Als
Praventivschlag
oder
Praventivkrieg
wird ein militarischer Angriff bezeichnet, der einem angeblich oder tatsachlich drohenden Angriff eines Gegners zuvorkommen und diesen vereiteln soll, also eine Offensive in defensiver Absicht.
[1]
Das moderne
Kriegsvolkerrecht
erlaubt nur
Verteidigungskriege
. Die Abgrenzung zu Praventivkriegen ist umstritten.
Angriffskriege
wurden bisweilen
propagandistisch
als Praventivkriege ausgegeben.
Definition
Der Praventivschlag fuhrt
- entweder zu einem so genannten
Enthauptungsschlag
, der dezidiert die
Fuhrung
der gegnerischen Streitmacht schwacht oder vernichtet (bzw. die des Landes, dem
aggressive
Absichten unterstellt werden) oder
- zu einem (regularen)
Krieg
, einem
Praventivkrieg
, der unter anderem verhindern soll, dass Kampfhandlungen auf dem eigenen Territorium ausgetragen werden
Ein Stillstand der militarischen Aktionen ist in der Regel nicht Ziel des Vorgehens.
Praventivkriege werden als vorweggenommene Verteidigung gerechtfertigt, da der bevorstehende Angriff des Gegners nur vorweggenommen werde, um den Vorteil des Angreifers der eigentlich bedrohten Seite zukommen zu lassen.
Praemptivschlag
Der ehemalige US-amerikanische Prasident
George W. Bush
verwendete in der
National Security Strategy vom September 2002
(sogenannte ?Bush-Doktrin“) haufig den Begriff ?Praemptivschlag“ (
pre-emptive strike
) in Abwandlung des Konzepts des Praventivschlags. Bedeute
Pravention
eine Militaraktion zur Ausschaltung einer zukunftigen Gefahr (beispielsweise die Zerstorung von vermuteten Giftgasfabriken), so setze die
Praemption
erst bei einem unmittelbar bevorstehenden Angriff an. Abgrenzung und Definition des
pre-emptive strike
sind sehr umstritten.
[2]
Historische Praventivkriege und -schlage
In der
Militargeschichte
sind zahlreiche Beispiele fur Praventivschlage bekannt:
- Wahrend der
Balkanfeldzuge des Maurikios
zwischen 591 und 602 stoßen ostromische Heere in die Gebiete der
Slawen
und
Awaren
nordlich der Donau vor, um deren Angriffsvorbereitungen zu storen.
- Der Einmarsch
Friedrichs des Großen
in Sachsen 1756, der Ausloser fur den
Siebenjahrigen Krieg
. Obwohl Friedrich in Dresden Belege fur die gegen ihn geschmiedete Koalition fand, galt er durch den Uberfall als
Aggressor
.
- 1801 und am 5. September 1807 griff
Großbritannien
das neutrale
Danemark
an, um die Durchfahrt von der
Nordsee
zur
Ostsee
sicherzustellen, die durch ein mogliches Bundnis Danemarks mit
Napoleon
blockiert gewesen ware.
- Caroline-Vorfall
zwischen den USA und Großbritannien auf dem Niagara River 1837: Britische Truppen versenkten den US-amerikanischen Dampfer
Caroline
, weil sich darauf amerikanische Aufstandische befanden, die mutmaßlich planten, die britische Kolonie Oberkanada gewaltsam zu befreien. Aus der anschließenden diplomatischen Korrespondenz beider Lander entstanden die
Caroline-Kriterien
, die sich zu volkergewohnheitsrechtlichen Voraussetzungen fur einen Praventivschlag entwickelten.
- Russisch-Japanischer Krieg
(1904?1905): Angriff einer Flotte von japanischen Torpedobooten gegen das Russische Pazifikgeschwader im Hafen von
Port Arthur
noch vor der offiziellen Kriegserklarung.
- Das
Unternehmen Barbarossa
, der Angriff auf die Sowjetunion, wurde
im Rundfunk
als Praventivschlag dargestellt: ?Zur Abwehr der drohenden Gefahr aus dem Osten ist die deutsche Wehrmacht am 22. Juni, drei Uhr fruh, mitten in den gewaltigen Aufmarsch der feindlichen Krafte hineingestoßen.“ Diese
Praventivkriegsthese
wird von der großen Mehrheit der Historiker abgelehnt. ?In der Geschichtswissenschaft hat sich durchgesetzt, dass es kein Praventivkrieg war“, resumiert
Rolf-Dieter Muller
, wissenschaftlicher Direktor am
Militargeschichtlichen Forschungsamt der Bundeswehr
.
[3]
Die These gehort im Kontext des ?Unternehmens Barbarossa“ zu den Hauptelementen des
Geschichtsrevisionismus
und des deutschen
Rechtsextremismus
, die auf die ?Relativierung der Kriegsschuld“
NS-Deutschlands
zielen.
[4]
- Der bis heute einzige unter dem modernen
volkerrechtlichen
Gewaltverbot oft als gerechtfertigt angesehene Praventivschlag war der
Sechstagekrieg
von
Israel
gegen seine arabischen Nachbarn im Juni 1967. Es ist jedoch auch in diesem Fall umstritten, ob Israel damit einem arabischen Angriff wirklich zuvorkam. Eindeutig volkerrechtlich als verbotener Angriff gewertet wurde dagegen der israelische Luftschlag gegen die Baustelle des
irakischen
Atomreaktors
Osirak
1981.
- Der Angriff der Koalitionskrafte unter Fuhrung der
USA
auf den
Irak
im
Dritten Golfkrieg
2003 wurde von
George W. Bush
als Praventivkrieg zur ?Abwehr einer drohenden Gefahr“ gerechtfertigt, da der Irak angeblich
Massenvernichtungswaffen
besitze, die jedoch nie gefunden werden konnten.
[5]
Beim Irakkrieg der USA und der
Koalition der Willigen
handelte es sich nach Ansicht vieler Kritiker daher um keinen Praventivkrieg im Sinne der Vereinten Nationen (siehe dazu
Caroline-Kriterien
), sondern vielmehr um einen volkerrechtswidrigen
Angriffskrieg
.
Russische Begrundung fur den russischen Angriff auf die Ukraine 2022
- Laut
russischer Propaganda
handelte es sich beim
russischen Uberfall auf die Ukraine 2022
? nebst anderen Begrundungen ? auch um einen Praventivschlag, um einem Angriff der Ukraine zuvor zu kommen. ?Dutzende Millionen von Menschen“ in Russland wurden diese These glauben, auch wenn es den Streitkraften Russlands in 6 Monaten Krieg nicht gelang, die Verteidigung der Ukrainer in der Region Donezk zu uberwinden; ?Wenn sich ein Land auf einen Angriff vorbereitet, baut es dann Bunker 50 Kilometer tief von der Grenze entfernt?“ fragte ein russischer Geistlicher, welcher fur die Diskreditierung der Streitkrafte gebußt wurde.
[6]
Im September 2022 widersprach
Alexander Chodakowski
dieser Moskauer Version zur Rechtfertigung des Angriffskriegs. Die Truppen der VR Donezk hatten unter den Dokumenten der ukrainischen Streitkrafte, die ihnen bei den Kampfhandlungen in die Hande gefallen seien, keinen einzigen Hinweis darauf gefunden. Vielmehr habe sich die Ukraine auf einen Abwehrkrieg vorbereitet.
[7]
Literatur
- Bjorn Schiffbauer:
Vorbeugende Selbstverteidigung im Volkerrecht
. 1. Auflage, Duncker & Humblot, Berlin 2012,
ISBN 978-3-428-13868-5
.
- Martin Kunde:
Der Praventivkrieg. Geschichtliche Entwicklung und gegenwartige Bedeutung.
1. Auflage, Peter Lang, Frankfurt November 2006,
ISBN 3-631-56030-3
(
Rezension von Thomas Speckmann
).
- Michael Salewski
:
Praevenire quam preaveniri. Zur Idee des Praventivkrieges in der Spaten Neuzeit
. in: Jurgen Elvert, Michael Salewski (Hrsg.):
Historische Mitteilungen der Ranke-Gesellschaft
. Stuttgart 2006.
- Jack S. Levy:
Declining Power and the Preventive Motivation for War
. in:
World Politics
. Vol. 40, Nr. 1 (Oct., 1987), S. 82?107 (englisch).
Weblinks
Anmerkungen
- ↑
Volker Dotterweich:
Krieg der Titanen? Spekulationen uber Stalins Strategie im Fruhjahr 1941.
In: Volker Dotterweich (Hrsg.):
Kontroversen der Zeitgeschichte. Historisch-politische Themen im Meinungsstreit.
Munchen 1998, S. 123
- ↑
Vgl. etwa Kaufman: “Under both contemporary practice and tradition, pre-emptive self-defense (self-defense against an imminent or actual attack) is permissible, whereas ‘preventive self-defense’ ? where there is not even an imminent threat ? is not permissible”
Archivierte Kopie
(
Memento
vom 27. November 2005 im
Internet Archive
); siehe auch Rose: ?Als praemptiv wird ein Angriff gemeinhin dann bezeichnet, wenn er in zweifelsfrei unmittelbar bevorstehende oder bereits stattfindende Angriffshandlungen eines Gegners hineinlauft. Als praventiv firmiert eine Kriegshandlung, wenn eine Angriffsvorbereitung des Gegners zwar nicht direkt erkennbar, aber damit zu rechnen ist, dass dieser Gegner demnachst oder jedenfalls in absehbarer Zeit eine militarische Offensive startet“ (
www.ag-friedensforschung.de
). Kaufman halt aber auch fest: “However, much of the confusion arises because the word ‘pre-emptive’ is sometimes used to mean the use of force against an imminent threat, and sometimes to mean the use of force where a threat is not even imminent. The problem seems to be a lack of agreement on the definition of key terms.”
Archivierte Kopie
(
Memento
vom 27. November 2005 im
Internet Archive
)
- ↑
Interview mit Rolf-Dieter Muller, wissenschaftlicher Direktor im Militargeschichtlichen Forschungsamt
. In:
Der Spiegel
15/2008, 7. April 2008, S. 50.
- ↑
Verfassungsschutzbericht 2001
(
Memento
vom 11. Januar 2012 im
Internet Archive
) (PDF; 5,3 MB), S. 99 und 120.
- ↑
Stephan Bierling
:
Geschichte des Irakkrieges. Der Sturz Saddams und Amerikas Albtraum im Mittleren Osten
. C.H. Beck, Munchen 2010,
ISBN 978-3-406-60606-9
, S. 53 u. 96.
- ↑
?Das Fernsehen erobert sogar das Evangelium“.
Nowaja gaseta. Europa
, 24. August 2022
- ↑
Separatistenfuhrer widerspricht offizieller Kriegsthese
spiegel.de
, 8. September 2022.