Das
Prinzip der begrenzten Einzelermachtigung
besagt, dass die
Europaische Union
(EU) nur uber diejenigen Zustandigkeiten (Befugnisse) verfugt, die ihr durch die
Vertrage
, auf die sich die Union grundet, ubertragen wurden.
[1]
Die EU kann also nicht eigenmachtig Kompetenzen an sich ziehen, sie besitzt keine
Kompetenz-Kompetenz
. Jede Rechtsetzung der EU bedarf einer ausdrucklichen Grundlage in den Vertragen. Im Ubrigen bleibt die Regelungsbefugnis bei den
Mitgliedstaaten
.
Die
Einzelstaaten
kommen durch eine Ermachtigung in
volkerrechtlichen
Vertragen des primaren Unionsrechts uberein, auf die Ausubung von
Hoheitsrechten
zu verzichten und die unmittelbare innerstaatliche Wirkung von Akten der EU zuzulassen. In Deutschland findet diese ?Ubertragung“ in
Art. 23
des
Grundgesetzes
ihre verfassungsrechtliche Legitimation; bevor dieser in Kraft trat, fand sie sie in
Art. 24
Abs. 1 GG. Im
Maastricht-Urteil
vom 12. Oktober 1993 bestatigte das
Bundesverfassungsgericht
die Verfassungsmaßigkeit des deutschen Zustimmungsgesetzes zum Vertrag zur Grundung der Europaischen Union aufgrund Art. 23 und 24 GG.
[2]
Der
Europaische Gerichtshof
betonte bisher in seinen Entscheidungen immer die Geltung des Prinzips der begrenzten Einzelermachtigung. Allerdings legte er die in den Vertragen enthaltenen Ermachtigungen bislang regelmaßig zugunsten der Kompetenzen der
Europaischen Union
weit aus (
Effet utile
).
So wird das Prinzip der begrenzten Einzelermachtigung erganzt durch die
Implied-Powers-Doktrin
. Diese besagt, dass die in den Vertragen vorgesehenen Kompetenznormen auch die Tatbestande erfassen, ohne die die Kompetenznormen nicht sinnvoll zur Anwendung gelangen konnen.
Im Rahmen der
Ultra-vires-Kontrolle
hat sich das
Bundesverfassungsgericht
in der Entscheidung vom 5. Mai 2020 die Prufung vorbehalten, ob sich eine Maßnahme europaischer Organe, Einrichtungen oder sonstiger Stellen innerhalb der vom nationalen Gesetzgeber an die EU ubertragenen Kompetenzen halt.
[3]
[4]
Zur Losung von Konflikten nationaler Verfassungsgerichte und des Europaischen Gerichtshofs uber die Abgrenzung mitgliedstaatlicher und europaischer Befugnisse wird deshalb die Errichtung einer besonderen Entscheidungsinstanz, beispielsweise eines europaischen
Kompetenzgerichtshofs
diskutiert.
[5]
Der
Vertrag von Lissabon
klart die Verteilung der Zustandigkeiten zwischen der EU und den Mitgliedstaaten. Diese Zustandigkeiten sind in drei Hauptkategorien unterteilt:
[1]
- Ausschließliche Zustandigkeiten der EU
(
Art. 3
AEUV
): Nur die EU kann in diesen Bereichen gesetzgeberisch tatig werden und verbindliche Rechtsakte erlassen. Die Mitgliedstaaten konnen nur dann selbst so verfahren, wenn die EU ihnen die Befugnisse erteilt, diese Rechtsakte umzusetzen.
- Geteilte Zustandigkeiten
(
Art. 4
AEUV): Die EU und ihre Mitgliedstaaten konnen Gesetze erlassen und verbindliche Rechtsakte beschließen. Die Mitgliedstaaten konnen ihre Zustandigkeit jedoch nur wahrnehmen, falls die EU ihre Zustandigkeit nicht ausubt bzw. entschieden hat, ihre eigene Zustandigkeit nicht auszuuben.
- Unterstutzende Zustandigkeiten (
Art. 6
AEUV): Die EU darf sich ausschließlich zur Unterstutzung, Koordinierung oder Erganzung der Maßnahmen der Mitgliedstaaten einbringen. Rechtsverbindliche EU-Rechtsakte bedingen nicht die Harmonisierung von Gesetzen oder Verordnungen der Mitgliedstaaten.
Fur die Ausubung der Zustandigkeiten der EU gelten zwei grundlegende Prinzipien, die in
Art. 5
des
Vertrags uber die Europaische Union
(EUV) festgelegt sind:
- Verhaltnismaßigkeit
. Inhalt und Umfang der Maßnahmen der EU durfen nicht uber das zur Erreichung der Ziele der Vertrage erforderliche Maß hinausgehen.
- Subsidiaritat
. In den Bereichen, die unter die geteilte Zustandigkeit fallen, darf die EU nur dann ? und auch nur in dem Umfang ? tatig werden, wenn das Ziel einer geplanten Maßnahme von den Mitgliedstaaten nicht angemessen erreicht werden kann, dies auf EU-Ebene aber durchaus erreichbar ist.
- ↑
a
b
Aufteilung der Zustandigkeiten in der Europaischen Union.
EUR-Lex, 24. Februar 2022.
- ↑
BVerfGE 89, 155 - Maastricht
- ↑
BVerfG, Urteil vom 5. Mai 2020 - 2 BvR 859/15, 2 BvR 1651/15, 2 BvR 2006/15, 2 BvR 980/16
- ↑
L. Fischer:
Ultra-vires- und Identitatskontrolle.
In: Große Huttmann, Wehling:
Das Europalexikon.
3. Auflage, Bonn 2020.
- ↑
vgl. Luca Frenkert:
Der Kompetenzkonflikt zwischen dem Bundesverfassungsgericht und dem Europaischen Gerichtshof ? Ein europaisches Kompetenzgericht als Losung?
Westfalische Hochschule Gelsenkirchen Bocholt Recklinghausen
, Recklinghauser Beitrage zu Recht und Wirtschaft Nr. 63/2022.