Physiognomie

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Diese Lithographie von Charles Le Brun (1619?1690) vergleicht die menschliche Physiognomie mit der der rohen Kreatur .
Giambattista della Porta , De humana physiognomonia , 1586

Als Physiognomie (von griechisch φ?σι? physis = Natur, γν?μη gn?m? = Wissen) wird die außere Erscheinung von Lebewesen bezeichnet, insbesondere die des Menschen und hier speziell die fur einen Menschen charakteristischen Gesichts ­zuge. Teilweise versteht man darunter auch seine ganze Statur , etwa als Konstitutionstyp .

Psychologie und Philosophie [ Bearbeiten | Quelltext bearbeiten ]

Menschen lernen im Sauglingsalter , andere Menschen an der Physiognomie wiederzuerkennen (siehe Entwicklungspsychologie ).

Die moderne Psychologie kann zeigen, auf welche Weise Menschen tatsachlich Emotionen uber ihre Gesichtsmuskeln kommunizieren (siehe Mimik ). Unter Physiognomie wird jedoch all das verstanden, was vom Kommunikationsverhalten unbeeinflusst bleibt ? die Lange der Nase , Falten, Lage der Ohren etc.

Traditionell war fur die Theorie der Mimik die Pathognomik zustandig, zu der die Theorie der Affekte und des Ausdrucks gehoren. Die Mimik wurde als Satz von Zeichen verstanden, die an der Oberflache des Korpers die Zustande der Seele anzeigen.

Physiognomik, Mimik und Phrenologie [ Bearbeiten | Quelltext bearbeiten ]

Verschiedene Gefuhlszustande und ihr physiognomischer Ausdrucksgehalt

Intuitiv glauben die meisten Menschen, dass aus der Physiognomie etwas uber die Seele einer Person zu erfahren ist. Den Versuch, methodisch aus der korperlichen Erscheinung eines Menschen zu lesen, nennt man Physiognomik . Die Physiognomik ist eine uralte Teildisziplin der Medizin seit und mit Hippokrates und Galen. Die genaue Beobachtung von Gesichtsfarbe, Hautkonstitution, Pickeln oder Pusteln sowie die ? Facies hippocratica “ als Gesicht eines Sterbenden wie die physiognomische Evaluation der gesamten Gestalt und der inneren Organe gehoren dazu.

Von Pathognomik im Gegensatz zur Physiognomik spricht man allerdings erst seit Lavater und Lichtenberg. In der pseudoaristotelischen Schrift ?Physiognomonika“ aus dem 3. Jh. v. Chr. und in den meisten Traktaten der Folgezeit wird unter dem Begriff ?Physiognomik“ meist auch die Mimik abgehandelt. Die ersten Einzelstudien zur Mimik kommen aus der Benimmlehre (Erasmus uber das Grimassenschneiden von Schulern 1524) und dann aus der Kunst der fruhen Neuzeit. Charles Le Brun , der Hofmaler von Louis XIV, hat 1688 ein mimisches Musterbuch angefertigt, wo 24 Gesichtsausdrucke mit den entsprechenden Begriffen dargestellt werden. Das posthum von Morel d'Arleux herausgebrachte beruhmte Bilderbuch Le Bruns mit Vergleichen zwischen Mensch und Tier Traite concernant le rapport de la physionomie humaine avec celle des animaux (1806) greift ebenfalls antike Traditionen auf.

Bekannt wurde auch Charles Darwins Buch The Expression of Emotion in Animals and Men 1872. Entfernt angelehnt an Methoden Francis Galtons konnen heute per Computergrafik gemittelte Gesichter erstellt werden. Es wurde festgestellt, dass gemittelte Gesichter allgemein freundlicher und attraktiver wirken. [1] [2] Als Vater der neueren Mimikforschung und Erfinder des FACS, Facial Action Coding System wurde Paul Ekman weltweit bekannt.

Kunst und Literatur [ Bearbeiten | Quelltext bearbeiten ]

In der Neuzeit entwickelte sich ein starkes Interesse am Individuum und damit auch an der Physiognomie einzelner Personen. Die Geschichte der Portratmalerei zeigt das Interesse an individuellen Physiognomien (siehe Identitat ).

Eine wichtige Funktion von Portrats war es, die individuellen Gesichtszuge festzuhalten und fur die Nachwelt zu bewahren. Nach den Malern der italienischen Renaissance war Albrecht Durer der erste deutsche Kunstler nach dem Mittelalter , der bewusst versuchte, die Gesichtszuge seiner Freunde und Geschaftspartner aufzuzeichnen, um sie fur die Nachwelt zu bewahren. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts gab es mit dem Erscheinen von Johann Kaspar Lavaters Physiognomischen Fragmenten eine Flut von Portrat - Gemalden , -zeichnungen und Silhouetten . Besonders das Profil des Gesichts galt als der Teil der Physiognomie, an dem besonders viel uber die Seele abzulesen war, weshalb man haufig als Gesellschaftsspiel Schattenrisse von sich anfertigen ließ und ausdeutete.

Das Gesicht gilt haufig als Speicher fur Charakter, Erfahrung und Lebensgeschichte. In Oscar Wildes Roman Das Bildnis des Dorian Gray gibt es ein Portratgemalde, das anstelle seines Besitzers altert. Samtliche Sunden , die dieser begeht, hinterlassen seine Spuren nicht an ihm, sondern an dem Gemalde. Heute spielt die Fotografie eine ahnliche Rolle. Fotografische Portrats konnen die Veranderung individueller Physiognomien uber die Jahre hinweg festhalten.

Recht und Kriminologie [ Bearbeiten | Quelltext bearbeiten ]

Steckbriefe , Reisepasse und Personalausweise verlassen sich auf die Unverwechselbarkeit der individuellen Merkmale. Schon im Mittelalter wurde in amtlichen Dokumenten vermerkt, wie eine Person aussah, um sie zu identifizieren .

Mit der kriminalistischen Technik der Bertillonage wurden im 19. Jahrhundert physiognomische Messdaten archiviert und zur Identifizierung benutzt. Die Technik war jedoch zu ineffizient und wurde schnell durch die Speicherung von Fingerabdrucken ersetzt. Der englische Naturwissenschaftler Sir Francis Galton versuchte, mit Hilfe fotografischer Mehrfachbelichtung bestimmte gemeinsame physiognomische Merkmale von Verbrechern zu erkennen. Zu dieser Forensik gehort auch die Phrenologie (Schadelkunde), die um 1800 von dem deutschen Arzt Franz Josef Gall entwickelt und von dem Italiener Cesare Lombroso 1867 in die Kriminologie eingefuhrt wurde. Einige Rassenkundler im Nationalsozialismus beriefen sich auf Lombrosos Thesen.

Die heutige Polizei verwendet fotografische oder digitale Techniken, um die Physiognomie von Kriminellen und Verdachtigen nach Beschreibungen zu rekonstruieren (siehe Phantombild und Gesichtserkennung ).

Medizin [ Bearbeiten | Quelltext bearbeiten ]

In der Medizin wird die Physiognomie eines Menschen, zum Beispiel durch außere Untersuchung, in einen Teil der Diagnose einbezogen, um erste Ruckschlusse auf den gesundheitlichen Zustand zu ziehen. Das ist gerade im Rahmen der Notfallmedizin und bei der sogenannten Aspektdiagnose - dem ?ersten Eindruck“ wichtig. [3] Dabei kann es aber auch zu Fehldiagnosen kommen. [4]

Seit Mitte des 20. Jahrhunderts wird zunehmend plastische Chirurgie eingesetzt, um Physiognomien dauerhaft zu verandern. Dabei kann die rekonstruktive Chirurgie eine durch Unfall oder Krankheit zerstorte Physiognomie wiederherstellen.

Siehe auch [ Bearbeiten | Quelltext bearbeiten ]

Literatur [ Bearbeiten | Quelltext bearbeiten ]

  • Uwe Kanning: Schadeldeutung & Co. Absurde Methoden der Psychodiagnostik. Skeptiker Heft 3/2010.
  • Henning Mehnert: Formimpulse der literarischen Personendarstellung. Der Physiognomietraktat des Francesco Stelluti. In: Romanische Forschungen. 1980, S. 371 ff.
  • TUMULT 31, Gesichtermoden , Berlin 2006. ISBN 978-3-9811214-0-7 .
  • Bernd Kramer: Personalauswahl: Die falsche Nase. ZEIT Campus. 28. November 2011 ( Memento vom 31. Dezember 2013 im Internet Archive )
  • Edith Mandel-Buck: Aussehen und Fahigkeit ergibt Wirkung. mehr Infos hier Gesichtsstrukturen nach 3-in-One-Concepts.
  • Talikizade : Firasetname. (?Buch von der Wissenschaft der Physiognomie“), Istanbul 1575.
  • Claudia Schmolders , Sander Gilman (Hrsg.): Gesichter der Weimarer Republik. Eine physiognomische Kulturgeschichte. DuMont, Koln 2000, ISBN 3-7701-5091-0 .
  • Norbert Glas: Das Antlitz offenbart den Menschen. Eine geistgemaße Physiognomik, I. Band. Stuttgart 1992.
  • Wiebke Luth: Kunden lesen: Wie Sie in drei Sekunden wissen, wie Ihr Gegenuber tickt. Munchen 2012, ISBN 978-3-86881-345-6 .
  • Jorgen Schmidt-Voigt : Das Gesicht des Herzkranken . Eine Sammlung physiognomischer Leitbilder zur Aspekt-Diagnose cardio-vascularer Erkrankungen. Editio Cantor 1958.

Weblinks [ Bearbeiten | Quelltext bearbeiten ]

Wiktionary: Physiognomie  ? Bedeutungserklarungen, Wortherkunft, Synonyme, Ubersetzungen

Einzelnachweise [ Bearbeiten | Quelltext bearbeiten ]

  1. Computergraphikmethoden, um eine Reihe von Portrats aufeinander zu legen. Face Research ⇒ Experiments about face and voice preferences. ( Memento vom 9. April 2015 im Internet Archive )
  2. Zum Verlieben schon. In: Spektrum der Wissenschaft. 11/2006, S. 28.
  3. Jorgen Schmidt-Voigt: Die ambulante Herzuntersuchung , 2. Auflage 1962, Seite 16.
  4. Jorgen Schmidt-Voigt: Die ambulante Herzuntersuchung , 2. Auflage 1962, Seite 172 ff.