Proteste in Israel 2011/2012

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Demonstration in Tel Aviv am 6. August 2011

Die Proteste in Israel 2011/2012 begannen im Juli 2011. Die Demonstrierenden treten fur mehr soziale Gerechtigkeit, insbesondere fur eine Entspannung am Wohnungsmarkt ein. Inhaltliche Zusammenhange zu den Ereignissen des Arabischen Fruhlings sind in den Raum gestellt worden, [1] [2] sie sind jedoch recht lose; die Proteste richten sich vor allem gegen spezifisch israelische Probleme.

Die soziale Ungleichheit des Landes ist großer als in den meisten anderen Landern der westlichen Welt, [3] etwa ein Viertel der Bevolkerung lebt unter der Armutsgrenze . Hinzu kommen hohe Lebenshaltungskosten , die oft sogar von Familien mit zwei in Vollzeit arbeitenden Mitgliedern kaum bestritten werden konnen. [4] Besonders stark betroffen sind die Wohnkosten, die zwischen Januar 2009 und Januar 2011 um fast 40 Prozent stiegen, [5] aber auch die Preise vieler Lebensmittel stiegen in den letzten Jahren deutlich starker an als die Lohne. [6] Dies wird unter anderem darauf zuruckgefuhrt, dass in Israel ein sogenannter crony capitalism entstanden ist, da ca. 60 Prozent des israelischen Wirtschaftskapitals in den Handen von 18 Familien liegt. Deshalb existieren in Israel oligarchische Strukturen, durch die insbesondere die Lebensmittelpreise gesteuert werden konnen. Dies fuhrte zur paradoxen Situation, dass israelische Exportartikel (wie z. B. Olivenol) in Israel teurer sind als in den jeweiligen Importlandern. [7]

Bereits im Juni 2011 war es nach Aufrufen im Internet zu einem spontanen Boykott von Huttenkase ? der in Israel als Grundnahrungsmittel gilt ? gekommen, dessen Preis zuvor innerhalb von drei Jahren um 40 Prozent gestiegen war. [8] Ein kurz darauf beschlossenes Gesetz, das Boykottaufrufe gegen israelische Produkte unter Strafe stellt, wurde stark kritisiert, da es als Symbol fur eine fortschreitende Aushohlung der Demokratie zugunsten nationalistischer Interessen gesehen wurde. [9]

Zudem fanden 2011 bereits Streiks mehrerer Berufsgruppen fur bessere Bezahlung und bessere Arbeitsbedingungen statt. [10]

Auch die starke Unterstutzung der israelischen Siedlungen in den von Israel besetzten Gebieten wird kritisch gesehen. Fur Sozialleistungen, Infrastrukturaufbau, militarische Sicherung und weitere Vergunstigungen werden hier nach Schatzungen eines israelischen Think Tanks weit uber eine Milliarde Dollar pro Jahr ausgegeben, [11] bei einem Staatshaushalt von knapp 70 Milliarden Dollar. [12] Ein Siedler erhalt vom Staat durchschnittlich doppelt so viel Geld wie ein Bewohner des israelischen Kernlandes, berichtete der israelische Politiker Haim Ramon . Dies ist teilweise durch den hohen Anteil ultraorthodoxer Juden unter den Siedlern zu erklaren, die mehrere Jahre mit dem Torastudium verbringen und wahrenddessen keiner Arbeit nachgehen. Zudem ist die Geburtenrate unter dieser Bevolkerungsgruppe uberdurchschnittlich hoch, was neben staatlichen Zahlungen auch die Siedlungen anwachsen lasst. [13]

Bezug zum Arabischen Fruhling

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Wahrend die Demonstrationen in Israel sich hauptsachlich auf landesspezifische Probleme zuruckfuhren lassen, die sich von den Problemen in anderen Landern deutlich unterscheiden, beziehen die Demonstranten sich dennoch auf den Arabischen Fruhling. So stand 2011 etwa auf Plakaten in der Zeltstadt in Tel Aviv : ?Rothschild ist unser Tahrir-Platz “. [14] Eine Mitorganisatorin der Proteste sagte, die Menschen hatten durch die Ereignisse auf dem Tahrir-Platz ?plotzlich begriffen, dass die Macht in den Handen des Volkes liegt und dass man die Geschichte seines Landes in die eigenen Hande nehmen muss.“ [1]

Entwicklung der Proteste

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Zeltstadt auf dem Rothschild-Boulevard in Tel Aviv am 25. Juli 2011
Demonstration in Tel Aviv am 27. August 2011

Die Proteste begannen am 14. Juli 2011 in Tel Aviv, nachdem der Filmemacherin Daphni Leef die Wohnung gekundigt wurde und sie keine neue erschwingliche Unterkunft fand. Sie beschloss, auf dem Mittelstreifen des Rothschild-Boulevard ihr Zelt aufzuschlagen, und schrieb auf Facebook: ?Ich habe keine Wohnung, kann mir keine leisten und gehe auf dem Rothschild-Boulevard in einem Zelt demonstrieren. Wer macht mit?“ [1] Innerhalb einer Woche schlossen sich mehrere hundert Demonstranten an, Anfang August hatte die Zeltstadt eine Lange von 1,5 Kilometern erreicht.

Am 24. Juli demonstrierten 20.000 Menschen in Tel Aviv fur bezahlbaren Wohnraum. Zwei Tage spater kundigte der israelische Ministerprasident Benjamin Netanjahu an, innerhalb von zwei Jahren 10.000 Platze in Studentenwohnheimen sowie Anreize zum Bau von 50.000 erschwinglichen Wohnungen schaffen zu wollen. [14] Die Demonstrationen wuchsen jedoch weiter an, und bereits am 30. Juli gingen landesweit uber 100.000 Menschen auf die Straßen. [4] Neben Mieten wurden zunehmend auch andere Probleme, etwa Verschlechterungen der Gesundheitsversorgung und des Bildungssystems, angesprochen. Die Gewerkschaft Histadrut unterstutzte die Demonstranten und kundigte einen Generalstreik an. [3] Am Folgetag setzte Netanjahu ein Expertenteam ein, das sich mit der Krise beschaftigen soll. [4] Bereits am 3. August wurde von der Knesset ein Gesetz beschlossen, das burokratische Hurden bei der Bauplanung abbauen sollte. Die Demonstranten befurchteten, dass dadurch hauptsachlich Luxusbauten gefordert wurden, jedoch kein bezahlbarer Wohnraum. [15]

Im August wuchsen die Demonstrationen auf 200.000 bis 350.000 Teilnehmer an und wurden so zur großten Protestbewegung seit vier Jahrzehnten. [16] Neben Tel Aviv fanden auch in vielen weiteren Stadten Kundgebungen statt. [17] Auch arabische Israelis schlossen sich den Demonstrationen an. [18]

Demonstration in Tel Aviv am 3. September 2011
Demonstration in Tel Aviv am 3. September 2011

Fur den 3. September wurde eine Demonstration unter dem Titel Marsch einer Million ( march of a million ) angekundigt. Bei dieser großten Demonstration in der israelischen Geschichte gingen in Tel Aviv zwischen 300.000 und 500.000 Demonstranten auf die Straße, landesweit waren es weitere 150.000. [19]

Am 6. September verteilte die Stadtverwaltung von Tel Aviv Flugblatter, wonach die Zeltstadte bis zum judischen Neujahrsfest Rosch ha-Schana geraumt werden sollten. [20] Entgegen vorherigen Abmachungen wurden bereits in der darauffolgenden Nacht von stadtischen Angestellten und Polizisten Zelte entfernt, obwohl viele davon bewohnt waren. Der Burgermeister von Tel Aviv entgegnete, es habe sich nicht um Abriss-, sondern um Aufraumarbeiten gehandelt. [21]

In der Bevolkerung haben die Proteste einen sehr starken Ruckhalt. Einer Umfrage der Zeitung Haaretz zufolge wurden 87 Prozent der israelischen Bevolkerung die Proteste unterstutzen, mehr als die Halfte der Befragten waren mit den Reaktionen der Regierung nicht zufrieden. [22] Einer anderen Umfrage zufolge unterstutzten selbst 85 Prozent der Anhanger von Netanjahus Likud -Partei die Proteste. [23]

Forderungen der Demonstranten

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Die Bewegung begann mit der Forderung nach bezahlbarem Wohnraum, innerhalb kurzer Zeit wurden jedoch auch allgemeinere Forderungen nach einer Senkung der Lebenshaltungskosten und sozialer Gerechtigkeit [2] erhoben.

Als problematisch wird angesehen, dass die beteiligten Gruppen ein sehr breites inhaltliches Spektrum bilden und daher in ihren Forderungen nicht einheitlich auftreten. [19] Ari Shavit von der israelischen Zeitung Haaretz erklarte: ?Gesellt sich eine weitere gesellschaftliche Gruppierung zu den Protesten hinzu, dann werden deren Forderungen einfach an die anderen angehangt.“ [24]

Auch politische Forderungen, etwa nach einem respektvollen Zusammenleben mit Arabern und Beduinen sowie nach dem Ende des Siedlungsbaus, wurden auf Demonstrationen geaußert. [18] Die Organisatoren vermeiden solche Themen jedoch weitgehend, da sie andernfalls ein Auseinanderbrechen der Bewegung furchten. [4]

Gewaltsame Eskalation 2012

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Bei Protesten in Tel Aviv kam es am 23. Juni 2012 erstmals zu gewalttatigen Auseinandersetzungen zwischen der Polizei und den Demonstranten, wobei mehr als 80 Menschen festgenommen wurden. Die Polizei sprach von einer illegalen und nicht genehmigten Demonstration. Etwa 6500 Menschen hatten sich am Abend im Stadtzentrum unter dem Motto ?Notfallprotest ? die Macht dem Volk zuruckgeben!“ zu einer Kundgebung versammelt, wobei Teilnehmer eine zentrale Verkehrsader Tel Avivs sowie die Stadtautobahn blockierten. Weitere Teilnehmer brachen in drei Bankfilialen ein. Einen Tag zuvor hatte die Polizei eine der Fuhrungspersonlichkeiten des Protests, Daphni Leef, sowie zwolf weitere Mitglieder festgenommen, als sie mit mehreren hundert anderen Demonstranten versucht hatten, auf dem zentralen Rothschild-Boulevard in Tel Aviv Protestzelte aufzustellen. [25]

Weitere Proteste im Juli und August

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In der zweiten Julihalfte 2012 starben zwei Israelis, die sich im Zuge der Proteste selbst angezundet hatten. An den Protesten beteiligten sich beispielsweise am 15. Juli nach israelischen Polizeiangaben 8000 Menschen. Anfang August beschloss die israelische Regierung etwa die Erhohung der Mehrwertsteuer, was wiederum zu einem Aufflammen der Proteste fuhrte. [26] Derzeit liegt diese bei 18 %. [27]

Commons : Proteste in Israel 2011  ? Sammlung von Bildern und Videos

Einzelnachweise

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  1. a b c Richard C. Schneider: Leben ? oder untergehen. (H.264/MPEG4 oder Ogg/Theora) In: Videoblog ?Zwischen Mittelmeer und Jordan“. tagesschau.de, 7. August 2011, archiviert vom Original am 27. September 2011 ; abgerufen am 3. September 2011 .
  2. a b Gil Yaron: Israel und der ?Arabische Fruhling“. (PDF; 1,9 MB) Innenpolitische Konsequenzen. In: Aus Politik und Zeitgeschichte . Bundeszentrale fur politische Bildung, 26. September 2011, S. 35ff., 39f. , abgerufen am 25. September 2011 (Nr. 39/2011).
  3. a b Die Zeit: 100.000 gegen Netanjahu 31. Juli 2011, abgerufen am 3. September 2011
  4. a b c d Die Zeit : Israels schweigende Mehrheit rebelliert 1. August 2011, abgerufen am 3. September 2011
  5. Central Bureau of Statistics: Entwicklung der Wohnkosten in Israel (1994?2011) Juli 2011, abgerufen am 7. September 2011
  6. Central Bureau of Statistics: Entwicklung der Lebensmittelpreise in Israel (2002?2011) Juli 2011, abgerufen am 7. September 2011; Central Bureau of Statistics: Entwicklung der Lohne in Israel verglichen mit 2004 Juli 2011, abgerufen am 7. September 2011
  7. Fokus Nahost Die Bombe tickt.
  8. Nathan Jeffay: A Soft Food Falls on Hard Times. Israeli Anger Rises and Falls With the Price of Cottage Cheese. forward.com, 28. Juni 2011, abgerufen am 3. September 2011 (englisch).
  9. Richard C. Schneider: "Linke Gruppen sollen zum Schweigen gebracht werden". (H.264/MPEG4 oder Ogg/Theora) In: Videoblog ?Zwischen Mittelmeer und Jordan“. tagesschau.de, 18. Juli 2011, archiviert vom Original am 19. Juli 2011 ; abgerufen am 3. September 2011 .
  10. Al Jazeera English: Israelis hold 'march of a million' protest 3. September 2011, abgerufen am 4. September 2011
  11. Al Jazeera English: Will the Israeli left talk about occupation? 9. August 2011, abgerufen am 7. September 2011
  12. CIA: The World Factbook ( Memento des Originals vom 24. Dezember 2018 im Internet Archive )   Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht gepruft. Bitte prufe Original- und Archivlink gemaß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis. @1 @2 Vorlage:Webachiv/IABot/www.cia.gov Schatzung des israelischen Staatshaushalts fur 2010, abgerufen am 7. September 2011
  13. 20 Minuten : Verteilungsprobleme. Offnet Israel die Buchse der Pandora? 6. August 2011, abgerufen am 7. September 2011
  14. a b Spiegel Online: Zorn der Mittelschicht trifft Netanjahu 27. Juli 2011, abgerufen am 3. September 2011
  15. Al Jazeera English : Israeli protesters reject new housing bill 3. August 2011, abgerufen am 5. September 2011
  16. Spiegel Online: Hunderttausende demonstrieren fur soziale Gerechtigkeit 7. August 2011, abgerufen am 5. September 2011
  17. tagesschau.de: Proteste erreichen Israels kleinere Stadte ( Memento vom 11. Oktober 2011 im Internet Archive ) 13. August 2011, abgerufen am 3. September 2011
  18. a b Andreas Hackl: Proteste in Israel: "Weder faul noch verwohnt". taz.de , 14. August 2011, abgerufen am 14. August 2011 .
  19. a b Al Jazeera English: Mass rallies revive Israeli protest movement 4. September 2011, abgerufen am 4. September 2011; Frankfurter Allgemeine Zeitung : Massendemonstrationen fur soziale Gerechtigkeit 4. September 2011
  20. Haaretz: Tel Aviv officials call to dismantle tent protest camps by jewish holidays 6. September 2011, abgerufen am 7. September 2011
  21. Haaretz: Israel Police raid social protest tent encampments in Tel Aviv 7. September 2011, abgerufen am 7. September 2011
  22. Haaretz: Haaretz poll: Netanyahu losing public support over handling of Israeli housing protest 26. Juli 2011, abgerufen am 5. September 2011
  23. ???: 85% ??????? ?????? ?-78% ??"? - ?????? ????? ???????. Nana 10, 2. August 2011, archiviert vom Original (nicht mehr online verfugbar) am 1. Oktober 2011 ; abgerufen am 3. September 2011 (hebraisch).   Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht gepruft. Bitte prufe Original- und Archivlink gemaß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis. @1 @2 Vorlage:Webachiv/IABot/news.nana10.co.il
  24. Neues Deutschland : Israels Sozialproteste am Scheideweg 3. September 2011, abgerufen am 6. September 2011
  25. Schwere Ausschreitungen: Neuer Sozialprotest in Israel eskaliert bei Spiegel Online , 24. Juni 2012 (abgerufen am 24. Juni 2012); Sebastian Engelbrecht: Ausschreitungen bei Demonstration in Tel Aviv: Sozialproteste erstmals in Gewalt umgeschlagen ( Memento vom 25. Juni 2012 im Internet Archive ) bei tagesschau.de, 24. Juni 2012 (abgerufen am 24. Juni 2012).
  26. Soziale UnruhenZweiter Israeli stirbt nach Selbstanzundung bei handelsblatt.com, 1. August 2012 (abgerufen am 4. August 2012); Proteste in Israel Tausende demonstrieren gegen soziale Ungerechtigkeit bei suddeutsche.de, 15. Juli 2012 (abgerufen am 4. August 2012).
  27. http://www.die-mehrwertsteuer.de/de/uebersicht-steuersaetze.html