Als
Neomarxismus
oder
Neo-Marxismus
werden verschiedene Theorien bezeichnet, die an das Werk von
Karl Marx
anknupfen, es auf die jeweilige Gegenwart beziehen und neu interpretieren. Vertreter solcher Theorien nennt man
Neomarxisten
.
Franz Mehring
veroffentlichte 1901 in der sozialdemokratischen Theoriezeitschrift
Die Neue Zeit
den Aufsatz
Neomarxismus
. Darin kritisierte er bestimmte Thesen ?burgerlicher“ Marx-Interpreten, die Marx’ individuelle Genialitat, jedoch keine revolutionare Aktualitat zubilligten. Ihnen gegenuber hielt Mehring fest, dass die Marxsche Theorie den
Sozialismus
mit dem
historischen Materialismus
wissenschaftlich begrundet habe und dieser als gultige
Weltanschauung
des
Proletariats
eine praktische Waffe des taglichen
Klassenkampfes
sei und bleiben musse.
[1]
Neomarxismus wurde demnach als Widerspruch zum
?orthodoxen“ Marxismus
der damaligen
Sozialdemokratie
verstanden.
[2]
Neuinterpretationen des
Marxismus
wurden durch einschneidende politische Entwicklungen angestoßen oder erzwungen. Der
Erste Weltkrieg
bedeutete eine tiefe Krise fur den
Fortschrittsglauben
des 19. Jahrhunderts. Der
Kapitalismus
brach nicht wie von Marx erwartet an seinen inneren Widerspruchen zusammen. Nach Ansicht der Neomarxisten kam es statt der
Sozialrevolution
in den am meisten entwickelten Industriegesellschaften, zu einem gesamteuropaischen
imperialistischen
Raubkrieg, den die
Sozialdemokratie
entgegen den Vorkriegsbeschlussen der
Sozialistischen Internationale
mittrug. Die
Oktoberrevolution
erfolgte im nur schwach industrialisierten zaristischen Russland; die
Novemberrevolution
in Deutschland wurde gewaltsam beendet. Danach stieg in einigen instabilen parlamentarischen Demokratien Westeuropas der
Faschismus
, in der Sowjetunion der
Stalinismus
auf.
Daraufhin bemuhten sich verschiedene marxistische Autoren um eine situationsgerechte Anpassung der Marxschen Theorie. Sie gingen weiterhin vom Grundwiderspruch zwischen Kapital und Arbeit und vom
humanistischen
Impuls der Marxschen Fruhschriften aus, alle entwurdigenden und unmenschlichen Gesellschaftsverhaltnisse abzuschaffen. Dabei stellen sie aber die Marxsche Geschichtsphilosophie, den historischen Materialismus, die Zusammenbruchstheorie und den aus okonomischen Gesetzmaßigkeiten gefolgerten
Determinismus
in Frage. Sie analysieren mittels Marxscher Methodik und Zentralbegriffe besonders das Zusammenwirken von Staatsmacht und Wirtschaft, dessen Folgen fur okonomische Krisen, die Beherrschung aller Gesellschaftsbereiche durch kapitalistische Ideologien, die Massenpsychologie und Bedurfnisstrukturen der Individuen.
[3]
Eine neue Sicht auf das Werk von Marx wurde auch angestoßen durch die Veroffentlichung bisher nicht zuganglicher Fruhschriften wie
Okonomisch-philosophische Manuskripte aus dem Jahre 1844
(1932).
Da es keine geschlossene neomarxistische Bewegung, keine Organisationen und nur selten Personen, die sich neomarxistisch nennen, gibt, ist eine eindeutige Eingrenzung der Zugehorigkeit zum Neomarxismus schwierig, bisweilen ist die Verwendung des Begriffs willkurlich; in der tagespolitischen Debatte werden auch oft allgemein gesellschafts- oder kapitalismuskritische Positionen unspezifisch ? dann meist als negative Wertung gemeint ? als neomarxistisch bezeichnet. Auch eine einheitliche Theorie existiert nicht, man kann nur allgemeine Merkmale angeben. Eine dauerhafte Stromung im neomarxistischen Umkreis bildet der praxisphilosophische Marxismus, dessen Bezeichnung bis auf den italienischen, marxistischen Philosophen
Antonio Labriola
zuruckverweist.
Der Neomarxismus verwirft das als
deterministisch
missverstandene Geschichtsbild des ?traditionellen Marxismus“, nach dem eine quasi naturgesetzliche Entwicklung zu
Revolution
und
Sozialismus
fuhre. Betont wird hingegen die Bedeutung des sozialen Handelns der realen Menschen (
Subjekte
), die gesellschaftliche Praxis, sowie das besondere Verhaltnis zum philosophischen Erbe des deutschen Idealismus, besonders das von
Hegel
. Damit weicht auch die Auffassung, dass alle Erscheinungen schematisch aus wirtschaftlichen Faktoren abgeleitet werden konnen (?
Okonomismus
“), einer differenzierteren Betrachtungsweise. Einige neomarxistische Richtungen greifen weniger auf die Ergebnisse der Marx’schen Analyse als auf seine Methoden zuruck, um die veranderten soziookonomischen Verhaltnisse entwickelter kapitalistischer Gesellschaften zu analysieren.
Als Vertreter des Neomarxismus gelten heute auch marxistische Autoren der 1920er und 1930er Jahre, die sich nicht Neomarxisten nannten, aber ihre Marx-Interpretation vom
Marxismus-Leninismus
der fruhen
Sowjetunion
abgrenzten.
[4]
Dazu gehorten vor allem
Antonio Gramsci
in Italien,
Georg Lukacs
in Ungarn,
Karl Korsch
und die
Kritische Theorie
der
Frankfurter Schule
in der
Weimarer Republik
. Deren Vertreter grundeten 1923 das
Institut fur Sozialforschung
in Frankfurt am Main, das sich besonders der marxistischen
Faschismustheorie
widmete.
Das Institut fur Sozialforschung wurde 1956 neu gegrundet. Seine Hauptvertreter
Max Horkheimer
,
Theodor W. Adorno
,
Erich Fromm
,
Ernst Bloch
,
Alfred Sohn-Rethel
und vor allem
Herbert Marcuse
gewannen dann erheblichen Einfluss auf die
Neue Linke
und die
Westdeutsche Studentenbewegung der 1960er Jahre
. Mit seinem Versuch, Marxismus und
Existenzialismus
zu verbinden, schloss sich auch
Jean-Paul Sartre
dem neomarxistischen
Diskurs
an.
Hinzu kamen marxistische Autoren der
68er-Bewegung
wie
Johannes Agnoli
,
Rudi Dutschke
,
Hans-Jurgen Krahl
und
Alfred Schmidt
in Westdeutschland,
Ernest Mandel
in Belgien,
Louis Althusser
,
Henri Lefebvre
und
Andre Gorz
in Frankreich,
Paul Sweezy
in den USA und diverse Autoren aus Lateinamerika.
[5]
In Großbritannien formierte sich eine Gruppe von Marxisten, die nach der Niederschlagung des Aufstands in Ungarn aus der Kommunistischen Partei Großbritanniens ausgetreten war, um die Zeitschrift
New Left Review
, darunter
Edward P. Thompson
und
Perry Anderson
, zu grunden.
Da in den Landern des ?
real existierenden Sozialismus
“ die Staatsparteien das Interpretationsmonopol am Marxschen Werk beanspruchten, konnte sich der Neomarxismus zunachst nur in den westlich-kapitalistischen Landern entwickeln (?
Westlicher Marxismus
“), hauptsachlich als akademische Disziplin an Universitaten außerhalb der westlichen kommunistischen Parteien. Mit der
jugoslawischen
Praxis-Gruppe
bildete sich in der Mitte der 1960er Jahre eine offen neomarxistische
Theorieschule
in einem sozialistischen Land. Deren internationale Tagungen und die Zeitschrift
Praxis
(1965?1974) wurden zu einem Kristallisationspunkt unorthodoxen Marxismusdenkens in Europa.
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