Unter
Dissoziation
(von
lateinisch
dissociare
?trennen“) versteht man in der
Chemie
den angeregten oder selbsttatig ablaufenden Vorgang der Teilung einer
chemischen Verbindung
in zwei oder mehrere
Molekule
,
Atome
,
Radikale
[1]
oder
Ionen
. Als Maß fur die Dissoziation wird der
Dissoziationsgrad
oder die
Dissoziationskonstante
verwendet. Der Dissoziationsgrad gibt das Verhaltnis der dissoziierten Teilchen zur formalen Anfangs
konzentration
der undissoziierten chemischen Verbindung an. Die
Dissoziationsenergie
ist die
Energie
, die notwendig ist, um eine
chemische Bindung
zu spalten.
Man bezeichnet die Spaltung eines Molekuls oder Ions AB in ungeladene oder geladene
Untereinheiten
A und B als Molekuldissoziation, die Umkehrung dieses Vorganges als Molekulassoziation.
[2]
Die ersten Methoden zur
Molmassenbestimmung
basierten auf Dampfdichtemessungen. Es traten jedoch mitunter Abweichungen auf, dies fuhrte zu gedanklichen Schlussfolgerungen, dass Molekule in der Gasphase dissoziiert vorliegen mussen.
[3]
Gepragt wurde der Begriff Dissoziation im Jahr 1857 von
Henri Etienne Sainte-Claire Deville
.
[4]
Bei der Bestimmung von Dampfdichten anorganischer und organischer Verbindungen stellten Cannizzaro, Kopp und Kekule Abweichungen bezuglich der Molmassen in der Gasphase fest. Haufig war die Gasdichte geringer als erwartet.
Sainte-Claire Deville konnte beim
Phosphorpentachlorid
in der Gasphase eine geringere Dichte feststellen, gleichzeitig beobachtete er eine grunliche Farbung und schloss daraus, dass Phosphorpentachlorid in Chlor und Phosphortrichlorid zerfallen sein musste.
Pebal
[5]
und Skraup
[6]
konnten beim Erhitzen von
Ammoniumchlorid
in einem dunnen Rohr durch die unterschiedlichen Gasgeschwindigkeiten (Glasrohr mit Verengung zur Messung der Effusion, siehe
Thomas Graham (Chemiker)
) mit Lackmus nachweisen, dass das Ammoniumchlorid in der Gasphase in Ammoniak und Salzsaure dissoziiert.
Thermische Dissoziationen verlaufen in der Regel viel langsamer als elektrolytische Dissoziationen. Ein Beispiel fur eine thermische Dissoziation bietet
Distickstofftetroxid
, das bei ?10 °C in Form von farblosen Kristallen vorliegt. Beim Erwarmen dissoziiert das Molekul in das intensiv braunrot gefarbte
Stickstoffdioxid
:
.
Diese Reaktion ist reversibel. Beim Abkuhlen entfarbt sich die Probe wegen der Rekombination zum Distickstofftetroxid wieder.
Dissoziationen treten besonders bei
Makromolekulen
schon bei relativ niedrigen Temperaturen auf.
Beim Erhitzen von Peroxiden oder Azoverbindungen, deren Bindungen schon bei etwa 150 °C thermisch dissoziieren, entstehen Radikale. Radikale konnen mit der Elektronenspinresonanz-Spektroskopie (
ESR-Spektroskopie
) bestimmt werden.
Erfolgt die Dissoziation von Molekulen, nachdem diese durch Absorption von Licht in einen elektronisch angeregten Zustand ubergegangen sind, so spricht man von photochemischer Dissoziation oder auch von
Photolyse
oder Photodissoziation. Photolyse ist ein wichtiger Aspekt der Atmospharenchemie und hat praparative sowie industrielle Bedeutung.
Die elektrolytische Dissoziation ist der
reversible Zerfall
einer
chemischen Verbindung
in
Anionen
und
Kationen
in einem
Losungsmittel
(z. B.
Salze
in Wasser). Die Ionen sind anschließend von Losungsmittel umgeben (
solvatisiert
) und dadurch frei beweglich, wodurch sich die elektrische
Leitfahigkeit
ergibt. Solche Losungen werden
Elektrolyte
genannt.
Bei den sogenannten
echten
oder
permanenten Elektrolyten
sind die Ionen bereits im Festkorper (→
Ionengitter
) vorhanden. So liegen bei festem
Kochsalz
bereits im Gitter Na
+
und Cl
?
-Ionen vor. Beim Auflosen des Salzes in Wasser bilden sich im Wasser nun freibewegliche Ionen. Bei der Dissoziation von Salzen in Ionen wird die recht hohe
Gitterenergie
des Kristalles durch
Hydratisierungsenergie
beim Losungsvorgang aufgebraucht.
Bei den sogenannten
potentiellen Elektrolyten
liegen bei den Reinsubstanzen keine ionischen Bindungen vor. Als Reinsubstanz sind sie
Nichtleiter
.
Beim Einbringen dieser Reinsubstanzen (AB) in ein Losungsmittel erfolgt die Bildung von Ionen durch eine chemische Reaktion zwischen Gelostem und Losungsmittel:
. Voraussetzung fur eine solche Reaktion ist eine
polare Bindung
zwischen den Teilen A und B der Verbindung (AB) und ein polares Losungsmittel. Wird beispielsweise reine
Essigsaure
in Wasser gegeben, bilden sich als Kationen
und als Anionen
![{\displaystyle \mathrm {H_{3}C{-}COOH+H_{2}O\ \rightleftharpoons \ H_{3}C{-}COO^{-}\ +\ H_{3}O^{+}} }](https://wikimedia.org/api/rest_v1/media/math/render/svg/e35779b509ec89fe724753f1d8dd7a68ea4c779d)
Wird das Gas
Chlorwasserstoff
(HCl) in Wasser eingebracht, bildet sich eine elektrolytische Losung, die
Salzsaure
genannt wird:
.
Wird das Gas
Ammoniak
(NH
3
) in Wasser eingebracht, bilden sich als Kationen
und als Anionen
:
![{\displaystyle \mathrm {NH_{3}+H_{2}O\rightleftharpoons \ NH_{4}^{+}+OH^{-}} }](https://wikimedia.org/api/rest_v1/media/math/render/svg/c8363748ee5e0211d467e3058d0ba773a4847d76)
Die Gleichgewichtsreaktionen dieser Beispiele nennt man auch
Protolyse
. Dieses Verhalten fuhrt zum sauren Charakter der
Sauren
(wie z. B.
Essigsaure
) und zum basischen Charakter der
Basen
(wie z. B.
Ammoniak
). Die elektrische
Leitfahigkeit
dieser Losungen ist der experimentelle Nachweis der Bildung von freibeweglichen Anionen und Kationen.
Auch in der organischen Chemie ist die Kenntnis der Dissoziation von großer Bedeutung.
Viele organische Reaktionen sind nur moglich, wenn Carbonsauren, Hydroxygruppen als Anionen vorliegen, damit Stoffumsetzungen wie Alkylierungen ausgefuhrt werden konnen.
Hammet untersuchte die Dissoziation von organischen Basen und Carbonsaure in Wasser und verschiedenen Losungsmitteln.
[7]
[8]
Die ersten Untersuchungen zur Bildung von Organometallverbindungen wurden von Conant und Wheland ausgefuhrt.
[9]
[10]
Im Jahr 1965 stellte dann Cram eine Aciditatsskala (MSAD-Skala) fur verschiedene Kohlenwasserstoffmolekule auf, E. M. Arnett hatte 1963 fur Ester, Amide, Thiole, Amine, Phenole die Dissoziationskonstanten bestimmt.
Aufgrund dieser Aciditatsskalen konnen organische Chemiker leichter abschatzen, welche Base fur eine Stoffumsetzung notwendig ist.
- ↑
Otto-Albrecht Neumuller (Herausgeber):
Rompps Chemie Lexikon
, Frank’sche Verlagshandlung, Stuttgart, 1983, 8. Auflage, S. 988,
ISBN 3-440-04513-7
.
- ↑
A. F. Holleman:
Lehrbuch der anorganischen Chemie
. Walter de Gruyter & Co KG, 2019,
ISBN 978-3-11-083817-6
,
S.
354
(
books.google.com
).
- ↑
Walther Nernst:
Theoretische Chemie vom Standpunkt der Avogadroschen Regel und der Thermodynamik
, 5. Auflage, Verlag von Ferdinand Enke 1907, S. 346?347.
- ↑
Sur la dissociation ou la decomposition spontanee des corps sons l'influence de la chaleur, Compt. rend.
45
, 857 (1857).
- ↑
Liebigs Ann. 128, 199 (1862).
- ↑
Exners Repert. d. Phys.
21
, 501 (1884).
- ↑
L. P. Hammet: Physikalische Organische Chemie, Verlag Chemie 1973, Kap. 9.
- ↑
L. P. Hammet, A. J. Deyrup,
J. Am. Chem. Soc.
54, 272 (1932).
- ↑
J. B. Conant, G.W. Wheland, J. Am. Chem. Soc. 54, 1212 (1932).
- ↑
K. Ziegler und H. Wollschitt, Ann. 479, 123 (1930).