Mit
Neuer Sachlichkeit
bezeichnet man die Ruckbesinnung auf die Welt des Sichtbaren.
[1]
Sie begann unmittelbar nach dem
Ersten Weltkrieg
zugleich mit der Hinwendung vieler Kunstler zu sozialkritischen Bildthemen (
George Grosz
,
Otto Dix
,
Christian Schad
,
Lotte Laserstein
u. v. a.). Sie etablierte sich als eine fuhrende Kunstrichtung der
Weimarer Republik
.
[2]
Der Zeitrahmen wird gemeinhin mit dieser gleichgesetzt.
Die Neue Sachlichkeit war eine pragende Stilrichtung im
Deutschen Reich
der
Zwischenkriegszeit
mit fuhrenden Vertretern wie George Grosz, Otto Dix,
[3]
Carl Grossberg
,
Alexander Kanoldt
,
Karl Hubbuch
,
Franz Radziwill
, Christian Schad,
Georg Scholz
und
Georg Schrimpf
.
[4]
Sie beschrankte sich nicht nur auf Deutschland, sondern entfaltete sich auch in Osterreich (
Sergius Pauser
,
Rudolf Wacker
), in der Schweiz (
Niklaus Stocklin
,
Francois Barraud
) und den Niederlanden (
Pyke Koch
).
[5]
Nach dem Ersten Weltkrieg und unter dem Einfluss gravierender gesellschaftspolitischer Umbruche, die in der
Weimarer Republik
mundeten, entwickelte sich unter dem Einfluss der italienischen
Pittura metafisica
die Neue Sachlichkeit als eine Kunst, die nach den Aufbruchen und Utopien der
Avantgarde
im Sinne einer Desillusionierung wieder zum Gegenstand, zum Alltagsobjekt, einem klaren Bildkonzept und einer objektivierenden Darstellungsweise zuruckgefunden hat. Der bereits wahrend des
Ersten Weltkriegs
in Frankreich laut gewordene
?Ruf nach Ordnung“
(Retour a l’ordre; Return to order)
leitete auch in der Kunst eine erneute Ruckbesinnung auf Ordnungsprinzipien und kunstlerische Traditionen (z. B. Malweise) ein.
Unter dem Programm gewordenen Ausstellungstitel ?
Neue Sachlichkeit. Deutsche Malerei seit dem Expressionismus
“ fasste
Gustav Friedrich Hartlaub
, Leiter der
Kunsthalle Mannheim
, 1925 die fuhrenden Vertreter ? einschließlich des eine Sonderrolle einnehmenden
Max Beckmann
? in einer Wanderausstellung zusammen. Die stark beachtete Schau mit ?nach-
expressionistischer
“ Kunst brachte unterschiedliche Kunstlerpersonlichkeiten auf einen Nenner.
[6]
Ausgehend von der Vorstellung einer krisenhaften Gegenwart unterteilte Hartlaub die Neue Sachlichkeit in einen veristisch-gesellschaftskritischen Flugel und einen eher klassisch-konservativen Flugel, die im Sinne einer Kritik- und Fluchttendenz auf die als Krise wahrgenommene Umbruchszeit seismographisch reagierten.
Die Nuchternheit dieser Kunstrichtung bei beispielsweise
Carl Grossberg
und
Alexander Kanoldt
wurde in Bezug gesetzt zu den gefestigten gesellschaftlichen Verhaltnissen Mitte der 1920er Jahre und den vorherrschenden kulturellen und technischen Werten. ?So heißt es bei Ursula Horn (1972), dass die Neue Sachlichkeit, indem sie das Dinghafte, Statische und Nuchterne hervorhebe, Zuge der technizistischen Grundhaltung des modernen Managertums und Ingenieurwesens reflektiere, eine Sicht der Realitat, wie sie der kapitalistischen Rationalisierung entsprache.“
[7]
[8]
Die Bilder wirken deshalb so technisch, weil jede Emotion als unsachlich galt.
[9]
Man bemuhte sich um die großtmogliche Reduktion. Der Bezug zu den Schriften des 1920 in Munchen gestorbenen Soziologen und Okonomen
Max Weber
und seinem Thema
Rationalisierung
ist unverkennbar: Die Neue Sachlichkeit ist Ausdruck der Effektivierung und Stabilisierung der kapitalistischen Massenproduktion, die mit besitzburgerlichen Vorstellungen von Individualitat und Gemutlichkeit bricht und zur
Depersonalisierung
der gestalterischen und kunstlerischen Ausdrucksformen beitragt.
Der franzosische Kulturhistoriker
Jean Clair
analysierte die Neue Sachlichkeit als Ausdrucksform der
Melancholie
der Zwischenkriegszeit und widersprach damit der gangigen Lehrmeinung.
[10]
Die Sonderexistenz, das Schwierige, das Melancholische dieser Kunstler ruckte in den Blickpunkt. Avantgarde ? oder Tradition? Der Soziologe und Philosoph
Karl Mannheim
, der sich zwischen 1922 und 1925 bei dem Bruder Max Webers, dem Kultursoziologen
Alfred Weber
habilitierte, ist durch den von ihm gepragten Terminus der
Freischwebenden Intelligenz
schon als ein fruher Gradmesser einer ganz anderen Deutung wichtig.
Beate Reese
hat den Versuch Jean Clairs, die Neue Sachlichkeit an die Tradition des Saturnischen und an
Albrecht Durers
Thema der Melancholie und seinen Meisterstich
Melencolia I
anzubinden, uberhaupt historisch zu verorten, durch eine Fulle von Quellen und Dokumenten belegt und ausgebaut. Dieser ganz andere Ansatz ist bis heute indes wenig rezipiert worden.
[11]
1925 war ein entscheidendes Jahr fur die Kunst der Neuen Sachlichkeit. 1925 erschien aber auch
Franz Rohs
Publikation
Nachexpressionismus. Magischer Realismus.
Der Terminus Nachexpressionismus konnte sich nicht durchsetzen. In der noch jungen
Weimarer Republik
errangen vor allem die wegweisenden Vertreter des
Expressionismus
wie
Erich Heckel
,
Karl Schmidt-Rottluff
oder
Max Pechstein
hohe Anerkennung. Von einer Ablosung des Expressionismus durch die Neue Sachlichkeit kann somit nicht gesprochen werden. Vielmehr entwickelte sich die Neue Sachlichkeit eher zeitgleich mit einem gemaßigten Expressionismus und der
Bauhaus
-Avantgarde. Auch aufgrund weitgehend fehlenden unterstutzender Strukturen war ihr nur eine kurze offentliche Resonanz beschieden: Bereits gegen 1930 mehrten sich die Angriffe seitens der nationalsozialistischen und auch der kommunistischen Partei gegen die Neue Sachlichkeit.
Die Mannheimer Ausstellung war die einzige große Schau zur Neuen Sachlichkeit in Deutschland. Es gab noch eine weitere große 1929 in Amsterdam (
Tentoonstelling van de Onafhankelyken
. Stedelijk Museum Amsterdam, mit de groep Duitsche ?Neue Sachlichkeit“), auf der auch Carl Grossberg vertreten war.
[12]
Eine Ausstellung zum Thema
Die Hinwendung der Neuen Sachlichkeit zu einer neuen Romantik: Deutsche romantische Malerei der Gegenwart
fand 1932 im
Schworhaus-Museum
der Stadthalle Ulm statt.
[13]
Weitere Ausstellungen wurden veranstaltet von der Kunsthalle Mannheim 1932/1933 unter dem Titel
Beschauliche Sachlichkeit
(Wanderausstellung)
[14]
und von der
Kestner-Gesellschaft
Hannover 1933 zum Thema
Neue deutsche Romantik.
[15]
Von der kunstlerischen Herkunft und der jeweiligen Werkentwicklung her sind die unter dem Terminus Neue Sachlichkeit summierten Kunstler außerst heterogen. Vielfach um 1890 geboren, standen einige Vertreter der Neuen Sachlichkeit wahrend und unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg zunachst dem Expressionismus und Dadaismus nahe (Otto Dix, Grosz, Franz Radziwill, Christian Schad,
Gert H. Wollheim
). Andere wiederum konnten ein akademisches Studium (Georg Scholz) oder eine solide Berufsausbildung beispielsweise als Dekorationsmaler (
Walter Schulz-Matan
) vorweisen, wiederum andere waren erklarte Autodidakten (Georg Schrimpf). Bis auf die hannoverschen Neusachlichen um
Bernhard Dorries
und die Kolner Progressiven um
Heinrich Hoerle
sind keine Gruppenbildungen mit einem Programm nachweisbar. Dennoch lassen sich durchaus Schwerpunkte im Sudwesten Deutschlands (Georg Scholz,
Wilhelm Schnarrenberger
, Karl Hubbuch), in Munchen, im Rheinland (
Anton Raderscheidt
), in Berlin und Norddeutschland mit Bezugen zu regionalen Kunsttraditionen ausmachen. Bindeglieder sind auch Schuler- und Lehrereinflusse sowie lose Beziehungen zwischen Kunstlern und ihren jeweiligen Wirkungsorten. Daneben gab es eine Anzahl von Einzelgangern wie
Albert Aereboe
und
Gottfried Brockmann
. Beziehungen zum Weimarer Bauhaus weist beispielsweise Carl Grossberg auf.
Charakteristisch fur die Neue Sachlichkeit ist die Wiederaufnahme der Gattungsmalerei und das Ausloten der jeweiligen Gattungsgrenzen.
Portrat
,
Landschaft
, Stadtansicht (
Vedute
) und vor allem das
Stillleben
nehmen einen hohen Anteil an der Kunstproduktion ein, dem sich in besonderer Weise Kristina Heide gewidmet hat.
[16]
[17]
Uberlieferte Bildtypen wie das
Fensterbild
oder das
Atelierinterieur
werden aufgenommen und umgedeutet, auch im Hinblick auf die Reflexion der kunstlerischen Existenz in der modernen Gesellschaft. Eine große Rolle spielt die
Aktmalerei
.
[18]
[19]
Bislang nicht als kunstwurdig erachtete Motive wurden in die Malerei einbezogen:
Litfaßsaule
und
Reklameschilder
sowie neue Technologien, die wie Gluhbirne, Grammophon, Radioapparat und Fabrikarchitektur die Umwelt und den Alltag bestimmten. Das Changieren zwischen Zeitnahe und Weltferne, Traditionsbewusstsein und Modernitat, Melancholie und Fortschrittsglauben zeichnet die Kunst der Neuen Sachlichkeit in besonderem Maße aus.
[20]
[21]
Uber die Kritik am sowie die Anpassungsstrategien einzelner Vertreter an den Nationalsozialismus ist erst in jungerer Zeit ausfuhrlicher geforscht worden (
Olaf Peters
,
[22]
Beate Reese,
[23]
James A. v. Dyke
[24]
).
Dem Versuch einiger Kunstler (Karl Hubbuch, Franz Radziwill), nach dem Ende des
Nationalsozialismus
die Neue Sachlichkeit weiter zu fuhren sowie fruhere und verschollene Bilder neu zu malen (Franz Radziwill), war kein Erfolg beschieden. Erst mit dem Aufkommen der
Pop Art
und eines neuen Realismus wurde in den 1960er Jahren die Neue Sachlichkeit vor allem von dem italienischen Kunsthandler
Emilio Bertonati
wiederentdeckt.
1969 erschien das Standardwerk von
Wieland Schmied
Neue Sachlichkeit und Magischer Realismus in Deutschland 1918?1933.
[25]
[26]
Die erste deutsche Ausstellung nach 1945 zum Thema Neue Sachlichkeit fand 1961 in Berliner
Haus am Waldsee
statt. Sie zeigte Werke von
Erich Wegner
und
Otto Moller
.
[27]
usw.
In den 1960er Jahren setzten auch die ersten Bemuhungen der Kunsthalle Mannheim mit ihren Direktoren
Walter Passarge
,
Heinz Fuchs
um ihre herausragende Tradition der Neuen Sachlichkeit in ihrem Haus ein.
[28]
Man konnte von einem ersten Remake sprechen. Bis heute halt diese Aktivitat der Kunsthalle an.
[29]
[30]
Hier ist also nicht nur auf die Ausstellungs-, sondern auch auf die Sammlungsgeschichte hinzuweisen. 1994 erfolgte eine erste Aufarbeitung (Forschung) der Entstehungsgeschichte der Ausstellung von 1925 durch
Manfred Fath
und Hans-Jurgen Buderer.
[31]
[32]
(Siehe hierzu auch Anmerkung 8.) 1994 gab es die erste Aufarbeitung (Forschung) der Sammlung und Sammlungsgeschichte der Kunsthalle Mannheim durch Karoline Hille.
[33]
Die Neue Sachlichkeit gehort zum festen Bestandteil des Ausstellungsbetriebs weltweit. Mit vielen Ausstellungen, Analysen der Kunstgeschichte und in Kunstzeitschriften versucht man bis heute dem
Phanomen
Neue Sachlichkeit naher zu kommen.
[34]
[35]
Die Kunst nach dem Ersten Weltkrieg ist in der
Stadtischen Galerie im Lenbachhaus
in Munchen durch eine Auswahl bedeutender Werke der Neuen Sachlichkeit vertreten, die paradigmatisch fur die Kunst und Kulturpolitik der 1920er und 1930er Jahre stehen. Die historischen Bruche und Verwerfungen sind beispielhaft reprasentiert durch Hauptwerke wie Georg Schrimpfs Portrat
Oskar Maria Graf
(1918), Rudolf Schlichters Bildnis von Bertolt Brecht (um 1926),
Operation
(1929) von Christian Schad, Josef Scharls
Gefallener Soldat
(1932), und Franz Radziwills
Der U-Boot-Krieg / Der totale Krieg / Verlorene Erde
(um 1938/39 bis 1960).
[36]
Die Neue Sachlichkeit wird meist in drei separate Stromungen unterteilt: den Verismus, Klassizismus und den Magischen Realismus.
Im
Verismus
gestaltet sich die Neue Sachlichkeit als eine
politische Kunst
, die sich kritisch mit der
Gesellschaft
der Weimarer Republik auseinandersetzt und sich mit
sozialistischen
und
kommunistischen
Zielen solidarisierte. Aber auch auf die entgegengesetzte Richtung, die Entwicklung einiger Kunstler aus der Neuen Sachlichkeit in Richtung Nationalsozialismus, wird von Kunsthistorikern hingewiesen. Beispiele dafur sind in
Osterreich
Sergius Pauser
und
Ernst Nepo
.
Die wichtigsten Vertreter der Neuen Sachlichkeit waren
Otto Dix
,
August Wilhelm Dressler
,
Albert Birkle
,
Christian Schad
,
George Grosz
,
Conrad Felixmuller
,
Bernhard Kretzschmar
,
Georg Schrimpf
,
Karl Hubbuch
,
Wilhelm Schnarrenberger
,
Rudolf Schlichter
, und
Karl Rossing
. Die Veristen entwickelten einen der bekanntesten
Topoi
der Neuen Sachlichkeit in der Gestalt inhaltlich provokanter Darstellungen, haufig bis ins
Groteske
ubersteigert, mittels altmeisterlicher Techniken.
Die Entstehung der Neuen Sachlichkeit mit ihrem Ruckgriff auf traditionelle Techniken und Malweisen gab auch einer politisch weniger interessierten Gruppe von Malern Raum, die sich formal von einer post-
futuristischen
Kunstlergruppe um die
italienische
Zeitschrift
Valori Plastici
(unter anderem
Giorgio de Chirico
) beeinflussen ließ. Ihre wichtigsten Vertreter waren Georg Schrimpf,
Rudolf Dischinger
und
Alexander Kanoldt
, mit ihrem akademischen Stil gelten sie als die
Idylliker
der Weimarer Republik.
Die Unterteilung der Neuen Sachlichkeit in Veristen und Klassizisten nahm bereits
Gustav Friedrich Hartlaub
bei der ?Taufe“ vor. Den Begriff
Magischer Realismus
hingegen fuhrte
Franz Roh
ein. Anfangs noch konkurrierend zum Oberbegriff verwendet, wird damit heute eine dritte Stromung bezeichnet, die sich als eine Brucke zum
Surrealismus
verstehen lasst. Der bekannteste Vertreter des ?Magischen Realismus“ ist
Franz Radziwill
, weitere Vertreter sind
Richard Oelze
,
Carl Grossberg
,
Herbert Bottger
.
Edward Hopper
und
Grant Wood
(mit
American Gothic
, 1930) sind die bekanntesten Vertreter ahnlicher Stromungen in den USA.
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. Hier: Kapitel 1.
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S. 13?19, besonders S. 16 f.; Kapitel 4.4.
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