Naturalisierung

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Naturalisierung bezeichnet das Erklaren der von Menschen geschaffenen und gesellschaftlichen Ordnungen aus der ? Natur “ der Dinge heraus und bestimmt damit geschichtliche Ergebnisse als eine Form der Natur. Das Konzept der Naturalisierung verwendet einen ontologisch verstandenen Naturbegriff und grundet auf die Dichotomie des Natur- Kultur -Gegensatzes. Eine Naturalisierung der Dinge meint die Konstruktion von Natur durch die Rasterung und Ordnung der der Natur zugerechneten Dinge in Kategorien wie Form, Zahl, Situation und Verhaltnisgroße. Darstellungen und Aussagen, die soziale und geschichtliche Ordnungen mit der Form der Natur erklaren, beziehen sich auf diese Kategorien anstelle von Geschichte und Soziologie. Wird sich dabei auf die Kategorien der Biologie bezogen, spricht man von Biologismus .

Philosophische Grundlagen

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Kants kritische Vernunft

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Immanuel Kant formulierte vor allem in seinem Werk Kritik der reinen Vernunft fur die Aufklarung in Deutschland erstmals konstruktivistische Uberlegungen, die in seinem Konzept des Ding an sich munden. Danach ist es zuerst der Verstand des Menschen selbst und zwar des Subjekts , der die Erscheinungen fur sich formt und konstruiert. Das Subjekt orientiert sich an seine Handlungs- oder Denkschema und wahlt die dazu passenden Reize aus. Bezogen auf den Verstand formuliert Kant: alle seine Vorstellungen und Begriffe sind bloss seine Geschopfe, der Mensch denkt mit seinem Verstand ursprunglich, und er schafft sich also seine Welt. (Immanuel Kant: Werke. Bd. VII, S. 71)

Begriffe der Natur sind Begriffe des Subjekts uber die Natur, die er nicht der Natur entnimmt, sondern durch seinen Verstand geformt in diese Natur hineinlegt. Die Organisation und der Zusammenhang, der Bezug der Dinge zueinander sind nicht vorgegeben, sondern davon abhangig, wie wir sie fur uns erleben:

?Die Ordnung und Regelmaßigkeit an den Erscheinungen, die wir Natur nennen, bringen wir selbst hinein, und wurden sie auch nicht darin finden konnen, hatten wir sie nicht, oder die Natur unseres Gemuts ursprunglich hineingelegt.“

? Immanuel Kant 1781 [1]

Naturalisierende Praxen und naturalisierendes Denken, die der Einsicht in eine kritische Vernunft (vgl. Kritizismus ) entgegenstehen, konnen dahingegen kritisiert werden, dass sie ideologisch verfahren und eigene Konstrukte wie beispielsweise Rasse fur Natur halten und nicht fur ein Produkt wissenschaftlicher bzw. pseudowissenschaftlicher Wissensproduktion oder einer gelebten Praxis. So grunden die rassifizierende Einteilungen von Menschen aufgrund korperlicher Merkmale ? wie Hautfarbe ? zu einer abgrenzenden Einteilung in eine Kategorie auf Konstruktionen und nicht auf die ?Natur“, die in diesem ?Wissen“ als Begrundung fur die Begriffe herangezogen wird. Die Vernunft ?arbeitet sich an den außeren Dingen ab ... Spatestens seit Marx und Mannheim hat sie ... ihre soziale Unschuld verloren und sieht sich der Ideologiekritik unterzogen“. [2] Gleichwohl hat auch Kant seinen Begriff der Race (Rasse) [3] versucht zu begrunden. [4] [5]

Naturalisierung in der Sprache

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In der Alltagssprache finden sich zahlreiche Beispiele fur Naturalisierungen. Die Aussagen ?Manner sind von Natur aus so“ und ?Deutsche sind von Natur aus so“ beinhalten biologische Naturalisierungen. Aber auch in der Politik und Wissenschaft gangige Begriffe wie Volk und Ethnie grunden auf naturalisierende Aussagen. Wie umfangreich und subtil im Gegensatz zu diesen Beispielen Naturalisierungen in der Presse und der Kunst vorhanden sind, zeigt Roland Barthes auf. Anlass fur seine Untersuchungen war ?meistens ein Gefuhl der Ungeduld angesichts der Naturlichkeit , die der Wirklichkeit von der Presse oder der Kunst unaufhorlich verliehen wurde, einer Wirklichkeit, die, wenn sie auch die von uns gelebte ist, doch nicht minder geschichtlich ist. Ich litt also darunter, sehen zu mussen, wie Natur und Geschichte standig miteinander verwechselt werden“. Die Wirkungsmachtigkeit der Naturalisierung zeigt sich nach Barthes in ihrer Eingangigkeit, in dem, ?was sich von selbst versteht“. Nach Barthes verbirgt sich dahinter ?ein ideologischer Missbrauch“ [6] , dem er in seinen ?Mythen des Alltags“ nachging.

Der Mythos setzt statt der Geschichte die Natur

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Nach Roland Barthes ist es eine wesentliche Funktion des Mythos ? wie beispielsweise die conditio humana des klassischen Humanismus ?, an die Stelle der Geschichte der Dinge eine sich vorgestellte ?Natur“ zu stellen: ?Der Mythos von der conditio humana stutzt sich auf eine sehr alte Mystifikation, die seit jeher darin besteht, auf den Grund der Geschichte die Natur zu setzen.“ [7] Durch diese Naturalisierung lasse sich soziales Unrecht und Ungleichheit ihrer Geschichte und Kritik entziehen und werde somit festgeschrieben. [8]

Durch Naturalisierung verwandelt der Mythos ? Wirklichkeit “ in einen ?Stand der Aussage“. Aber bereits die naturalisierende Aussage hat ihre grundlegende Bedingung in ihrer zeitlichen und geschichtlichen Bestimmtheit. Mythen entstehen nicht zwangslaufig, und sie kommen nicht aus dem, was sich die Gesellschaft als ?Natur“ vorstellt: ?Gibt es zwangslaufig suggestive Objekte …? Sicher nicht: man kann sich sehr alte Mythen denken, aber es gibt keine ewigen; denn nur die menschliche Geschichte lasst das Wirkliche in den Stand der Aussage ubergehen, und sie allein bestimmt uber Leben und Tod der mythischen Sprache. Ob weit zuruckliegende oder nicht, die Mythologie kann nur eine geschichtliche Grundlage haben, denn der Mythos ist eine von der Geschichte gewahlte Aussage; aus der ?Natur‘ der Dinge vermochte er nicht hervorzugehen.“ [9]

  • Roland Barthes: Mythen des Alltags. Frankfurt/M. 1964
  1. Kritik d.r.V., Werke, A, Bd.IV, S. 125.
  2. Wulf D. Hund: Die Wirklichkeit der Rasse. In: AG gegen Rassenkunde (Hg.) (1996): Deine Knochen - Deine Wirklichkeit. Texte gegen rassistische und sexistische Kontinuitat in der Humanbiologie. Unrast Verlag , S. 20, 21
  3. Vgl. in diesem Zusammenhang auch Kants Streit mit Foster. Dazu: Kant: Uber den Gebrauch teleologischer Prinzipien in der Philosophie In: Kant: Werke, Band VIII, Darmstadt 1968, S. 141 und 144 sowie Manfred Riedel: Historizismus und Kritizismus. Kants Streit mit Georg Forster und Johann Gottfried Herder. Siehe Literatur
  4. Patrick Frierson: Anthropologie in Pragmatischer Hinsicht
  5. Arnold Farr : Wie Weißsein sichtbar wird. Aufklarungsrassismus und die Struktur eines rassifizierten Bewusstseins. In: Maureen Maisha Eggers, Grada Kilomba, Peggy Piesche, Susan Arndt (Hg.) (2005): Mythen, Masken und Subjekte. Kritische Weißseinsforschung in Deutschland, Munster.
  6. Roland Barthes: Mythen des Alltags. Frankfurt/M., Suhrkamp. 1964. Seite 7.
  7. Roland Barthes: Mythen des Alltags. Frankfurt/M., Suhrkamp. 1964. Seite 17.
  8. Roland Barthes: Mythen des Alltags. Frankfurt/M., Suhrkamp. 1964. Seite 19.
  9. Roland Barthes: Mythen des Alltags. Frankfurt/M., Suhrkamp. 1964. Seite 86.