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Der Begriff
Nomenklatura
bezeichnet im westlichen Sprachgebrauch in
sozialistischen Landern
zum einen ein Verzeichnis aller Fuhrungspositionen in
Partei
,
Verwaltung
, Wirtschaft und Gesellschaft. Dieses Verzeichnis ist ein Instrument der langfristigen
Personalplanung
im Rahmen der im
Kommunismus
typischen
Kaderpolitik
.
[1]
Andererseits bezeichnete der Begriff
Nomenklatura
auch die Gesamtheit der Personen, welche diese wichtigen Fuhrungspositionen innehatten, also die
Eliten
.
Wie auch der Begriff
Nomenklatur
ist
Nomenklatura
lateinischen Ursprungs: Beide Begriffe stammen von
nomenclatura
(
nomen
= Name,
calare
= zusammenrufen) ab und bezeichnen ein Namensverzeichnis. Wahrend
Nomenklatur
aber direkt dem Lateinischen entlehnt ist und im Sprachgebrauch fur Namens- und Begriffslisten aller Art verwendet wird, kommt
Nomenklatura
vom
russischen
номенклатура
her. Im westdeutschen Sprachgebrauch wurde
Nomenklatura
ausschließlich im direkten oder ubertragenen Sinne fur Namensverzeichnisse parteipolitischer
Kader
verwendet.
Die Begriffe ?Nomenklatura“ (als Gesamtheit der Funktionare) bzw. ?Nomenklaturkader“ entstammen dem Sprachgebrauch der
SED
fur Fuhrungskrafte aller Art. Die Bezeichnung lasst darauf schließen, dass Fuhrungs- und Einflusspositionen nur mit Personen besetzt wurden, die in der entsprechenden
Nomenklatur
als
linientreu
und parteiergeben gelistet waren.
Derartige Privilegiertengruppen sind keine Erfindung des
real existierenden Sozialismus
, entwickelten sich aber in dieser Gesellschaftsformation besonders gut. Schon
Leo Trotzki
sprach 1930 im
Exil
davon, dass es in
Russland
eine ?neue
Bourgeoisie
“ gebe (in: ?Die wirkliche Lage in Russland“ 1930), die er aber nicht mit der Burokratie in Partei- und Staatsfuhrung in Eins setzte. (?Der
Kulak
tat sich mit dem kleinen Industriellen zusammen, um die vollstandige Wiederherstellung des Kapitalismus zu erreichen. Und so eroffnete sich ein unversohnlicher Kampf um die Verteilung des Mehrprodukts der Arbeit: Wer wurde daruber in naher Zukunft verfugen ? die Sowjetburokratie oder die neue Bourgeoisie?“ schrieb er in seinem Werk ?Stalin“.)
Milovan đilas
hat der Pervertierung des Gleichheitsgedankens im
Jugoslawien
Josip Broz Titos
mit seinem Buch ?Die Neue Klasse“ (deutsch 1958) ein Denkmal gesetzt. Nach dem
Zusammenbruch der SED-Diktatur in der DDR
wurde das ganze Ausmaß der neuen
Klassengesellschaft
und des polizeistaatlichen Uberwachungssystems deutlich, dieser fein verwobenen Mischung aus
Privilegien
und
Angst
, aus erkaufter und erzwungener Zustimmung. Der Untergang der sozialistischen Staaten Osteuropas war nicht zuletzt eine Folge dieses eklatanten Widerspruchs zwischen
Ideologie
und
Wirklichkeit
, von den auf Papier gewahrten
Grundrechten
und subjektiver Ohnmacht des einfachen Burgers.
Als Folge dieser sozialistischen Klassengesellschaft erhielt der Begriff ?Nomenklatura“ zunehmend auch einen bitteren, ablehnenden Beigeschmack und stand dann fur
Apparatschik
und
Bonzenstaat
. Seit Ende der kommunistischen Diktaturen beschrankt sich der Sprachgebrauch weitgehend auf diese Bedeutung.
Der Begriff steht fur die Fuhrungskader der
Sowjetunion
. Die Nomenklatura bestand ausschließlich aus
KPdSU
-Mitgliedern, die von einer gewissen ?mittleren“ Einfluss- bzw. Leitungsebene an aufwarts tatig waren. Sie war im Prinzip die
Elite
der Sowjetunion, die uber ausnahmslos alle Bereiche des Landes und seiner Bevolkerung unumschrankt herrschte.
Die verschiedenen
SED
-Fuhrungen (
Politburo
,
Zentralkomitee
,
Bezirksleitungen
usw.) und die Ministerien der DDR schufen ein System von Nomenklaturkadern nach sowjetischem Vorbild, die mit linientreuen, der
Parteidisziplin
besonders ergebenen, speziell in
Parteischulen
unterwiesenen Mitgliedern besetzt wurden.
Es gab eine genaue Nomenklaturkaderverordnung, in der die wichtigen Leitungspositionen (mehrere hundert) in der
DDR
erfasst waren. Vor der Berufung in eine solche Position (1. Sekretare der SED-Kreis- und Bezirksleitungen, Generaldirektoren der
Kombinate
, Minister, Staatssekretare, Rektoren, Direktoren wichtiger Institute, Fuhrungspersonen in den Medien usw.) musste diese Personalvorlage erst durch das
ZK der SED
, das heißt die entsprechende Abteilung im ZK, formal bestatigt werden. Ziel war, eine moglichst luckenlose Kontrolle des offentlichen Lebens zu erreichen.
In einem solchen System konnten die Fuhrungspositionen mit wenigen Ausnahmen nur von linientreuen SED-Mitgliedern besetzt werden. Um eine Position als sozialistischer Leiter zu erreichen, musste sich der Nomenklaturkader-Kandidat zuvor in untergeordneten Leitungsfunktionen als geeignet erweisen und sich politisch bewahren. Außerdem war in spateren Jahren fur derartige Positionen laut
Stellenplan
, korrekt ?Kaderentwicklungsplan“, ein
Hochschulstudium
(moglichst mit
Promotion
) unabdingbar, erganzt durch den Besuch der der Leitungsebene entsprechenden Parteischule, wie Bezirksparteischule und/oder
Parteihochschule
der SED. Seit den
1970er
Jahren erwuchsen aus den Familien der ursprunglichen Nomenklaturkader immer haufiger regelrechte Nomenklaturkader-?Dynastien“. Ab 1983 wurde beim
Ministerrat der DDR
der elektronische ?Zentrale Kaderdatenspeicher“ (ZKDS) gefuhrt.
2014 wurde bekannt, dass Stasi-Chef Erich Mielke kompromittierendes Material uber Mitglieder des SED-Zentralkomitees in einer geheimen Ablage namens ?Rote Nelke“ sammelte.
[2]
[3]
In dem bislang weitgehend unbekannten Aktenbestand befinden sich Informationen uber die Stasi-Zusammenarbeit, aber auch NS-Belastungen, z. B. von
Margot Honecker
,
Gunter Mittag
und
Hermann Axen
. Die erhaltenen Dossiers belegen, dass nicht wenige schon vor ihrer Funktion als Nomenklaturkader inoffizielle Beziehungen zum MfS hatten. Vor dem Aufstieg wurden sie im Auftrag der Kaderabteilung des Zentralkomitees vom MfS uberpruft. Das MfS wurde so zum Personalberater der SED. Viele Nomenklaturkader arbeiteten nach ihrem Aufstieg weiter ?offiziell“ mit dem MfS zusammen. Sie informierten das MfS und ließen sich andererseits Informationen vom MfS zukommen, um ihre Personalpolitik im Interesse der SED zu steuern. Als Beispiele werden in den Akten die fur Frauenfragen zustandige ZK-Sekretarin Ingeburg Lange, der Reichsbahnprasident Otto Arndt oder Bauminister Wolfgang Junker genannt.
Das Phanomen dieser offiziellen Partner des MfS ist bisher in der Forschung unterschatzt worden. Sie berichteten nicht nur. Auf Grund des Informationsaustausches mit dem MfS trafen sie nach Absprache mit dem MfS und der SED auch Personalentscheidungen, die in Biografien von Burgern eingreifen konnten. Sie hatten also deutlich mehr Macht als der durchschnittliche IM. Die Nomenklaturkader waren die eigentlichen Machthaber in der SED-Diktatur.
[4]
Die Nomenklatura in der DDR setzte sich wie folgt zusammen:
- Zum engsten Kreis der Spitzenfunktionare (etwa 30 Personen) gehorten die Mitglieder und Kandidaten des SED-
Politburos
.
- Zum engeren Kreis der Nomenklatura werden etwa 500?600 Personen gerechnet.
[5]
- Inklusive aller leitenden, mittleren und unteren
Funktionare
von SED,
Blockparteien
,
Massenorganisationen
, staatlichen Institutionen, Kultur und Wirtschaft umfasste die Nomenklatura nach manchen Angaben rund 250 000
[5]
Personen, anderen Angaben gemaß etwa 339.000
[6]
Personen.
Positionen, die zur Nomenklatura gehorten, waren unter anderem:
- alle hauptamtlich Angestellten der SED außer Buro- und Hauspersonal, alle haupt- und ehrenamtlichen Mitarbeiter von SED-Instituten und -Institutionen außer Buro- und Hauspersonal
- alle Mitglieder der zentralen Vorstande der anderen Blockparteien
CDU
,
LDPD
,
NDPD
, Bauernpartei (
DBD
); alle Mitglieder ihrer Bezirksvorstande, die hauptamtlichen Angestellten dieser Parteien außer Buro- und Hauspersonal, alle haupt- und ehrenamtlichen Mitarbeiter von Instituten und Institutionen dieser Parteien außer Buro- und Hauspersonal
- alle Mitglieder der zentralen Vorstande der Massenorganisationen wie
FDGB
,
FDJ
,
DSF
,
DFD
,
GST
usw., alle Mitglieder der Bezirksvorstande der DDR-Massenorganisationen, die hauptamtlichen Angestellten dieser Massenorganisationen außer Buro- und Hauspersonal, alle haupt- und ehrenamtlichen Mitarbeiter von Instituten und Institutionen der DDR-Massenorganisationen außer Buro- und Hauspersonal
- alle Abgeordneten der Volkskammer, der Bezirkstage, alle leitenden hauptamtlichen Mitarbeiter der Volkskammer und der Bezirkstage
- alle Mitglieder des Staatsrates der DDR, des Ministerrates der DDR und der Rate der Bezirke; alle leitenden Mitarbeiter des Staatsrates, des Ministerrates, der Ministerien, der Rate der Bezirke, die leitenden Mitarbeiter von Instituten und Institutionen des Staatsrates, des Ministerrates und der Ministerien
- alle hauptamtlichen Mitarbeiter des
MfS
außer Buro- und Hauspersonal, die wichtigen ehrenamtlichen Mitarbeiter des MfS, alle leitenden Mitarbeiter der
Volkspolizei
im Offiziersrang (ab
Major
aufwarts), alle leitenden haupt- und ehrenamtlichen Mitarbeiter der
Kampfgruppen der Arbeiterklasse
im Offiziersrang, alle Offiziere der
NVA
im Rang Major oder hoher
- das gesamte leitende Personal von Universitaten, Hochschulen, Instituten und Bildungseinrichtungen, die leitenden Mitarbeiter im Schulwesen (ab Schulleiter aufwarts), das leitende Personal im Gesundheitswesen
- alle Betriebsdirektoren und das leitende Personal von Großbetrieben
- alle, die in Fach- und ahnlichen Verbanden leitende Funktionen bekleideten
- alle, die mit hohen Auszeichnungen bedacht wurden.
Nach Auffassung von
Eric Gujer
hat sich die Nomenklatura in Russland nach den 1990er-Jahren wieder etabliert. Sie sei zusammengehalten von Pfrunden und Privilegien sowie dem ?selbstverstandlichen Glauben an die imperiale Bestimmung Russlands“.
[7]
- Michael Voslensky
:
Nomenklatura. Die herrschende Klasse der Sowjetunion in Geschichte und Gegenwart.
3., aktualisierte und erweiterte Ausgabe. Nymphenburger, Munchen 1987,
ISBN 3-485-00524-X
.
- Susan Pethe, Christian Booß:
Der Vorgang ?Rote Nelke“. Geheimakten des MfS zu hohen SED-Funktionaren.
In: Christian Booß,
Helmut Muller-Enbergs
:
Die indiskrete Gesellschaft. Studien zum Denunziationskomplex und zu inoffiziellen Mitarbeitern.
Verlag Polizeiwissenschaft, Frankfurt am Main 2014,
ISBN 978-3-86676-384-5
, S. 49?69.
- ↑
Artikel
Nomenklatura.
In:
Everhard Holtmann
(Hrsg.):
Politik-Lexikon.
3., vollig uberarbeitete und erweiterte Auflage. Oldenbourg, Munchen/Wien 2000,
ISBN 3-486-24906-1
, S. 422.
- ↑
Matthias Schlegel:
Erich Mielke und sein geheimes Dossier: Die brisanten Akten uber die Spitzengenossen.
In:
tagesspiegel.de
.
1. Oktober 2014,
abgerufen am 31. Januar 2024
.
;
http://www.focus.de/politik/deutschland/25-jahre-mauerfall/geheimarchiv-rote-nelke-stasi-bespitzelte-selbst-sed-spitzenfunktionaere_id_4178648.html
- ↑
Geheimarchiv "Rote Nelke": Stasi bespitzelte selbst SED-Spitzenfunktionare.
In:
Focus Online
.
3. Oktober 2014,
abgerufen am 31. Januar 2024
.
- ↑
Susan Pethe, Christian Booß:
Der Vorgang ?Rote Nelke“. Geheimakten des MfS zu hohen SED-Funktionaren.
In: Christian Booß,
Helmut Muller-Enbergs
:
Die indiskrete Gesellschaft. Studien zum Denunziationskomplex und zu inoffiziellen Mitarbeitern.
Verlag Polizeiwissenschaft, Frankfurt am Main 2014,
ISBN 978-3-86676-384-5
, S. 49?69.
- ↑
a
b
Arnd Bauerkamper
:
Die Sozialgeschichte der DDR
(=
Enzyklopadie deutscher Geschichte.
Bd. 76). Oldenbourg, Munchen 2005,
ISBN 3-486-57637-2
, S. 41.
- ↑
http://www.stasiopfer.de
:
Nomenklaturkader der DDR-Diktatur
. Abgerufen am 2. Mai 2012.
- ↑
Eric Gujer
:
Der Westen ist naiv: Auch wenn Putin verschwindet, wird sich Russland nicht verandern.
In:
nzz.ch.
1. April 2022,
abgerufen am 2. April 2022
.