstimmungen.
Bundeskanzlei
, 2020,
abgerufen am 2. April 2021
.
- ↑
Vorlage Nr. 12 ? Resultate in den Kantonen.
In:
Chronologie Volksabstimmungen.
Bundeskanzlei, 2020,
abgerufen am 2. April 2021
.
- ↑
Andreas Kley:
Bundesverfassung (BV).
In:
Historisches Lexikon der Schweiz
.
3. Mai 2011
, abgerufen am
29. Marz 2020
. (Kapitel
Erweiterungen bis 1996
)