Foto vom Prozess, Hilde Scheller (Mitte) auf der Zeugenbank im Landgerichtssaal in Berlin (Feb. 1928)
Als
Steglitzer Schulertragodie
wird ein Vorfall bezeichnet, der sich am 28. Juni 1927 im
Berliner
Stadtteil
Steglitz
abspielte.
Die Oberschuler
Paul Krantz
(18) und Gunther Scheller (19) hatten unter starkem Alkoholeinfluss im elterlichen Sommerhaus in
Mahlow
bei Berlin einen
Selbstmordpakt
geschlossen: Scheller sollte seinen Freund Hans Stephan (18) erschießen. Krantz sollte anschließend Gunther Scheller sowie dessen Schwester Hildegard (16) und schließlich sich selbst umbringen. Ausloser waren einerseits die intimen Beziehungen Hildegard Schellers zu Paul Krantz und Hans Stephan und andererseits Gunther Schellers ungluckliche Liebe zu Hans Stephan.
Spater erfullte Gunther Scheller seinen Teil der Verabredung, indem er in der Wohnung seiner Eltern in der Berliner Albrechtstraße 72 C Hans Stephan erschoss. Kurz darauf nahm er sich mit einem
Kopfschuss
das Leben. Paul Krantz fuhrte die geplante Tat nicht aus.
Im November 1927 erhob die Staatsanwaltschaft Berlin Anklage gegen Paul Krantz wegen
Mordes
.
[1]
Der Prozess begann am 9. Februar 1928.
[2]
Das Interesse der Offentlichkeit war so groß, dass samtliche Einlasskarten bereits Tage zuvor ausgegeben waren.
[3]
Am ersten Prozesstag musste die Schutzpolizei den Sitzungssaal mit einem
Kordon
abriegeln. Als Zuschauer waren anwesend u. a. der preußische Innenminister
Albert Grzesinski
, eine Studienkommission japanischer Juristen unter Fuhrung des Rektors der Universitat von Tokio sowie bekannte Schriftsteller, darunter
Clara Viebig
und
Jakob Wassermann
.
[4]
Paul Krantz’ Verteidiger war der renommierte und hoch dotierte Rechtsanwalt
Erich Frey
.
[5]
Wahrend des Prozesses wurde u. a. Polizeivizeprasident
Bernhard Weiß
als Zeuge vernommen.
[6]
Vom Gericht waren neun Sachverstandigen bestellt, darunter
Magnus Hirschfeld
.
[7]
Dieser wurde vom Gericht zur sexuellen Aufklarung in den hoheren Gymnasialklassen befragt und erklarte auf Nachfrage, dass in allen damaligen Lehrbuchern die menschlichen Geschlechtsorgane nicht erwahnt wurden.
[8]
Hirschfeld stufte Krantz als einen
≫degenere superieur≪
ein, der ?sexuell unterentwickelt, geistig uberentwickelt“ sei.
[9]
Bevor Hirschfeld sein Gutachten abgab, fragte ihn der erste Staatsanwalt, ?ob er sexuelle Dinge in eingehender Weise zu erortern gedenke, da er sich in diesem Falle gezwungen sahe, den Ausschluß der Offentlichkeit einschließlich der Presse zu beantragen“.
[10]
Hirschfeld verneinte und erklarte, bei
?Krantz seien die korperliche und seelische Entwicklung vollig verschieden. Seelisch sei bei ihm eine Spatreife eingetreten, so daß er sich heute noch in dem Zustand eines 15jahrigen jungen Mannes befinde. Seine geistige Entwicklung stehe nur in scheinbarem Widerspruch dazu. Mutterlicherseits ist er erheblich erblich belastet. Bei ihm ist alles verbunden mit Aufruhr und starkem Stimmungswechsel, vor allem aber mit inneren Angstzustanden, die sich mit zunehmender Pubertat steigern. Was sich bei ihm erhielt, ist der erotische Uberschwang.“
?
Artikel in
Der Tag
vom 19. Februar 1928
[10]
Das
Schwurgericht
des
Landgerichts
Berlin-Moabit
verurteilte Krantz am 20. Februar 1928 wegen unerlaubten Waffenbesitzes zu drei Wochen Haft, die mit der Untersuchungshaft verbußt waren. Im Ubrigen entschied das Gericht auf
Freispruch
.
[11]
Der Fall erregte in ganz Deutschland und auch in der internationalen Presse großes offentliches Aufsehen und fuhrte zu heftigen Debatten uber den angeblichen sittlichen Verfall der Jugend in der
Weimarer Republik
.
Nach dem Prozess leitete das Steglitzer
Jugendamt
?provisorische Fursorgemaßnahmen“ fur Hilde Scheller ein. Daruber hinaus wurde als weitere Maßnahme die Entziehung der
elterlichen Gewalt
und die Verhangung einer staatlichen Erziehung erwogen.
[12]
Am 25. Februar 1928 verwarf der Verwaltungsausschuss des Jugendamtes nach langen Verhandlungen mit den Eltern diesen Schritt. Hilde sollte vielmehr in ein Erziehungsheim in eine ?ruhige Gegend außerhalb Berlins“ gebracht werden, um ihr eine ?sachgemaße Erziehung“ zuteilwerden zu lassen.
[13]
Aus Hilde Schellers Bekanntheit infolge des aufsehenerregenden Prozesses wollten geschaftstuchtige Zeitgenossen Kapital schlagen. So wurde in Berlin eine Broschure mit dem Titel ?Hilde Schellers Rechtfertigung“ auf der Straße sowie in Buchhandlungen verkauft. Die Druckschrift erweckte den Eindruck, von Hilde Scheller selbst verfasst worden zu sein, war jedoch von der Familie nicht autorisiert. Außerdem hatte der Komiker
Wilhelm Bendow
bei seinem Auftritt in der Operette
Madame Pompadour
am
Großen Schauspielhaus
nach dem Prozess in seine Rolle den Satz eingefugt: ?Madame Pompadour hat sich sehr frei benommen, Hilde Scheller war gar nichts dagegen.“ Gegen diese Rufschadigungen seiner Tochter ging Hilde Schellers Vater vor. Er schaltete einen Anwalt ein und erwirkte
einstweilige Verfugungen
gegen den Verleger der Broschure, die Direktion des Schauspielhauses sowie Wilhelm Bendow.
[14]
Das fur den freigesprochenen Paul Krantz zustandige Bezirksjugendamt Tempelhof beschrankte sich darauf, ?durch geeignete Maßnahmen die seelische Gesundung des aus seiner Bahn geworfenen jungen Mannes anzustreben“. Ihm sollte die Moglichkeit zur Erholung gegeben werden. Außerdem setzte sich das Amt dafur ein, dem weiteren
Schulbesuch von Paul Krantz ?keine Hindernisse in den Weg zu legen“, damit er sich wie geplant auf die
Abiturprufung
vorbereiten konnte. Man erwartete vom
Provinzialschulkollegium
Unterstutzung in dieser Richtung.
[15]
Paul Krantz verarbeitete Teile des Vorfalls in seinem 1931 unter seinem
Pseudonym
und spateren Namen
Ernst Erich Noth
erschienenen Roman
Die Mietskaserne
. Das Werk fand unmittelbar nach seinem Erscheinen große Beachtung und erhielt gute Kritiken. Kurz nach der Veroffentlichung legte der
Societats-Verlag
Frankfurt, in dem das Buch erschienen war, den tatsachlichen Verfasser offen. Zu diesem Zeitpunkt war Paul Krantz Student an einer suddeutschen Universitat.
[16]
[17]
Die großtenteils
autobiografische
Darstellung des Lebens von Jugendlichen in einem Berliner Mietshaus der Weimarer Zeit wurde nach der 1932 erschienenen, gekurzten zweiten Auflage jedoch als ?undeutsch“ verboten und erst 1982, kurz vor Krantz’ Tod, erneut aufgelegt.
Die Schriftstellerin Clara Viebig hatte an der Gerichtsverhandlung zur Steglitzer Schulertragodie teilgenommen. In ihrem Roman
Insel der Hoffnung
(1933) verarbeitete sie ihre Eindrucke bezuglich der Befragung Jugendlicher uber intime Details ihres Privatlebens, die sie als unangemessen und voyeuristisch empfindet.
Der Vorfall selbst diente 2004 als Vorlage zum Film
Was nutzt die Liebe in Gedanken
und zu dem Roman
Der Selbstmorder-Klub
von
Arno Meyer zu Kuingdorf
. Der Stoff wurde zweimal verfilmt; 1929 von
Carl Boese
in
Geschminkte Jugend
und 1960 von
Max Nosseck
unter
dem gleichen Titel
. Ebenfalls Bezug auf den Vorfall nimmt
Peter Martin Lampels
Drama
Pennaler
aus dem Jahre 1929.
- ↑
Die Steglitzer Schulertragodie.
In:
Arbeiter-Zeitung
, 25. November 1927, S. 5 (online bei
ANNO
).
Vorlage:ANNO/Wartung/aze
- ↑
Die Berliner Kindertragodie vor Gericht.
In:
Oesterreichische Kronen-Zeitung. Illustrirtes Tagblatt / Illustrierte Kronen-Zeitung / Wiener Kronen-Zeitung
, 10. Februar 1928, S. 7 (online bei
ANNO
).
Vorlage:ANNO/Wartung/krz
- ↑
Der Steglitzer Schulermord.
In:
Arbeiter-Zeitung
, 7. Februar 1928, S. 6 (online bei
ANNO
).
Vorlage:ANNO/Wartung/aze
- ↑
Die Steglitzer Schulertragodie.
In:
Neues Wiener Tagblatt. Demokratisches Organ / Neues Wiener Abendblatt. Abend-Ausgabe des (?)Neuen Wiener Tagblatt(“) / Neues Wiener Tagblatt. Abend-Ausgabe des Neuen Wiener Tagblattes / Wiener Mittagsausgabe mit Sportblatt / 6-Uhr-Abendblatt / Neues Wiener Tagblatt. Neue Freie Presse ? Neues Wiener Journal / Neues Wiener Tagblatt
, 10. Februar 1928, S. 13 (online bei
ANNO
).
Vorlage:ANNO/Wartung/nwg
- ↑
Die Nachmittagsverhandlung. Der Verteidiger wird krank.
In:
Oesterreichische Kronen-Zeitung. Illustrirtes Tagblatt / Illustrierte Kronen-Zeitung / Wiener Kronen-Zeitung
, 10. Februar 1928, S. 8 (online bei
ANNO
).
Vorlage:ANNO/Wartung/krz
- ↑
Die Sensation der Nachmittagsverhandlung.
In:
Der Tag / Der Wiener Tag
, 11. Februar 1928, S. 5 (online bei
ANNO
).
Vorlage:ANNO/Wartung/tag
- ↑
Heute beginnt der Steglitzer Kinderprozess!.
In:
Oesterreichische Kronen-Zeitung. Illustrirtes Tagblatt / Illustrierte Kronen-Zeitung / Wiener Kronen-Zeitung
, 9. Februar 1928, S. 10 (online bei
ANNO
).
Vorlage:ANNO/Wartung/krz
- ↑
Die Lehrer als Zeugen.
In:
Neues Wiener Journal
, 12. Februar 1928, S. 9 (online bei
ANNO
).
Vorlage:ANNO/Wartung/nwj
- ↑
Das Geheimnis der Steglitzer Mordnacht. Paradies ? und Katzenjammer.
In:
Wiener Sonntags-Zeitung / Wiener Sonn- und Montags-Zeitung
, 13. Februar 1928, S. 2 (online bei
ANNO
).
Vorlage:ANNO/Wartung/wsz
- ↑
a
b
Das Gutachten von Dr. Magnus Hirschfeld.
In:
Der Tag / Der Wiener Tag
, 19. Februar 1928, S. 4 (online bei
ANNO
).
Vorlage:ANNO/Wartung/tag
- ↑
Paul Krantz von der Anklage des Totschlages freigesprochen!.
In:
Der Tag / Der Wiener Tag
, 21. Februar 1928, S. 3 (online bei
ANNO
).
Vorlage:ANNO/Wartung/tag
- ↑
Nachspiel zum Steglitzer Prozess.
In:
Arbeiter-Zeitung
, 22. Februar 1928, S. 7 (online bei
ANNO
).
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- ↑
Hilde Scheller in einem Erziehungsheim.
In:
Kleine Volks-Zeitung
, 26. Februar 1928, S. 26 (online bei
ANNO
).
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- ↑
Hilde Scheller und Madame Pompadour.
In:
Neue Freie Presse
, 23. Februar 1928, S. 7 (online bei
ANNO
).
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- ↑
Das Schicksal der Beteiligten an der Steglitzer Tragodie.
In:
Der Tag / Der Wiener Tag
, 22. Februar 1928, S. 1 (online bei
ANNO
).
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Der Romanautor Paul Krantz.
In:
Das Kleine Blatt
, 3. Februar 1932, S. 14 (online bei
ANNO
).
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- ↑
Paul Krantz als Romanautor.
In:
Neues Wiener Tagblatt. Demokratisches Organ / Neues Wiener Abendblatt. Abend-Ausgabe des (?)Neuen Wiener Tagblatt(“) / Neues Wiener Tagblatt. Abend-Ausgabe des Neuen Wiener Tagblattes / Wiener Mittagsausgabe mit Sportblatt / 6-Uhr-Abendblatt / Neues Wiener Tagblatt. Neue Freie Presse ? Neues Wiener Journal / Neues Wiener Tagblatt
, 28. Janner 1932, S. 29 (online bei
ANNO
).
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