Giovanni Francesco Grossi
, genannt
Siface
(*
12. Februar
1653
in
Chiesina Uzzanese
(bei
Pistoia
); †
29. Mai
1697
bei
Ferrara
),
[1]
war einer der beruhmtesten italienischen Sanger (
Alt
-
Kastrat
) des 17. Jahrhunderts. Daneben ging er auch wegen seines tragischen Todes in die Geschichte ein.
Uber seine Jugend und Ausbildung ist bislang nichts bekannt.
[2]
Schauplatz seiner fruhen Karriere war das
papstliche
Rom
, dessen Musikleben zu dieser Zeit von Meistern wie
Bernardo Pasquini
,
Stradella
,
Alessandro Melani
,
Corelli
,
Alessandro Scarlatti
u. v. a. gepragt wurde. Den Kunstlernamen
Siface
, unter dem Giovanni Francesco Grossi beruhmt wurde, ubernahm er von der gleichnamigen
Opernfigur
in
Francesco Cavallis
Scipione africano
, die er 1671 als 18-Jahriger in Rom sang.
[1]
[3]
Sein
Debut
im
Teatro Tordinona
hatte er 1673 in G. A. Borettis
Eliogabalo
,
[1]
und zur gleichen Zeit wurde er von Konigin
Christine von Schweden
gefordert, so dass er 1674 bei seinem Eintritt in eine
Arciconfraternita
als
musico della regina
(Musiker der Konigin) bezeichnet wurde.
[1]
Zusammen mit papstlichen Sangern sang er zwischen 1672 und 1680 bei feierlichen Zeremonien in den romischen Kirchen
San Luigi dei Francesi
und
Santa Maria Maggiore
,
[1]
und war vom 10. April 1675 bis 5. September 1677 offizielles Mitglied der
papstlichen Kapelle
(Cappella pontificia)
, wo er als
soprano soprannumerario
eingestuft wurde (?uberzahliger oder außerordentlicher Sopran“).
[4]
[1]
Wegen eines Engagements außerhalb von Rom wurde er jedoch schon im Fruhling 1676 vom Dienst in der Kapelle freigestellt und um mehr Freiheit fur seine Opernkarriere zu haben, beendete er das Dienstverhaltnis im Jahr darauf, zum großten Bedauern der anderen Sanger.
[5]
Daneben wirkte er in Rom bei zahlreichen Auffuhrungen von
Oratorien
mit, unter anderem sang er 1675 in
San Giovanni dei Fiorentini
die Titelrolle in Alessandro Stradellas Meisterwerk
San Giovanni Battista
.
[6]
Zwischen 1674 und 1678 sang er im Oratorio del Crocefisso nachweislich in Werken von
Alessandro Melani
,
Giuseppe Antonio Bernabei
,
Paolo Lorenzani
,
Francesco Foggia
und A. Masini.
[1]
Spatestens ab Fruhling 1677 gehorte zu den
Mazenen
von Siface auch der musikliebende
Kardinal
Benedetto Pamphilj
, in dessen Privattheater der Sanger u. a. in Bernardo Pasquinis
La vita e un sogno di notte
(Dezember 1684) und in Alessandro Scarlattis Oratorium
Santa Maria Maddalena
(1685) mitwirkte.
[1]
1679?80 war Siface in
Venedig
, wo er im neueroffneten
Teatro San Giovanni Grisostomo
in
Pietro Simone Agostinis
Il Ratto delle Sabine
(Der Raub der Sabinerinnen) auftrat.
[7]
[1]
Ab 1679 stand er als Virtuose in den Diensten des Herzogs von
Modena
,
Francesco II. d’Este
.
[1]
Zwischen 1680 und 1684 wirkte er wieder in Rom, unter anderem am
Teatro Tordinona
und bei Christine von Schweden. In dieser Zeit gab es einen kleinen Skandal, als Siface sich im Sommer 1683 weigerte, fur den franzosischen Botschafter in Rom, Francois Annibal II.
d’Estrees
, zu singen, weil dieser ihn bei fruheren Gelegenheiten noch nie fur seinen Gesang bezahlt (oder beschenkt) hatte. D’Estrees war daruber so wutend, dass er ihm Stockschlage androhte und den Kardinal Francesco Maidalchini, bei dem Siface wohnte, aufforderte, ihn aus dem Haus zu werfen. Daraufhin fluchtete der Sanger in den Palast seines Schutzherrn, des Herzogs von Modena.
[8]
1684 wurde Siface Mitglied in der romischen Musikervereinigung
(Congregazione)
von
Santa Cecilia
.
In
Neapel
trat er 1684 und 1685 in Werken von
Francesco Provenzale
und von Alessandro Scarlatti
(Il Pompeo)
[9]
auf. 1686 reiste er nach
Florenz
, wo er in einer
accademia
(eine Art Konzert) am Hofe des Kardinals
Francesco Maria de’ Medici
sang.
[1]
Es folgte eine kurze Tournee nach
London
(uber
Paris
) an den Hof
Jakobs II.
, dessen Frau eine Schwester des Herzogs von Modena war.
[3]
[1]
Zu Ehren des Sangers und anlasslich seines Abschieds von England komponierte
Henry Purcell
das
Cembalostuck
Sefauchi’s Farewell
, das 1689 in
The second part of Musick’s Hand-maid
von
Playford
veroffentlicht wurde,
[1]
[10]
[3]
und das moglicherweise als eine Art musikalisches Portrat aufgefasst werden kann.
Schon im Dezember 1687 war Siface wieder zuruck zu Auftritten in Neapel und 1688 in Florenz. Danach ging er nach Modena, wo er u. a. in
Domenico Gabriellis
Il Mauritio
[11]
[1]
und in
Legrenzis
Eteocle e Polinice
auftrat.
[12]
Auch in der Folgezeit hielt er sich vor allem in Norditalien auf, wo er an Theatern in Modena,
Reggio Emilia
,
Mailand
,
Parma
,
Piacenza
und
Bologna
sang. Seinen letzten Auftritt in Rom soll er laut
Ademollo
1695 bei einer Zeremonie im
Petersdom
gehabt haben.
[13]
1696 trat er in Modena in Bernardo Pasquinis Oratorium
I fatti di Mose in Egitto
auf.
[6]
Sifaces Leben nahm eine tragische Wende durch seine Liebesbeziehung mit der verwitweten Grafin Elena Marsili, die er am Hof des Herzogs von Modena kennengelernt hatte.
[3]
Die Familie Marsili Duglioli war jedoch gegen diese Beziehung und sperrte Elena in ein
Kloster
. Nachdem Siface wahrend der
Pfingstfeiern
1697 noch in Ferrara in der Kirche Santo Spirito gesungen hatte, wurde er am 29. Mai 1697 auf der Reise nach Bologna in der Nahe von Ferrara von
Auftragsmordern
umgebracht. Die Auftraggeber der Tat waren die beiden Bruder seiner Geliebten.
[1]
[14]
Sein Leichnam wurde in der Kirche San Paolo in Ferrara beigesetzt.
[1]
?Die beruhmten Sanger
Siface
, und der Ritter
Matteucci
, waren beyde außerordentlich, wegen der seltenen Schonheit der Stimme, und der Art fur das Herz zu singen.“
Der weitaus großte Teil des Repertoires, das Siface sang, ist heute vollkommen vergessen; ahnliches gilt auch fur den Gesangsstil (Kastratenstimme, Verzierungen etc.) seiner Zeit, was eine Einschatzung der Kunst und Wirkung dieses Sangers und anderer beruhmter Zeitgenossen grundsatzlich schwierig macht. Eine Ausnahme bildet Stradellas Oratorium
San Giovanni Battista
, von dem einige Einspielungen existieren, bei denen die von Siface gesungene Titelrolle meistens mit modernen
Countertenoren
besetzt ist, deren Stimmen und Gesangsstil aber nicht mit einem barocken Altkastraten vergleichbar sind. 2018 machte der italienische Countertenor Filippo Mineccia mit seiner CD
Siface ? Amor castrato
den Versuch einer Wiederentdeckung des beruhmten Altisten und seines Repertoires.
Die folgende Liste enthalt eine Auswahl von Partien in Opern und
Serenaten
, die ausdrucklich fur die Stimme von Siface komponiert wurden; angegeben sind auch Datum und Ort der
Urauffuhrung
. Daruber hinaus sang er naturlich auch in vielen anderen Werken (darunter Oratorien), von denen einige oben genannt sind.
[16]
- Ostilio in
Il ratto delle Sabine
von
Pietro Simone Agostini
, 1680 in Venedig, Teatro San Giovanni Grisostomo
[17]
- In
La Psiche, o vero Amore innamorato
von
Alessandro Scarlatti
, 1683 in Neapel, Palazzo Reale
[18]
- Costanzo in
Le due germani rivali
von
Carlo Ambrogio Lonati
, 1686 in Modena, Teatro Fontanelli
[19]
- Cosroe in
Il Maurizio
von
Domenico Gabrielli
, 1689 in Modena, Teatro Fontanelli
[20]
- Apollo in
Il favore de gli dei
von
Bernardo Sabadini
, 1690 in Parma, Gran Teatro
[21]
- Thetide in
La gloria d’amore
von Bernardo Sabadini, 1690 in Parma, Garten des Palazzo ducale
[22]
- Curzio in
L’ ingresso alla gioventu di Claudio Nerone
von
Antonio Giannettini
, 1692 in Modena, Teatro Fontanelli
[23]
- Euristene in
Demetrio tiranno
von Bernardo Sabadini, 1694 in Piacenza, Teatro Nuovo
[24]
; mit
Francesco Antonio Pistocchi
in der Titelrolle
- Idaspre in
L’ Aiace
von Carlo Ambrogio Lonati, 1694 in Mailand, Regio Teatro
[25]
- Titelrolle in
Almansorre in Alimena
von
Carlo Francesco Pollarolo
, 1696 in Reggio Emilia
[26]
- A. Ademollo:
I teatri di Roma nel secolo decimosettimo
, Rom 1888, S. 141?144
- R. Casimiri: ?Oratorij del Masini, Bernabei, Melani, Di Pio, Pasquini e Stradella in Roma nell’anno santo 1675“, in:
Note d’archivio per la storia musicale
, XIII, 1936, S. 162?166;
- Hugh Chisholm (Hrsg.):
Grossi, Giovanni Francesco
. In:
Encyclopædia Britannica
. 11. Auflage.
Band
12
:
Gichtel ? Harmonium
. London 1910 (englisch,
Volltext
[
Wikisource
]).
- Marko Deisinger:
Musikbezogene Quellen aus der Korrespondenz zwischen Rom und dem Wiener Kaiserhof
, in:
Musicologica Brunensia
53 (2018, 3)
- Luca Della Libera:
GROSSI, Giovanni Francesco, detto Siface.
In: Mario Caravale (Hrsg.):
Dizionario Biografico degli Italiani
(DBI). Band 59:
Graziano?Grossi Gondi.
Istituto della Enciclopedia Italiana, Rom 2002, ((italienisch), abgerufen am 15. Oktober 2019; Hauptquelle des vorliegenden Artikels).
- Luca Della Libera: ?La musica nella basilica di S. Maria Maggiore a Roma, 1676?1712: nuovi documenti su Corelli e sugli organici vocali e strumentali“, in:
Recercare, VII
, 1995, S. 108, 110, 114
- A. Liess: ?Materialien zur romischen Musikgeschichte des Seicento. Musikerlisten des oratorio San Marcello 1664?1725“, in:
Acta musicologica, XXIX
, 1957, S. 149?151, 153?158
- ?Siface“, in:
The New Grove Dictionary of music and musicians
, Bd. XXIII, London, 2001, S. 370.
Michael Tilmouth:
Grossi, Giovanni Francesco [‘Siface’].
In:
Grove Music Online
(englisch; Abonnement erforderlich).
- ?Siface, L’amor castrato“ ? Arien & Ouverturen fur Siface aus Opern von Stradella, Pallavicino, Pasquini, Cavalli, Agostini, Lonati, Bassani, Giannettini, Purcell, Scarlatti; mit Filippo Mineccia (Countertenor), dem Ensemble Nereydas und Javier Ulises Illan (Leitung). Glossa 2018. (
online bei jpc
)
- Alessandro Stradella:
San Giovanni Battista
(Titelrolle fur Siface; reprasentative Auswahl)
- mit
Gerard Lesne
(als S. Giovanni),
Catherine Bott
(Salome), Les Musiciens du Louvre,
Marc Minkowski
u. a., erschienen bei Erato, 1992.
- mit Roberto Balconi (als S. Giovanni), Sylva Pozzer (Salome), Orchestra Harmonices Mundi, Claudio Astronio u. a., erschienen bei stradivarius, 2006.
- mit
Martin Oro
(als S. Giovanni), Anke Hermann (Salome), Academia Montis Regalis, Alessandro de Marchi u. a., erschienen bei hyperion, 2008
- ↑
a
b
c
d
e
f
g
h
i
j
k
l
m
n
o
p
Luca Della Libera:
GROSSI, Giovanni Francesco, detto Siface.
In: Mario Caravale (Hrsg.):
Dizionario Biografico degli Italiani
(DBI). Band 59:
Graziano?Grossi Gondi.
Istituto della Enciclopedia Italiana, Rom 2002, ((italienisch), abgerufen am 17. Oktober 2019).
- ↑
Stand: Herbst 2019
- ↑
a
b
c
d
Tim Ashley: ?Filippo Mineccia: Siface; L’amor castrato“, CD-Rezension auf der Website von:
Gramophone
(englisch; abgerufen am 17. Oktober 2019)
- ↑
Dies deutet vermutlich auf eine ausschließliche Verwendung als Solist hin.
- ↑
?…le sue dimissioni dalla Cappella Sistina furono accolte con estremo rammarico dagli altri cantori.“; in: Luca Della Libera: ?GROSSI, Giovanni Francesco, detto Siface“, in:
Dizionario Biografico degli Italiani, Volume 59
, 2002, online auf:
Treccani
(italienisch; abgerufen am 17. Oktober 2019)
- ↑
a
b
Informationen zur CD ?Siface, L’amor castrato“ (2018), mit Filippo Mineccia (Countertenor), dem Ensemble Nereydas und Javier Ulises Illan (Leitung) auf der Website von
Glossa
(abgerufen am 17. Oktober 2019)
- ↑
Il ratto delle Sabine
(Pietro Simone Agostini)
im Corago-Informationssystem der
Universitat Bologna
.
- ↑
?
Fece dire l’Amb[asciato]r di Francia a Gio. Francesco Musico chiamato comunem[en]te col nome di Siface, che voleva cantasse la sera. Rispose questi esser stuffo di cantare a uffo, e tacciando di scrocco l’Amb[asciato]re p[er] non haverli mai donato cosa alcuna benche molte volte l’havesse fatto cantare, con altri termini poco riverenti ricuso di servirlo. L’Amb[asciato]re alterato fece minacciarlo di bostone, disse al Card. Maidalchino che lo scacciasse di sua Casa, dove egli abitava, se ne ando nel Palazzo del Duca di Modona, al q[ua]le serve, e si sente che dopo se ne sia partito
“. Marko Deisinger:
Musikbezogene Quellen aus der Korrespondenz zwischen Rom und dem Wiener Kaiserhof
, in: Musicologica Brunensia 53 (2018, 3), Universitat Wien, S. 25?26, und Anhang: 4. Korrespondenz 64 (Rom 17. Juli 1683)
- ↑
Il Pompeo
(Alessandro Scarlatti)
im Corago-Informationssystem der
Universitat Bologna
.
- ↑
Henry Purcell: ?Samtliche Klavierwerke“, hrsg. v. Istvan Mariassy, Urtext, Konemann Music, Budapest, 2000, S. 24 und Informationen in den Anmerkungen (ohne Seitenzahl)
- ↑
Il Maurizio
(Domenico Gabrielli)
im Corago-Informationssystem der
Universitat Bologna
.
- ↑
Eteocle e Polinice
(Giovanni Legrenzi)
im Corago-Informationssystem der
Universitat Bologna
.
- ↑
Alessandro Ademollo:
I teatri di Roma nel secolo decimosettimo
, Rom 1888, S. 141?144; hier nach Luca Della Libera: ?GROSSI, Giovanni Francesco, detto Siface“, in:
Dizionario Biografico degli Italiani, Volume 59
, 2002
- ↑
Der Mord an Siface erinnert entfernt an die Biographie des Komponisten
Alessandro Stradella
, der ebenfalls wegen einer Liebesgeschichte mit einer jungen venezianischen Adligen von deren Familie ermordet wurde. Im Gegensatz zu Stradella, der das Madchen entfuhrte oder mit ihm durchbrannte, scheint sich Siface aber zuruckhaltender verhalten zu haben (vielleicht wegen seines korperlichen ?Handicaps“ ?).
- ↑
hier in der Ubersetzung durch Johann Adam Hiller in:
Anweisung zum musikalisch=zierlichen Gesange
(Leipzig: Johann Friedrich Junius, 1780), Vorrede, S. XVII
- ↑
Die Zahl der hier genannten Werke ist auch deshalb nur klein, weil die Sanger in Opernauffuhrungen des 17. Jahrhunderts haufig gar nicht bekannt sind (manchmal auch nicht die Komponisten).
- ↑
Il ratto delle Sabine
(Pietro Simone Agostini)
im Corago-Informationssystem der
Universitat Bologna
.
- ↑
La Psiche, o vero Amore innamorato
(Alessandro Scarlatti)
im Corago-Informationssystem der
Universitat Bologna
.
- ↑
Le due germani rivali
(Carlo Ambrogio Lonati)
im Corago-Informationssystem der
Universitat Bologna
.
- ↑
Il Maurizio
(Domenico Gabrielli)
im Corago-Informationssystem der
Universitat Bologna
.
- ↑
Il favore de gli dei
(Bernardo Sabadini)
im Corago-Informationssystem der
Universitat Bologna
.
- ↑
La gloria d’amore
(Bernardo Sabadini)
im Corago-Informationssystem der
Universitat Bologna
.
- ↑
L’ ingresso alla gioventu di Claudio Nerone
(Antonio Giannettini)
im Corago-Informationssystem der
Universitat Bologna
.
- ↑
Demetrio tiranno
(Bernardo Sabadini)
im Corago-Informationssystem der
Universitat Bologna
- ↑
L’ Aiace
(Carlo Ambrogio Lonati)
im Corago-Informationssystem der
Universitat Bologna
. (abgerufen am 17. Oktober 2019)
- ↑
Almansorre in Alimena
(Carlo Francesco Pollarolo)
im Corago-Informationssystem der
Universitat Bologna
.