Der Begriff
Strukturgeschichte
beschreibt eine methodische Herangehensweise und einen
Paradigmenwechsel
der
Geschichtswissenschaft
. Der Gegenbegriff ist die
Personengeschichte
.
Der Begriff geht auf die franzosische
Annales-Schule
zuruck. Erstmals verwandt wurde er von
Fernand Braudel
1949 (?histoire de structures“) in seinem Buch zur Mittelmeerwelt, das die
histoire structurale
neben die
histoire evenementielle
stellte. In Deutschland konnte diese historische Herangehensweise auf Vorlaufer wie
Karl Lamprecht
zuruckgreifen, der im Gegensatz zu den ereignisgeschichtlich orientierten
Neorankeanern
die Bedeutung der
Kulturgeschichte
betont hatte. Ein weiterer Traditionsstrang, der durch entsprechende Forschungen erst in den letzten Jahren wieder starker ins Bewusstsein getreten ist, stellt die Volkstumsgeschichte der 1920 bis 1940er Jahre dar. Aus diesem von den
Nationalsozialisten
geforderten Forschungszweig sind Historiker wie
Otto Brunner
,
Werner Conze
,
Theodor Schieder
, aber auch der Soziologe
Hans Freyer
hervorgegangen, die wahrend der Nachkriegszeit eine wichtige Rolle bei der Etablierung der Strukturgeschichte in Deutschland gespielt haben. Neben den deutschen und franzosischen Wurzeln spielten fur die deutsche Entwicklung auch Vorbilder aus den USA und Großbritannien sowie zuruckgekehrte deutsche Emigranten eine Rolle.
Die Protagonisten der Strukturgeschichte verstanden diese nicht als einen Teilbereich der Geschichtswissenschaft, wie sie etwa die
Politikgeschichte
, die
Rechtsgeschichte
oder die Sozialgeschichte darstellt, sondern als methodische Herangehensweise, mit deren Hilfe sich sowohl der Bereich des Politischen, des Sozialen, der Wirtschaft, der Ideen und andere Bereiche untersuchen lassen. Dabei standen nicht das Handeln einzelner Personen oder Ereignisse im Vordergrund, sondern uberindividuelle Strukturen und Prozesse. Ein weiterer Anspruch ist es, ubergreifende gesamtgeschichtliche Zusammenhange zu erfassen.
Wichtig war, dass die Strukturgeschichte begann, typisierende und generalisierende Begriffe in die Geschichtswissenschaft einzufuhren. Wichtiges Instrument war zudem die vergleichende Betrachtungsweise sowie der Ruckgriff auf Theorieangebote der Sozialwissenschaften. Neben statistischen oder sonstigen empirischen Methoden spielte insbesondere seit den spaten 1960er Jahren der Ruckgriff auf
Karl Marx
und insbesondere auf
Max Weber
eine wichtige Rolle.
Diese Betrachtungsweise traf noch in den 1950er Jahren auf den vehementen Widerstand einer eher personen- und ereignisgeschichtlichen historistischen Tradition im deutschsprachigen Raum. Dennoch konnte die Strukturgeschichte nicht mehr wie ihre Vorlaufer vollig verdrangt werden. Die Grunde hierfur waren vielfaltig. Eine Rolle spielte dabei, dass auch Vertreter der etablierten Zunft angesichts des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkrieges daran zu zweifeln begannen, ob die bisherige Methodik zur Analyse der modernen Massengesellschaft ausreichend war. Ein wichtiges Diskussionsforum wurde seit 1957 der von Conze gegrundete
Arbeitskreis fur moderne Sozialgeschichte
. Neben der alteren Generation zog dieser auch damals Jungere wie
Wolfgang Kollmann
oder
Reinhart Koselleck
an. In den 1970er und 1980er Jahren erreichte die Strukturgeschichte in Deutschland in Form der historischen Sozialwissenschaft vor allem vertreten von der
Bielefelder Schule
um
Hans-Ulrich Wehler
,
Jurgen Kocka
und anderen den Hohepunkt ihrer Bedeutung. Die im Kern strukturgeschichtliche
Gesellschaftsgeschichte
eines Hans-Ulrich Wehler erhebt den Anspruch einer ?histoire totale“. Sie uberwindet angebliche nationale Vorzuge zugunsten einer auf der
Longue duree
beruhenden europaischen Sichtweise.
Unter Anpassungsdruck geriet die Strukturgeschichte durch Herausforderungen etwa der
Alltagsgeschichte
,
postmoderner
Ansatze oder einer
neuen Kulturgeschichte
.
Wahrend der 1960er, 1970er und 1980er Jahre waren die Mehrzahl der deutschen Historiker Anhanger der Strukturgeschichte, und blendeten menschliches Handeln weitgehend aus ihren Betrachtungen aus. So machte
Hans-Ulrich Wehler
1969 eine ?Krise der politischen
Biografie
“ aus. Mit dem Ruckgang der Strukturgeschichte stellte
Hartmut Mehringer
1989 fest, dass die Biografie ?wieder Konjunktur“ habe. Dabei hat sich nach
Hans Erich Bodeker
jedoch die Erkenntnis durchgesetzt historische Personen nicht mehr aus gesellschaftlichen Strukturen herauszulosen, sondern im Gegenteil die wechselseitigen Beziehungen zwischen Personen und Strukturen einer systematischen Analyse zu unterziehen.
[1]
Ihre massivste Vertretung fand die Strukturgeschichte im
Marxismus
, nach dem die Geschichte von objektiven Gesetzen,
Klassenkampfen
und
Gesellschaftsformationen
bestimmt wird, und damit die Rolle großer Personlichkeiten wie z. B.
Friedrich der Große
oder
Bismarck
, die nur als Vertreter ihrer Klasse gelten, weitgehend auf Null gebracht wird.
[2]
Bei der Bewertung der Rolle Hitlers in der Geschichte standen dem Lager der ?Intentionalisten“ (auch als ?Programmologen“, ?Hitleristen“ oder ?Traditionalisten“) nun die ?Strukturfunktionalisten“ (auch ?Revisionisten“ oder ?Neorevisionisten“) gegenuber. Intentionalisten wie
Andreas Hillgruber
,
Klaus Hildebrand
und
Eberhard Jackel
deuten die Geschichte des Dritten Reiches als eine programmgemaße und folgerichtige Realisierung von Hitlers Intentionen. Fur sie ist
Mein Kampf
gleichsam ein ?Kompaßbuch“ des Nationalsozialismus. ?Strukturfunktionalisten“ hingegen, wie z. B.
Hans Mommsen
, konzentrierten sich auf die strukturellen Zwange politischer Entscheidungen und die Funktionsweise des Herrschaftssystems. Sie machten ein Konkurrenzgerangel zwischen rivalisierenden Machtgruppen und Instanzen im Staats- und Parteiapparat aus. Sie beriefen sich auf die fruhen Werke
Der Doppelstaat
von
Ernst Fraenkel
und
Behemoth. Struktur und Praxis des Nationalsozialismus
von
Franz Neumann
. Mommsen beschrieb Hitler als entscheidungsunwilligen und schwachen Diktator.
[3]
Weiterhin machten Strukturfunktionalisten wie Mommsen,
Martin Broszat
und
Wolfgang Schieder
nicht Hitlers Willen als Antriebsmotor fur die nationalsozialistische Außenpolitik aus, sondern ein Bewegungsgesetz des Nationalsozialismus, mit dem das NS-System bereits den Keim der Selbstzerstorung in sich trug. Nach diesem Gesetz brauchte das Dritte Reich den ?Fuhrernimbus“ zur politischen Integration der Staatsburger. Dieser Fuhrernimbus als systemstabilisierendes Element, musste durch immer neue Erfolge nach innen wie nach außen neu befestigt werden, die dann in mit großem Geprange inszenierten Fest- und Kultveranstaltungen des Regimes zelebriert wurden. Dieses Uberlebensgesetz des Regimes war weit ausschlaggebender als das, was Hitler in den zwanziger Jahren zu Papier gebracht hat.
[4]
Broszat schrieb 1989, dass er es fur wichtig halt, nicht von der Person Hitlers, sondern vom ?Faktor Hitler“ zu sprechen und den Personen-Faktor selbst als eine Struktur zu begreifen und zur Darstellung zu bringen. Denn die Bedeutung Hitlers bestand nicht darin, was er personlich war, sondern darin, was er demagogisch und agitatorisch artikulierte, was er mobilisierte und integrierte. Man konne deshalb Hitler als Medium oder Katalysator von Energien und Prozessen bezeichnen, die jedoch ohne die Bundelung und Umsetzung durch ihn nicht im gleichen Maße geschichtsmachtig gewesen waren.
[5]
Zur Frage der Ursachen des
Zweiten Weltkriegs
gab es in den 60er und 70er Jahren eine breite struktur- und sozialgeschichtliche Forschung und Diskussion, die den Hitler-Zentrismus und die Auffassung vom Primat der Außenpolitik uberwinden wollte.
Faschismustheorien
hatten Konjunktur, die den Blick auf die Rolle verschiedener
Eliten
und Machtgruppen, am radikalsten die marxistische
Agententheorie
, vor allem aber fur die Bedeutung sozialer und okonomischer Faktoren offneten. So war weithin die These akzeptiert, dass das Dritte Reich sich in einer inneren Krise befand, die den Kriegsentschluss Hitlers, den Krieg im Jahre 1939 zu eroffnen, zumindest mit beeinflusst habe. Der maßgebliche Vertreter dieser Krisentheorie,
Timothy Mason
, sprach von einer Flucht aus einer ?umfassenden politisch-okonomischen Krise des Herrschaftssystems“ in den Krieg. Die neuere Forschung sieht jedoch wieder den Willen Hitlers zum Krieg als entscheidend an, der die weitgehend auch ohne Krieg losbaren inneren Krisenerscheinungen nur als Bestatigung fur seinen Kriegskurs benutzte. Dazu sei eine irrationale Reaktion Hitlers auf seinen 50. Geburtstag, als eine Art von personlicher Torschlusspanik, getreten.
[6]
Die starke Betonung struktureller Determinanten und die Geringschatzung der Rolle des Einzelnen anderte sich nach dem Untergang des
Sowjetblocks
. Der Ruckgang des geistigen Einflusses des Marxismus und die
Neue Kulturgeschichte
, die jede ?große Erzahlung“, grundlegendes Muster oder ubergestulpte umfassende Theorie der Geschichte zuruckweist, brachten eine Abkehr von System und Struktur hin zum Subjekt, zum Einzigartigen und Individuellen.
[7]
- ↑
Udo Wengst
:
Machen Manner wieder Geschichte? Der Stellenwert der Politikerbiografien in der Geschichtsschreibung uber die Bundesrepublik Deutschland
. In:
Klaus Hildebrand
, Udo Wengst,
Andreas Wirsching
(Hrsg.):
Geschichtswissenschaft und Zeiterkenntnis. Von der Aufklarung bis zur Gegenwart
. Munchen 2008, S. 627 und 638.
- ↑
Imanuel Geiss
:
Die Rolle der Personlichkeit in der Geschichte: zwischen Uberbewerten und Verdrangen
. In: Michael Bosch (Hrsg.):
Personlichkeit und Struktur in der Geschichte. Historische Bestandsaufnahme und didaktische Implikationen
. Dusseldorf 1977, S. 10 ff.
- ↑
Bernd-Jurgen Wendt
:
Deutschland 1933-1945. Das ?Dritte Reich“ Handbuch zur Geschichte
. Hannover 1995, S. 13 ff.
- ↑
Rainer F. Schmidt
:
Die Aussenpolitik des Dritten Reiches
. Stuttgart 2002, S. 128 ff.
- ↑
Martin Broszat
:
Der Zweite Weltkrieg: ein Krieg der ?alten“ Eliten, der Nationalsozialisten oder der Krieg Hitlers?
. In: Martin Broszat,
Klaus Schwabe
(Hrsg.):
Die deutschen Eliten und der Weg in den Zweiten Weltkrieg
. Munchen 1989, S. 246 f.
- ↑
Rolf-Dieter Muller
:
?Flucht in den Krieg?“ Die innere Krise des Reiches am Vorabend des Zweiten Weltkrieges
. In:
Jorg Hillmann
(Hg.):
"Der Fall Weiß". Der Weg in das Jahr 1939
. Bochum 2001, S. 33 ff.
- ↑
Ian Kershaw
:
Der Mensch und die Macht
. Munchen 2022, S. 17.