Der Begriff
Primitivismus
wurde erstmals 1861 in
Frankreich
als kunsthistorischer Begriff gebraucht und bedeutete eine Imitation des Primitiven, wobei man unter den ?Primitiven“ zunachst die
Italiener
und
Flamen
des 14. und 15. Jahrhunderts verstand. Seit Beginn des 20. Jahrhunderts bezeichnet der Begriff eine ?moderne Kunstrichtung, die sich von der Kunst der Primitiven anregen lasst“.
[1]
Primitivismus ist also keine Bezeichnung der Kunst
indigener Volker
, der fruher so genannten
Stammeskunst
. Im
Webster
von 1934 wurde der Begriff im philosophischen Sinne des ?Glaubens an die Uberlegenheit des primitiven Lebens, Ruckkehr zur Natur“ erweitert.
[2]
Schon in der
Antike
gab es Schriften, die den Verlust der Einfachheit und den Mangel an Klarheit z. B. in der
Rhetorik
beklagten. Im 16. und 17. Jahrhundert begegneten Europaer auf ihren Entdeckungsreisen ihnen unbekannte Gesellschaften und schatzten deren Lebensweisen. Diese
?Edlen Wilden“
hielten sie fur unverdorben, unschuldig und weise. Ihre reineren Tugenden hatten sie durch einfache Gedanken erreicht ? ganz im Gegensatz zur als oberflachlich und verweichlicht angesehenen Kunstlichkeit der
europaischen
Gesellschaft. Im 18. Jahrhundert griffen die
Aufklarer
diese Ideen auf und sahen im ?primitiven Leben“ den von ihnen angestrebten Gluckszustand. Diese Euphorie wurde zu einem zentralen Aspekt der fortschrittlichen politischen, religiosen und asthetischen Ideen seit der Aufklarung. Mit dem
Klassizismus
setzten sich in der Malerei ? teils im Ruckgriff auf Vorbilder der
Renaissance
? die klare, detailgenaue Linie, die Naturlichkeit und Einfachheit als asthetische Normen durch. So finden sich in fast jeder Epoche Ruckgriffe auf altere, ?primitive“ Vorlagen.
Der moderne Primitivismus geht weit uber die Forderung nach Klarheit hinaus. Nach William Rubin
[3]
ist er eines der Schlusselthemen der Kunst des 20. Jahrhunderts, und zwar zunachst vorrangig durch die Rezeption der damals sog. ?Negerkunst“ (
art negre
) Afrikas und Ozeaniens, die den Fauvismus, Kubismus und Expressionismus nachhaltig beeinflusste und in engem Zusammenhang mit der Entwicklung des europaischen
Kolonialismus
stand.
Der Begriff des Primitivismus bezeichnete seit etwa 1900 zunachst die Imitation der fruhen Italienischen und flamischen Schule, die man aufgrund ihrer ursprunglichen Einfachheit, ihres wenig ausgepragten llusionismus und ihrer mangelnden perspektivischen Darstellung schatzte.
[4]
Zwar konnte schon im Jahr 1882 das
Musee d’Ethnographie du Trocadero
eine anschauliche ethnographische Sammlung an Kunstgegenstanden aus Ubersee vorweisen, doch zeigten Kunstler damals noch kein Interesse dafur. Erst 1906 begannen die
Fauvisten
Sammlungen anzulegen, wobei sie vor allem jene Objekte sammelten, die wegen ihres verhaltnismaßig ausgepragten
Realismus
der aus dem 19. Jahrhundert uberlieferten Definition des ?Primitiven“ am meisten entsprachen. Oft wurde dieser stilisierte Realismus von westlichen Missionaren beeinflusst. Ein Einfluss dieser Arbeiten ist in den Werken der Fauvisten ersichtlich.
[5]
Das Werk von
Paul Gauguin
, der einen Wandel von einer Kunst der optischen Wahrnehmung (
Impressionismus
) zu einer Kunst der geistigen Konzeption erreichte, gilt als Ausgangspunkt des modernen Primitivismus, wobei sein Primitivismus mehr philosophischer als asthetischer Natur war. Als Kind wurde er 9 Jahre von seiner verwitweten Mutter in
Peru
aufgezogen und verbrachte sein Leben spater in der Weltmetropole Paris als Bankbeamter. Er trennte sich dann von Frau und Kind und von der ganzen ihm verhassten burgerlichen Gesellschaft und zog zuerst in die
Bretagne
, dann nach
Panama
,
Martinique
,
Tahiti
und beendete sein Leben auf den
Marquesasinseln
.
Gauguin, eine rastlose und innerlich zerruttete Person, strebte eine Selbstheilung an und versprach sich diese durch das Studium des Ursprunglichen, Primitiven, und durch die uberlegene Kraft vereinfachter Formen. In der ?zuruckgebliebenen“ Bretagne, in der er ein einfaches Leben fuhrte, erreichte er eine Abwendung vom Impressionismus und damit eine anti-
naturalistische
Haltung. Fur Gauguin blieb im Impressionismus das Hirn ein Sklave der Sinne. Er glaubte an eine Uberlegenheit des Geistes gegenuber der Materie (
Synthetismus
). Ein wichtiger Meilenstein in dieser Entwicklung ist dabei sein Bild aus dem Jahr 1889 ?Die Vision nach dem Gebet - Jakobs Kampf mit dem Engel“. Es zeigt einen neuen Formwillen, der starker von der Phantasie als von Natureindrucken bestimmt wird. Das Bild verbindet Sichtbares (betende Frauen) und
Visionares
(Kampf mit Engel). Die polynesische Kunst interessierte ihn nur eingeschrankt; er verwendete sie als dekoratives Hilfsmittel oder Symbol. Auch sah er Kulturen wie die
Agyptens
,
Kambodschas
usw. als primitiv an, welche heute nicht mehr als solche gelten.
Mit
Picassos
Bild
Les Demoiselles d’Avignon
von 1907 lasst sich eine entscheidende Wende in der Entwicklung des Primitivismus erkennen. Seinen kurz vor Fertigstellung des Bildes erfolgten Besuch im Ethnographischen Museum des Trocadero bezeichnete er als Schock, aber auch als Offenbarung.
[6]
Picasso und die
Kubisten
?schufen“ in Paris den Primitivismus des 20. Jahrhunderts, indem sie direkt auf einzelne Werke indigener Kunstler eingingen. Der Fauvismus war ihnen nicht ?wild“ genug. Die ?primitive“ Kunst der Kubisten hatte nun eine konkrete, enger gefasste und mehr asthetische als philosophische Bedeutung. Von wesentlichem Einfluss auf die Kubisten war die
Collection Baud
, eine der wenigen in der franzosischen Kolonialzeit entstandenen Sammlungen afrikanischer Volkskunst, die den Begriff
art Negre
mitpragte.
Russische Kunstler der
Avantgarde
wie
Welimir Chlebnikow
, die 1909 gegrundete russische Kunstlergruppe ?
Karo-Bube
“ um
Michail Fjodorowitsch Larionow
, benutzten Motive der indigenen Kunst als
Metaphern
fur die Krafte der Natur. 1911 veroffentlichte der ukrainische Maler
Alexander Wassilowitsch Schewtschenko
(1883?1943) ein ?neo-primitivistisches Manifest“, das zum Ausbruch aus der urbanisierten und technisierten Welt aufrief. Die russischen Primitivisten verbanden den Primitivismus jedoch bald mit den Darstellungsmitteln der
geometrischen Abstraktion
, des
Futurismus
oder
Rayonismus
.
Auch
Paul Klee
,
Joan Miro
,
Alberto Giacometti
,
Ossian Elgstrom
, der seine Anregungen aus
Lappland
bezog, oder
Alexander Calder
benutzten diese Motive der Naturvolker als
Metapher
fur die Krafte der Natur.
[7]
Die Malerin
Tarsila do Amaral
, eine der bedeutendsten Malerinnen des
modernismo brasileiro
, schuf von Paris aus Werke ? die bekanntesten sind
A Negra
(1923) und
Abaporu
(1928) ?, die die brasilianische Identitat weiterentwickeln sollten, indem sie die Indigenen Brasiliens darstellten. Diese Werke waren zwar vom europaischen
Kubismus
beeinflusst (man spricht von der
Picasso
Brasiliens), grenzten sich aber von deren Eurozentrismus ab.
[8]
Bezweifelt wurde von den brasilianischen Modernisten, dass der europaische Primitivismus, so in den Werken der Kubisten authentisch sei. Auch die
Bali
-Bilder des deutschen Malers
Walter Spies
werden dem Primitivismus zugerechnet.
1937 bildete der von den Nationalsozialisten verfemte Primitivismus einen Schwerpunkt in der Ausstellung ?
Entartete Kunst
“. Viele Bilder wurden aus Museen entfernt, beschlagnahmt, ins Ausland verkauft oder verbrannt.
Kunsttheoretiker wie
Robert Goldwater
nutzten in den 1930er und 1940er Jahren den Begriff des Primitivismus fur surrealistische Montagen, Collagen und Zitate von indigener, archaischer oder religioser Kunst, gefundenen Gegenstande, Antiquitaten oder ethnologischen Objekten, die durch ihre provozierende Gegenuberstellung ?primitive“, traumerische exotische oder erotische Assoziationen auslosten.
[9]
[10]
Christian Zervos
betonte demgegenuber die Anleihen der modernen Primitivisten bei der archaischen Kunst der Mittelmeerwelt.
Carl Einstein
begrundete den modernen Primitivismusdiskurs. Eine Steigerungsform des Primitivismus war fur ihn die ?barbarische“ Kunst.
[11]
Ernst Gombrich
nutzte den Begriff des ?Primitivismus“, der durch das Streben nach allgemeingultiger Wahrheit gekennzeichnet sei, als Gegenbegriff zum ?Modernismus“, der in der fortschreitenden Entwicklung der Kunste nur das jeweils Neueste gelten lassen wolle.
[12]
Nach dem
Zweiten Weltkrieg
nahmen Kunstler nur mehr selten Bezug auf einzelne Kunstobjekte. Es entstand ein indirekter, starker intellektuell als durch Anschauung gepragter Primitivismus. Die
Inspiration
kommt aus der
Ideengeschichte
und Soziologie, also mehr von Texten wie z. B. von
Georges Bataille
,
Michel Leiris
oder
Claude Levi-Strauss
als von Kunstwerken.
Martin Ortmeier
zieht zur Erlauterung primitivistischer Strukturen in der modernen Malerei die Erkenntnisse Jean Piagets zur ontogenetischen Entwicklung des Denkens (insbesondere des raumlichen Denkens) heran.
[13]
Margareth Werth
sah im primitivistischen Werk der Fauvisten eine Regression im psychoanalytischen Sinne, eine Umsetzung praodipaler Urphantasien.
[14]
Auch in der
Literatur
gab es primitivistische Stromungen,
[15]
so in Schweden der von zahlreichen Uberseerereisen beeinflusste
Artur Lundkvist
. Auch
Gottfried Benns
Werk wurde von Carl Einstein als primitivistisch bezeichnet. Allerdings kann es in der Literatur wegen der Sprachbarriere nicht zu direkten Entlehnungen aus der Kultur schriftloser indigener Volker kommen.
[16]
- Robert Goldwater
:
Primitivism in Modern Art
, 1966. Zuerst in einer auf die Malerei beschrankten Form als
Primitivism in Modern Painting
bei Harper & Brothers, New York, London 1938. Zuletzt in einer um zwei Aufsatze erweiterten Ausgabe bei der
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, Cambridge, Mass. 1986.
- Klaus H. Kiefer:
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Eugene Jolas
um 1930.
In:
Jahrbuch zur Kultur und Literatur der Weimarer Republik
12 (2008), S. 117?137.
- Barbel Kuster:
Matisse und Picasso als Kulturreisende. Primitivismus und Anthropologie um 1900
. Akademie-Verlag, Berlin 2003.
- Martin Ortmeier
:
Der Primitivismus moderner Malerei. Eine gattungs- und rezeptionstheoretische Studie.
Munchen 1983 (Dissertation)
- William S. Rubin (Hrg.):
Primitivismus in der Kunst des zwanzigsten Jahrhunderts
.
Prestel
, Munchen, 1996,
ISBN 3-7913-1716-4
.
- Joachim Schultz
:
Wild, irre und rein. Worterbuch zum Primitivismus der literarischen Avantgarden in Deutschland und Frankreich zwischen 1900 und 1940.
Anabas-Verlag
, Gießen 1995.
- ↑
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, 1973.
- ↑
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auf merriam-webster.com, Abruf am 30. Dezember 2020
- ↑
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, 1985, S. 9.
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. Stuttgart 2011, S. 358.
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- ↑
Hackenschmitt 2011, S. 359.
- ↑
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Das Zeitalter der Avantgarden: Kunst und Gesellschaft 1905?1955
, S. 448
, abgerufen am 8. Januar 2011
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Carlos Granes: Delirio americano. Una historia cultural y politica de America Latina
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- ↑
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R. Goldwater:
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- ↑
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Koln 1978 (Originalausgabe:
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, 1971).
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:
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Margaret Werth:
Engendering imaginary modernism: Henri Matisse’s ?Bonheur de vivre?
. In: Genders, 1990, Nr. 9, S. 49?74.
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Nicola Gess
:
Literarischer Primitivismus: Chancen und Grenzen eines Begriffs
, in: Dies. (Hrsg.):
Literarischer Primitivismus
, de Gruyter, Berlin, Boston 2013. S. 1?9.
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Kiefer 2008, S. 132.