Unter dem Begriff
Other Backward Classes
(
englisch
?andere zuruckgebliebene Klassen“
,
OBC
) werden in
Indien
bestimmte staatlich spezifizierte Bevolkerungsgruppen verstanden, die soziookonomisch benachteiligt sind und deswegen eine besondere staatliche Forderung beanspruchen durfen. Der Begriff ist in gewisser Hinsicht komplementar zu den Begriffen der
Scheduled Castes
und
Scheduled Tribes
. Der Bevolkerungsanteil der
Other Backward Classes
ist bisher aufgrund fehlender statistischer Daten nicht genau bestimmbar und wurde auf 36 bis 52 % geschatzt.
Die am 26. Januar 1950 in Kraft getretene
Verfassung Indiens
war stark von
egalitaren
Ideen beeinflusst. Die geistigen Vater der Verfassung, unter ihnen
Bhimrao Ramji Ambedkar
, schrieben als Verfassungsziel fest, dass sich der Staat um die Gleichstellung benachteiligter Bevolkerungsgruppen kummern musse. In der Verfassung wurde dem Staatsprasidenten explizit das Recht eingeraumt, eine Kommission zu ernennen, die sich mit der Besserstellung benachteiligter Bevolkerungsgruppen befassen sollte:
“(1) The president may by order appoint a commission, consisting of such persons as he thinks, fit to investigate the conditions of socially and educationally backward classes within the territory of India and the difficulties under which they labour and to make recommendations as to the steps that should be taken by the union or any state to remove such diffculties and as to improve their condition […].
(2) A Commission so appointed shall […] present to the President a report setting out the facts as found by them and making such recommendations as they think proper.
(3) The President shall cause a copy of the report so presented together with a memorandum explaining the action taken thereon to be laid before each House of Parliament.”
?(1) Der Prasident kann auf dem Wege der Verordnung eine Kommission ernennen, die aus Personen besteht, die nach seinem Ermessen geeignet sind, die Lebensumstande der sozial und hinsichtlich Bildung zuruckgebliebenen Klassen auf dem Territorium Indiens, sowie die Schwierigkeiten, unter denen sie ihren Lebensunterhalt bestreiten, zu untersuchen. Diese Kommission kann Empfehlungen hinsichtlich der Schritte, die durch die Unionsregierung oder der Regierung eines Bundesstaats unternommen werden sollten, aussprechen, damit solche Schwierigkeiten beseitigt und die Lebensbedingungen verbessert werden. […]
(2) Eine so ernannte Kommission […] soll dem Prasidenten einen Bericht vorlegen, der die durch sie gefundenen Tatsachen und angemessene Empfehlungen enthalt.
(3) Der Prasident soll veranlassen, dass der Bericht zusammen mit einem Memorandum uber die zu treffenden Maßnahmen beiden Hausern des Parlaments vorgelegt wird.“
?
Indische Verfassung
:
Artikel 340
[1]
Der erste indische Staatsprasident
Rajendra Prasad
machte von seinem in Artikel 340 festgehaltenen Verfassungsrecht Gebrauch und ernannte am 29. Januar 1953 eine Kommission unter dem Vorsitz von Kaka Kalelkar. Dieser Kommission wurde die Aufgabe gestellt, eine Liste von Bevolkerungsgruppen zu erstellen, die sozial und hinsichtlich Bildung benachteiligt waren und die nicht bereits als Angehorige der
Scheduled Castes
oder
Scheduled Tribes
registriert waren. Um diese Bevolkerungsgruppen zu identifizieren, orientierte sich die Kommission an vier Kriterien: (1) niedriger Rang in der traditionellen
Hindu
-
Kastenhierarchie
, (2) niedriger Bildungsstand, d. h.
Alphabetisierungsrate
, (3) unzureichende oder keine Vertretung in staatlichen Behorden, (4) unzureichende Vertretung in Handel, Industrie und Finanzwesen.
[2]
Am 30. Marz 1955 legte die Kommission ihren Bericht vor. Sie hatte eine Liste von 2399 zuruckgebliebenen Kasten oder Gemeinschaften erarbeitet, von denen 837 als ?sehr ruckstandig“ (
?most backward“
) gekennzeichnet waren. Zu den Empfehlungen der Kommission gehorte es, dass bei kunftigen Zensuserhebungen die Kastenzugehorigkeit ermittelt werden sollte. Die Kommission empfahl außerdem, dass Frauen grundsatzlich als ?zuruckgebliebene Bevolkerungsgruppe“ klassifiziert werden sollten. In hoheren Ausbildungsstatten sollten 70 Prozent aller Ausbildungsplatze fur qualifizierte Angehorige der identifizierten zuruckgebliebenen Bevolkerungsgruppen reserviert werden. Auch bei Stellen im Staatsdienst sollten Quoten fur die vermeintlich benachteiligten sozialen Gruppen reserviert werden. Es gab jedoch schon innerhalb der Kommission erhebliche Differenzen, welche Gruppen wirklich als ruckstandig anzusehen seien und letztlich wurde der Abschlussbericht der Kommission aufgrund unterschiedlicher Einschatzungen in dieser Frage nicht von der Regierung akzeptiert und blieb daher weitgehend folgenlos.
[2]
Kommissionen in den Bundesstaaten zur Lage der ?anderen zuruckgebliebenen Klassen“ (Auswahl)
[3]
[4]
Kommission
|
Berichts-
jahr
|
Bundesstaat
|
Kumara Pillai Commission
Damodaran Commission
|
1965
1970
|
Kerala
|
Manohar Prashad Commission
|
1978
|
Andhra Pradesh
|
Bakshi Commission
Rane Commission
|
1978
1983
|
Gujarat
|
Sattanathan Commission
Ambashankar Commission
[5]
|
1970
1985
|
Tamil Nadu
|
Havanur Commission
[6]
T. Venkataswamy Commission
[7]
|
1975
1986
|
Karnataka
|
Die indische Unionsregierung uberließ es in der Folgezeit den Regierungen der Bundesstaaten, Regelungen fur besonders benachteiligte Gruppen zu treffen. Die gesetzliche Grundlage hierfur bildeten die ?besonderen Regelungen“ (
?special provisions“
) in den Verfassungsartikeln 15(4) und 16(4).
[8]
Von dieser Moglichkeit machten die Bundesstaaten Gebrauch und setzten eigene Kommissionen ein, die Empfehlungen ausarbeiteten, die dann zum Teil in Gesetze zur Besserstellung der OBC umgesetzt wurden. Dies fuhrte zu einer Vielzahl von juristischen Klagen von Personen, die sich durch die Gesetze diskriminiert fuhlten. Diese Klagen gelangten zum Teil bis vor die
High Courts
und den
Supreme Court
. Anfanglich entschied der
Supreme Court
in mehreren Urteilen, dass das Merkmal ?Zugehorigkeit zu einer bestimmten Kaste‘ alleine nicht ausreichend fur die Einstufung als OBC sei. Außerdem wurde die Reservierung von staatlichen Stellen und Ausbildungsplatzen auf maximal 50 Prozent der Platze begrenzt, da alles daruber Hinausgehende ?exzessiv“ sei. In spateren Urteilen milderte der
Supreme Court
seine anfangliche Ablehnung der Kastenzugehorigkeit als Hauptkriterium ab und akzeptierte im Großen und Ganzen die weitgehende Uberlappung der Begriffe ?Kaste“ und ?Klasse“.
[3]
Am 1. Januar 1979, zur Zeit der
Janata
-Regierung unter Premierminister
Morarji Desai
und des Prasidenten
Neelam Sanjiva Reddy
, wurde eine zweite Kommission unter Vorsitz von
Bindheshwari Prasad Mandal
mit der Behandlung des Problems der unterprivilegierten Bevolkerungsgruppen betraut. Die Mandal-Kommission lieferte ihren Bericht am 31. Dezember 1980 ab.
[9]
Fur die Klassifikation einer Bevolkerungsgruppe als ?ruckstandig“ erarbeitete sie 11 Kriterien. Dies waren zum einen soziale Kriterien: (1) wenn eine Gruppe von anderen Bevolkerungsgruppen als ruckstandig angesehen wurde, (2) wenn ihre Angehorigen fur ihren Lebensunterhalt uberwiegend auf manuelle Arbeit angewiesen waren, (3) wenn haufig Ehen schon vor der Volljahrigkeit abgeschlossen wurden, und (4) wenn Frauen haufiger als im Landesdurchschnitt arbeiteten. Zum zweiten waren es Kriterien des Bildungsgrads: (5) hoher Anteil von Kindern, die nie eine Schule besucht hatten, (6) hoher Anteil von Schulabbrechern, (7) niedriger Anteil an erfolgreichen Schulabsolventen. Zum dritten kamen wirtschaftliche Kriterien hinzu: (8) hoher Anteil von Armut, (9) unzureichende Wohnverhaltnisse, (10) unzureichender Zugang zu sauberem Wasser, und (11) hoher Grad an Verschuldung, um einfache Lebensbedurfnisse zu befriedigen. Diese 11 Kriterien wurden verschieden gewichtet. Soziale Kriterien wurden mit drei Punkten gezahlt, Bildungskriterien mit zwei, und wirtschaftliche Kriterien mit einem Punkt. In dieser Weise ließ sich ein Score zur
Entscheidungsfindung
definieren. Eine Gruppe wurde nach Mandal dann als zuruckgeblieben angesehen, wenn sie einen Score von mindestens 11 erreichte.
[2]
Die Mandal-Kommission klassifizierte 3743 Hindu-Kastengruppen als zuruckgeblieben. Der letzte indische Zensus, bei dem vollstandige Daten zur Kastenzugehorigkeit erhoben worden waren, hatte im Jahr 1931, noch zur Zeit
Britisch-Indiens
stattgefunden. Aus spaterer Zeit gab es hierzu keine zuverlassigen Daten, sondern nur noch Erhebungen zu den sogenannten
Scheduled Castes
. Die Mandal-Kommission konnte daher den Anteil der von ihr als ruckstandig klassifizierten Bevolkerungsgruppen nur anhand einer Hochrechnung auf die Gegenwart schatzen und kam zu dem Ergebnis, dass ungefahr 52 Prozent der Hindus den
Other Backward Classes
(OBCs) zuzurechnen waren. Bei dem Nicht-Hindu-Bevolkerungsanteil (16,16 % der Gesamtbevolkerung) schatzte die Kommission den Anteil der OBCs
ad hoc
auf denselben Prozentwert, also 8,4 % der Gesamtbevolkerung.
[2]
Die Kommission empfahl, die mit niederen, unreinen Arbeiten befassten
Muslime
und die
christlichen Konvertiten
aus der Gruppe der
Dalits
als OBCs einzustufen.
[3]
Die Empfehlungen der Mandal-Kommission sahen eine Reservierung von staatlichen Stellen sowie Studien- und Ausbildungsplatzen an Universitaten und hoheren Bildungseinrichtungen fur Angehorige der OBCs vor. Da bereits 22,5 % der Stellen fur
Scheduled Castes
und
Scheduled Tribes
entsprechend deren Bevolkerungsanteil reserviert waren und nach Verfassungsrecht nur bis zu 50 Prozent aller Stellen reserviert werden durften, verblieben 27 Prozent, die fur die Angehorigen der OBCs zu reservieren seien.
[2]
[9]
Zum Zeitpunkt des Berichts der Mandal-Kommission im Dezember 1980 war die Janata-Regierung bereits wieder durch eine Regierung der
Kongresspartei
unter
Indira Gandhi
abgelost worden. Diese hatte kein großeres Interesse, den Bericht der Mandal-Kommission zu veroffentlichen oder zeitnah umzusetzen ? zum einen deswegen, weil sie die zu erwartenden sozialen Unruhen furchtete, und zum anderen, weil die Kongresspartei ihre Anhangerschaft in den nordlichen
Hindi
-Staaten zu einem erheblichen Maß aus den mittleren und fortgeschritteneren Kasten schopfte, deren Interessen durch den Mandal-Bericht tangiert wurden. Auch unter Indira Gandhis Sohn
Rajiv Gandhi
, die von 1984 bis 1989 als Premierminister amtierte, blieb der Kommissionsbericht in den Schubladen.
[10]
Die
Parlamentswahl 1989
wurde durch die
Janata Dal
gewonnen, die anschließend eine Minderheitsregierung unter Premierminister
Vishwanath Pratap Singh
bildete. Am 7. August 1990 kundigte Singh die Implementierung der Empfehlung des Mandal-Berichts an, 27 Prozent der Stellen im Staatsdienst und an den hoheren Bildungseinrichtungen fur Angehorige der OBCs zu reservieren und ließ am 13. August 1990 ein entsprechendes Memorandum veroffentlichen. Daraufhin erheben sich massive Proteste von Studentenvereinigungen der mittleren und oberen Kasten, die sich durch diese Politik der Stellenreservierung um ihre moglichen Arbeitsplatze im Staatsdienst und ihre berufliche Zukunft gebracht fuhlten.
[10]
[11]
Der folgende Streit um die Implementierung des Mandal-Berichts war ein fuhrender Ausloser fur die
vorzeitigen Neuwahlen im Jahr 1991
und fuhrte zu einer Politisierung der Angehorigen der
Other Backward Classes
. Politische Parteien, die sich speziell auf die OBCs als Wahlerpotential fokussierten, wie die
Samajwadi Party
, die
Bahujan Samaj Party
und die Janata Dal und ihre Nachfolgeparteien (
Janata parivar
) erlebten einen erheblichen Aufwind.
[12]
Gegen die Implementierung der Mandal-Empfehlungen wurden verschiedene Klagen vor den Gerichten eingereicht. In einem wegweisenden Urteil im Verfahren
Indra Sawhney etc. vs Union of India & others
entschied das Oberste Gericht am 16. November 1992, dass die Reservierung von 27 % der Stellen im Staatsdienst und 27 % der Studienplatze fur Angehorige der OBCs grundsatzlich rechtens sei.
[13]
In der Urteilsbegrundung stellte das Gericht fest, dass nicht ein Kriterium alleine (z. B. Kastenzugehorigkeit, wirtschaftliche Ruckstandigkeit etc.) zur Definition einer Zugehorigkeit zu den OBC genuge. Nicht nur Hindus, sondern auch Gruppen von Angehorigen anderer Religionen (Muslime, Buddhisten, Christen etc.) seien in die OBCs einzuschließen. Die kleine Gruppe der wirtschaftlich besser gestellten Angehorigen einer insgesamt ruckstandigen Kaste (die sogenannte
?creamy layer“
, das ?Sahnehaubchen“) mussten dagegen von der Reservierung ausgeschlossen bleiben.
Mit Wirkung vom 2. April 1993 wurde die
National Commission for Backward Classes
ins Leben gerufen, deren Hauptaufgabe es wurde, basierend auf dem Urteil des Obersten Gerichts 1992 eine vollstandige Liste aller Bevolkerungsgruppen, die als OBC gelten konnen, zu erstellen.
[14]
Im September 2008 hatte die Kommission insgesamt 1963 Gruppen den Status einer
Other Backward Class
zuerkannt.
[15]
Obwohl die Empfehlungen der Mandal-Kommission 1992 fur verfassungskonform erklart wurden, war die Realitat mehr als 20 Jahre spater noch weit von den damals gesteckten Zielen entfernt. Nach Auskunft des indischen Regierungsportals RTI waren zum Stichtag 1. Januar 2015 statt der vorgesehenen 27 % weniger als 12 % der Stellen im Staatsdienst der indischen Unionsregierung mit Angehorigen der OBC besetzt.
[18]
Unklarheiten bestehen weiterhin uber den genauen Bevolkerungsanteil der
Other Backward Classes
. Wahrend die Mandal-Kommission diesen auf 52 Prozent schatzte, kamen spatere Stichprobenerhebungen zu niedrigeren Zahlen. Beispielsweise wurde im Jahr 2004?2005 der Anteil von OBCs auf 41 % geschatzt.
[16]
[19]
Der Regierung wurde zum Vorwurf gemacht, die Zahlen zu den OBCs aus politischen Grunden nur zogerlich bekanntzugeben um den zu erwartenden Streitigkeiten auszuweichen.
[20]
In mehreren Bundesstaaten ist der Frage der Zugehorigkeit zu den OBCs zeitweilig zu einer großen politischen Frage geworden. Beispielsweise agitieren seit Jahren politische Fuhrer der
Jats
, die besonders stark im Bundesstaat
Haryana
vertreten sind, fur eine Anerkennung als
Other Backward Class
.
[21]
Im Mai und Juni 2008 rebellierte die Gemeinschaft der
Gurjar
in
Rajasthan
, um eine ?Umklassifizierung“ von
Other Backward Class
zu
Scheduled Tribe
zu erreichen ? weil sie sich davon einen großeren Anteil an den zu verteilenden staatlichen Pfrunden, d. h. Stellenreservierungen erhoffte.
[22]
Ab dem Juli 2015 kam es zu gewalttatigen Ausschreitungen in Gujarat, weil die zahlenmaßig starke Kaste der
Patidar
(oder Patels) die Anerkennung als OBC verlangte.
[23]
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Im originalen englischen Wortlaut:
15(4): Nothing […] shall prevent the State from making any special provision for the advancement of any socially and educationally backward classes of citizens or for the Scheduled Castes and the Scheduled Tribes.
16 (4) Nothing in this article shall prevent the State from making any provision for the reservation of appointments or posts in favour of any backward class of citizens which, in the opinion of the State, is not adequately represented in the services under the State.
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