Psychopathologie
(von
griechisch
ψυχ?
psyche
, ?Seele“, und π?θο?
pathos
, ?Leiden(schaft), Krankheit“, die
?Lehre von den Leiden der
Seele
“
) ist ein Teilbereich der
Psychiatrie
und der
Klinischen Psychologie
.
Sie kann als Lehre von den
psychischen Storungen
auf
Symptom
- und
Syndromebene
bezeichnet werden.
Im engeren Sinn ist sie eine wissenschaftliche Methodik zur Erfassung, Beschreibung und Einordnung von u. a.
Erlebens-
und
Verhaltensweisen
eines als psychisch krank geltenden Menschen.
Sie fuhrt zu einem
psychopathologischen Befund
als Baustein fur eine
diagnostische
Zuordnung, fur
Begutachtung
oder fur Verlaufsbeurteilungen im Rahmen einer
Therapie
.
Neben der Benennung und Aufzahlung einzelner psychischer Auffalligkeiten und deren Ordnung zu Symptomkomplexen (Syndromen) sucht sie auch einen Bezug zur lebensgeschichtlichen Entwicklung, zu sozialen Gegebenheiten sowie zu gesunden Personlichkeitsanteilen.
Der Begriff ?Psychopathologie“ wurde im 19. Jahrhundert gepragt. Er umfasst in seiner Geschichte durchaus kontroverse Konzepte,
[1]
[2]
ist aber grundsatzlich zu unterscheiden von der
somatisch
orientierten
Pathologie
. ?Psychopathologie“ und ?
Pathopsychologie“
werden in der Regel synonym benutzt.
[3]
Folgende psychische Funktionen werden dabei u. a. untersucht:
[4]
Psychopathologie kann als wissenschaftliche
Methodenlehre
der Psychiatrie verstanden werden, wobei psychologische Denkkategorien auf psychische Krankheiten angewendet werden. Untersucht wird somit die psychische Seite hinter abnormen seelischen Phanomenen und Zustanden.
[5]
Es wird damit ein Vokabular bereitgestellt, um psychische Symptome moglichst genau beschreiben,
klassifizieren
und teilweise auch erklaren zu konnen.
[4]
Psychopathologie wird als Teilgebiet der Psychiatrie meist an medizinischen Fakultaten unterrichtet; an einigen Universitaten jedoch auch als Teilgebiet der Klinischen Psychologie.
Die psychopathologischen
Symptome
(einzelne Krankheitszeichen) und
Syndrome
(Gruppen von Krankheitszeichen) bilden ein wichtiges Instrumentarium fur die psychiatrische und psychologische
Diagnostik
. Die Ergebnisse davon werden im
psychopathologischen Befund
festgehalten.
Durch das System der
Arbeitsgemeinschaft fur Methodik und Dokumentation in der Psychiatrie
(
AMDP-System
) wurde eine umfassende Katalogisierung der großen Zahl von Storungssymptomen vorgenommen. Dabei ergab sich folgende Gliederung:
Jede dieser Symptomgruppen enthalt wiederum mehrere, genauer spezifizierte Symptome.
In der modernen Psychiatrie und Psychotherapie wird anstelle von
Krankheit
bevorzugt von
Storung
(untergliedert in
psychische Storung
und
Verhaltensstorung
) gesprochen, weil das Wort Krankheit
stigmatisieren
kann. Zudem handelt es sich bei den bisherigen Beschreibungen psychischer Storungen streng genommen nur um Symptomkombinationen (
Syndrome
), aber nicht um Krankheiten im klassischen medizinischen Sinne (wie z. B.
Infektionskrankheiten
). Der Begriff
Krankheit
ware nur dann angemessen, wenn Ursachen, Symptommuster, Verlauf, Behandlung etc. bekannt und eindeutig waren. Das jedoch ist bei keinem der heutigen Syndrome der Fall, die in Psychiatrie und klinischer Psychologie behandelt werden.
Zur Annaherung an eine Definition werden u. a. folgende Punkte untersucht:
[6]
- statistische Seltenheit,
- unangemessene Reaktionen,
- Leidensdruck
,
- Verletzung der sozialen Norm
Sind einige dieser genannten Kriterien erfullt, kann eine psychische Storung oder eine Verhaltensstorung angenommen werden. Zur genauen Feststellung bedarf es jedoch einer detaillierten Erhebung der Krankengeschichte (
Anamnese
) und Abgrenzung von anderen Krankheitsbildern (
Differenzialdiagnostik
). Nach der genauen, weiteren Erkundung (
Exploration
) von moglichen Krankheitssymptomen wird mit Hilfe eines Klassifikationssystems (
ICD-10
oder
DSM-5
) die passende Diagnose gestellt. Eine Diagnose dient auch der Auswahl von Therapiemethoden.
[7]
Wahrend
Pathologie
(Pathologische Anatomie) die korperlichen Aspekte von Kranksein und Krankheit untersucht, befasst sich die Psychopathologie mit deren psychischen Bedingungen. Da Psychopathologie auch die korperlichen Auswirkungen auf seelisches Befinden umfasst, ist eines ihrer Hauptgebiete die
psychophysische Korrelation
, d. h. der Zusammenhang von korperlicher und seelischer Auffalligkeit. Es besteht auch heute noch in der Medizin eine Konkurrenz verschiedener Theorien, die sich aus dem dialektisch seit uber 2000 Jahren ungeklarten
Leib-Seele-Problem
ergibt. Der geschichtlich wichtigste Zusammenhang ist der von Psychopathologie und
Neurologie
. Hieraus entwickelten sich die historisch bedeutsamen Positionen der
Somatiker
.
[8]
Aus der Kenntnis neurologischer Gesetzmaßigkeiten haben sich bedeutende Fortschritte der Psychopathologie ergeben, z. B. auf dem Gebiet der
Leistungspsychologie
unter Zugrundelegung des
Reflexbogens
. Therapeutisch konnten sich diese Vorstellungen als lerntheoretische Grundlage der
Verhaltenstherapie
bewahren (
Pawlow
). Umgekehrt haben die Ergebnisse psychopathologischer Untersuchungen auch die Entwicklung der herkommlichen (korperlichen) Medizin begunstigt (
Psychosomatische Medizin
). Methodische Unterschiede bestehen z. B. in den gegensatzlichen Sichtweisen des
Aufwarts- und Abwartseffekts
fur die Entstehung von Krankheiten.
Aufwartseffekt
bedeutet hier die Verursachung von psychischen Krankheiten durch korperliche Veranderungen.
Abwartseffekt
heißt dementsprechend korperliche Krankheitsentwicklung durch seelische Auffalligkeiten. Dieses Konzept vertritt das Prinzip der Wechselwirkungen zwischen Leib und Seele. Es gilt heute als am wahrscheinlichsten (Schischkoff 1982). Pathologie und Psychopathologie konnten beide wesentliche Beitrage zur Krankheitslehre (
Nosologie
) erbringen. Sowohl die Abgrenzung beider Gebiete als auch deren Zusammenschau erbrachte also deutliche Vorteile fur beide Seiten.
Als nachteilig ist die Uberbewertung einer von beiden Disziplinen anzusehen. Dies ware auf der einen Seite der Standpunkt des
Materialismus
, der in der Krankheitslehre begrifflich als
Maschinenparadigma
bekannt geworden ist, andererseits die Haltung des
Psychologismus
, die hauptsachlich zur Zeit der Romantik aufkam. Medizingeschichtlich sind in dieser Zeit auch die Standpunkte als die der
Psychiker und Somatiker
bedeutsam geworden. Allerdings durfen die Psychiker nicht mit den psychologisierenden Theoretikern des
Psychologismus
verwechselt werden. Sie vertraten ein eher erzieherisches Konzept.
[9]
Als
Neurologisierung
ware die Uberbetonung neurologischer Aspekte fur die Psychopathologie zu nennen, wie sie z. B. von
Wilhelm Griesinger
vertreten wurde mit seinem Fazit: ?Geisteskrankheiten sind Gehirnkrankheiten“. Sein Standpunkt ware demnach als der eines Somatikers zu bezeichnen.
[8]
Die Geschichte der Psychopathologie ist eng mit der
Geschichte der Psychiatrie
verbunden. Die Anfange der Psychopathologie konnen schon in der Antike, z. B. in
Aristoteles
Werk
de anima
veranschlagt werden. Die neuere Psychopathologie hat ihren Anfang im 19. Jahrhundert. Der Begriff wurde erstmals 1878 vom Freiburger Psychiater
Hermann Emminghaus
gepragt.
[10]
[11]
Systematisch wurde die Psychopathologie von
Karl Jaspers
aufbereitet, u. a. in seinem Lehrbuch
Allgemeine Psychopathologie (1913)
.
Kurt Schneider
entwickelte u. a. eine Systematik der
Klinischen Psychopathologie
. Eine Studie von
Sigmund Freud
behandelt eine
Psychopathologie des Alltagslebens
.
Die zunehmend wissenschaftlich fundierte Ausgestaltung der Krankheitsklassifikationssysteme ICD (
Internationale Klassifikation der Krankheiten
) und DSM (
Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders
) ist ein Spiegelbild der neueren Entwicklungen der Psychopathologie die Krankheitsdiagnosen betreffend.
Geschichte
- Erwin H. Ackerknecht
:
Kurze Geschichte der Psychiatrie.
3. Auflage. Enke Verlag, Stuttgart 1985,
ISBN 3-432-80043-6
, S. 59.
- Norbert Andersch:
1929?2009. Vor 80 Jahren. Zur Pathologie des Symbolbewusstseins. Ernst Cassirers uneingeloster Beitrag zu einer radikalen Reform der Psychopathologie.
In:
Bernd Holdorff
,
Ekkehard Kumbier
(Hrsg.):
Schriftenreihe der Deutschen Gesellschaft zur Geschichte der Nervenheilkunde.
Band 16, Wurzburg 2010, S. 109?124.
- German Berrios:
The History of Mental Symptoms.
Cambridge University Press,
ISBN 0-521-43736-9
.
- Markus Jager:
Konzepte der Psychopathologie. Von Karl Jaspers zu den Ansatzen des 21. Jahrhunderts.
Kohlhammer, 2015,
ISBN 9783170297814
.
- Werner Leibbrand
,
Annemarie Wettley
:
Der Wahnsinn. Geschichte der abendlandischen Psychopathologie.
1961 (=
Orbis Academicus
.
Band II, 12).
Lehrbucher
- Karl Jaspers
:
Allgemeine Psychopathologie: Ein Leitfaden fur Studierende, Arzte und Psychologen.
Nachdruck der 5. Auflage von 1946. Springer, Berlin/Heidelberg 2013,
ISBN 978-3-642-49410-9
.
- Theo R. Payk
:
Psychopathologie. Vom Symptom zur Diagnose.
4. Auflage. Springer, 2015,
ISBN 978-3-662-45530-2
(=
Springer Lehrbuch
).
- Ernst Ryffel:
Trilogie der Psychopathologie.
Amazon,
ISBN 978-3-9525633-0-4
,
ISBN 978-3-9525633-1-1
,
ISBN 978-3-9525633-2-8
.
- Christian Scharfetter
:
Allgemeine Psychopathologie. Eine Einfuhrung.
8. Auflage. Thieme, Stuttgart 2020,
ISBN 978-3-13-243843-9
.
- Kurt Schneider
:
Pathopsychologie im Grundriß.
Walter de Gruyter & Co., Berlin 1931 (Sonderausgabe aus dem
Handworterbuch der psychischen Hygiene und der psychiatrischen Fursorge
, hrsg. von
Oswald Bumke
und anderen).
Worterbucheintrage
- Uwe Henrik Peters
(1984):
Worterbuch der Psychiatrie und medizinischen Psychologie.
3. Auflage. Urban & Schwarzenberg; Eintrag
Psychopathologie
(Seite 449 f.) und Eintrag
Griesinger, Wilhelm
(Seite 223) hier zum Stw. Neurologisierung.
- Georgi Schischkoff
(Bearb.):
Philosophisches Worterbuch.
14. Auflage. Alfred Kroner Verlag, Stuttgart 1982,
ISBN 3-520-01321-5
; Eintrag
Leib-Seele-Problem
(Seite 402), vgl. auch Peters, ebenda und sein Begriff der
psychophysischen Korrelation.
- ↑
Markus Jager:
Konzepte der Psychopathologie. Von Karl Jaspers zu den Ansatzen des 21. Jahrhunderts.
2015.
- ↑
Christian Scharfetter
:
Allgemeine Psychopathologie. Eine Einfuhrung.
Thieme, Stuttgart 2020,
ISBN 978-3-13-243843-9
.
- ↑
Theo R. Payk:
Pathopsychologie. Vom Symptom zur Diagnose.
Springer, 2002,
ISBN 978-3-662-09223-1
.
- ↑
a
b
Pschyrembel Klinisches Worterbuch.
267. Auflage. De Gruyter, 2017,
ISBN 978-3-11-049497-6
. (
Stichwort Psychopathologie, online
)
- ↑
Stichwort
Psychopathologie
. In:
Uwe Henrik Peters
:
Worterbuch der Psychiatrie und medizinischen Psychologie.
1999,
ISBN 3-86047-864-8
, S. 422?423.
- ↑
Siehe Abschnitt
Was ist eine psychische Storung?
- ↑
Gerald C. Davison, John M. Neale,
Martin Hautzinger
(2016):
Klinische Psychologie.
Beltz Verlag
,
ISBN 978-3-621-28441-7
. S. 6 f. (
Leseprobe
(
Memento
des
Originals
vom 19. Februar 2018 im
Internet Archive
)
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)
- ↑
a
b
Uwe Henrik Peters
:
Worterbuch der Psychiatrie und medizinischen Psychologie
. Urban & Schwarzenberg, Munchen 3. Auflage 1984, Stw. Psychopathologie, Seite 449.
- ↑
Erwin H. Ackerknecht
:
Kurze Geschichte der Psychiatrie.
Enke, Stuttgart
3
1985,
ISBN 3-432-80043-6
, S. 59 f.
- ↑
Hermann Emminghaus (1878):
Allgemeine Psychopathologie zur Einfuhrung in das Studium der Geistesstorungen
(
Digitalisat
).
- ↑
Psychopathologie
(
Memento
des
Originals
vom 24. September 2019 im
Internet Archive
)
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in DORSCH Lexikon der Psychologie.