Mittag (Gryphius)

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Mittag ist ein Sonett von Andreas Gryphius . Es wurde erstmals 1650 in Frankfurt am Main in Gryphius’ Sonettsammlung ?Das Ander Buch“ publiziert. Es ist dort nach dem ? Morgen-Sonett “ das zweite der vier Sonette des Tageszeitenzyklus , der das Buch eroffnet. Zu Gryphius’ Lebzeiten wurde es mit dem ?Ander Buch“ 1657 in der ersten autorisierten Gesamtausgabe und 1663 in einer Ausgabe letzter Hand mit Anderungen wiedergedruckt.

Die 1650er Fassung wurde 1963 neu gedruckt in Band 1 einer von Marian Szyrocki und Hugh Powell verantworteten Gesamtausgabe der deutschsprachigen Werke, [1] die 1663er Fassung 2012 von Thomas Borgstedt. [2] Aus diesen Ausgaben stammen die folgenden Texte, die sich nur in Vers 9 wesentlich unterscheiden.

0000 0000 Mittag. (1650) [3]

0000 AVff Freunde! last vns zu der Taffel eylen /
0000 0000 In dem die Sonn ins Himmels mittel halt
0000 0000 Vnd der von Hitz vnd arbeit matten Welt
0000 Sucht jhren weg / vnd vnsern Tag zu theilen.

0000 Der Blumen Zier wird von den flammen pfeylen
0000 0000 Zu hart versehrt / das außgedortte Feldt
0000 0000 Wundscht nach dem Taw’ der schnitter nach dem zelt
0000 Kein Vogel klagt von seinen Liebes seilen.

0000 0000 Das Licht regiert / der schwartze Schatten fleucht
0000 0000 In eine hol / in welche sich verkreucht
0000 Den Schand vnd furcht sich zu verbergen zwinget.

0000 0000 Man kan dem glantz des tages ja entgehn!
0000 0000 Doch nicht dem licht / daß / wo wir jmmer stehn /
0000 Vns siht vnd richt / vnd hell’ vnd grufft durch dringet.

0000 0000 Mittag. (1663) [4]

0000 AUff Freunde! last uns zu der Taffel eylen /
0000 0000 In dem die Sonn ins Himmels Mittel halt
0000 0000 Vnd der von Hitz und Arbeit matten Welt
0000 Sucht ihren Weg / und unsern Tag zu theilen.

0000 Der Blumen Zir wird von den flammen Pfeylen
0000 0000 Zu hart versehrt / das außgedorte Feld
0000 0000 Wundscht nach dem Tau’ / der Schnitter nach dem Zelt;
0000 Kein Vogel klagt von seinen Libes Seilen.

0000 0000 Itzt herrscht das Licht. Der schwartze Schatten fleucht
0000 0000 In eine Hol / in welche sich verkreucht /
0000 Den Schand und Furcht sich zu verbergen zwinget.

0000 0000 Man kan dem Glantz des Tages ja entgehn!
0000 0000 Doch nicht dem Licht / das / wo wir immer stehn /
0000 Vns siht und richt / und Hell’ und Grufft durchdringet.

Hatte Gryphius seine ersten deutschsprachigen Gedichte, die Lissaer Sonette von 1637, ausschließlich im Versmaß des Alexandriners geschrieben, so bediente er sich in seiner Sonettsmmlung ?Das erste Buch“ von 1643 erstmals des jambischer Funfhebers in der Form des Vers commun :

BIsher hab ich die alte kalte welt /
Bisher hab ich die eitelkeit gelibet. [5]

Vers commun ist auch das Versmaß von ?Mittag“. Das Reimschema lautet ?abba abba“ fur die Quartette und ?ccd eed“ fur die Terzette . Die Verse mit den ?a“- und ?d“-Reimen sind elfsilbig, die Reime weiblich , die Verse mit den ?b“-, ?c“- und ?e“-Reimen sind zehnsilbig, daher hier entsprechend den Ausgaben von Szyrocki und Borgstedt eingeruckt, die Reime mannlich :

◡—◡— ‖ ◡—◡—◡—(◡)

AVff Freunde! last vns zu der Taffel eylen /
In dem die Sonn ins Himmels mittel halt.

Doch wiegt auch im ?Ersten Buch“ und ?Ander Buch“ der Alexandriner weitaus vor.

Wie das ?Morgen-Sonett“ beginnt ?Mittag“ mit einem Naturbild. Im ?Morgen-Sonett“ stimmte die Naturschilderung frisch, hoffnungsvoll, frohlich: [6]

<...> die Morgenrotte lacht
Den grawen Himmel an / der sanffte Wind erwacht /
Vnd reitzt das Federvolck / den newen Tag zu grussen.

Die Natur in ?Mittag“ ist durchaus anders gestimmt. Das Licht, im ?Morgen-Sonett“ freudig begrußt, wird bedrohlich. [7] Unter der Sonne, die in des ?Himmels mittel halt“, im Zenith steht, ist die Welt von Hitze und Arbeit matt. Unter den ?flammen Pfeylen“ welken die Pflanzen. Der ausgedorrte Boden sehnt sich nach Tau. Die Bedrohung zusammenfassend und zugleich weiterfuhrend folgt am Beginn des ersten Terzetts ?wie ein Donnerschlag“ [8] der Satz: ?Das Licht regiert“ (1650) oder ?Itzt herrscht das Licht“ (1663). [9] Seine Herrschaft bedroht nicht nur, wie die Quartette schilderten, durch sengende Hitze, sondern auch, wie das erste Terzett fortfahrt, durch das Sichtbarmachen dessen, was verborgen bleiben mochte oder sollte. Vor Licht verkriecht sich, wen ?Schand vnd furcht sich zu verbergen zwinget“. Damit wird die allegorische Deutung eingeleitet.

Christliche Allegorie

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Ein wichtiger Zugang zu Gryphius’ Gedichten ist ihre allegorische Deutung im Sinne seiner lutherisch -christlichen Glaubigkeit. [10] So auch fur das ?Morgen-Sonett“ und das Sonett ?Mittag“. In den Terzetten des ?Morgen-Sonetts“ fleht das durch die morgendliche Natur gestimmte Ich zu Gott um Erleuchtung durch sein Licht, ein Leben in seinem Dienst und die ewige Seligkeit:

 
Gib / daß ich diesen Tag / in deinem dinst allein
Zubring; vnd wenn mein End’ vnd jener Tag bricht ein
Daß ich dich meine Sonn / mein Licht mog ewig schawen.

Auch in ?Mittag“ ?transmutieren die Terzette die Realien in Transzendenz “. [11] Jedoch ist hier die Auslegung keine Bitte, mit der das Ich auf den Anruf aus der Natur antwortet, sondern eine ?pointierte, sentenzhafte Aussage mahnenden Charakters, ein ungesagtes, Darstellung und Deutung verbindendes ?hoc monet‘“: [12]

 
0000 0000 Man kan dem glantz des tages ja entgehn!
0000 0000 Doch nicht dem licht / daß / wo wir jmmer stehn /
0000 Vns siht vnd richt / vnd hell’ vnd grufft durch dringet.

Der Mensch kann dem Licht des Himmelskorpers Sonne entgehen, nicht aber dem Licht des Gottes, der ?Vns siht vnd richt“, uns als allwissender Gott sieht und als Richter strafen kann.

Die Sinnbilder des brennend-sengenden Lichts fur Gottes Zorn und des durchdringenden Lichts fur seine Allwissenheit reichen ins Alte Testament zuruck und werden in Mittelalter und fruher Neuzeit standig benutzt. Beispiele sind (Bibelzitate aus der Lutherbibel von 1545 gefolgt von der revidierten Fassung von 2017):

  • aus den Psalmen : ?HERR / Wie lange wiltu so gar zurnen? Vnd deinen Eiuer wie fewr brennen lassen?“ 2017 ( Psalm 79,5  LUT ): ?Wie lange, HERR, willst du immerfort zurnen? Wie lange wird dein Eifer brennen wie Feuer?“
Emblem von Francis Quarles
  • aus dem Propheten Jeremia : ?Darumb gieng auch mein zorn vnd grim an / vnd entbrandte vber die stedte Juda / vnd vber die gassen zu Jerusalem / das sie zur wusten vnd ode worden sind / wie es heutes tages stehet.“ 2017 ( Jer 44,6  LUT ): ?Darum ergoss sich auch mein Zorn und Grimm und entbrannte uber die Stadte Judas und die Gassen Jerusalems, dass sie zur Wuste und Ode geworden sind, so wie es heute ist.“
  • aus dem Hebraerbrief : ?Darumb dieweil wir empfahen ein vnbeweglich Reich / haben wir gnade / durch welche wir sollen Gotte dienen / jm zugefallen / mit zucht vnd furcht / Denn vnser Gott ist ein verzerend Fewr.“ 2017 ( Heb 12,28?29  LUT ): ?Darum, weil wir ein Reich empfangen, das nicht erschuttert wird, lasst uns dankbar sein und so Gott dienen mit Scheu und Furcht, wie es ihm gefallt; denn unser Gott ist ein verzehrendes Feuer.“
  • 1570, aus dem ?Wald der Allegorien aus der Heiligen Schrift“ des Benediktiners Hieronymus Lauretus , 1570: ?Deus autem est Sol, cui manifesta sunt crimina“ ? ?Gott ist die Sonne, der die Verbrechen offen sind“.
  • 1610, aus dem zweiten der ? Vier Bucher vom wahren Christentum “ des lutherischen Theologen Johann Arndt : ?Wenn ich im flachen felde gehe am tageslicht, so umgreift mich solches licht ganz; ware es nicht leiblich, sondern geistlich, so durchdrunge es auch meinen geist; also sind alle geschopfe, sichtbare und unsichtbre, vor den augen GOttes; er durchdringet und umgreifet alle dinge, es hindert ihn nichts: Die finsternis mus vor ihm licht seyn, wie der tag.“ [13]
  • aus dem fruhen 17. Jahrhundert ein Emblem von Francis Quarles mit der Unterschrift ?O that thou wouldst hide me in the grave, that thou wouldst keep me in secret until thy wrath be past!“. Die Unterschrift grundet sich auf das Buch Ijob : ?AH / das du mich in der Helle verdecktest / vnd verbergest bis dein zorn sich lege.“ 2017 ( Ijob 14,13  LUT ): ?Ach dass du mich im Totenreich verwahren und verbergen wolltest, bis dein Zorn sich legt.“

Allegorische Deutung sollte nicht zum Selbstzweck werden, andere Bezuge nicht verdecken. Der Mittag, nach antiker Zahlung von der sechsten bis zur neunten Stunde, war die Stunde der Finsternis bei der Kreuzigung Jesu ( Mt 27,45  EU ): ?Von der sechsten bis zur neunten Stunde herrschte eine Finsternis im ganzen Land.“ Fur die Griechen war er die Stunde des in der Stille der sonnendurchgluhten Landschaft schlafenden Pan . ?In dieser oder jener Form zieht sich die Vorstellung vom Mittag als einem intensivierten, uberhistorisch verdichteten Moment <...> durch die Kulturgeschichte, sei es als Phase des krisenhaften Ubergangs, sei es als Augenblick gespannter Ruhe.“ [14] Das Sonett beschreibe diesen Ubergangsmoment, in dem die Sonne ?jhren weg / vnd vnsern Tag zu theilen“ sucht. Der Ubergang erscheine seltsam verdichtet, die Realitat in der flirrenden Stille wie ausgeblendet, die Zeit selbst stillzustehen, indem ?die Sonn ins Himmels mittel halt “. Das Gedicht selbst werde zu einer hoheren Form des Ubergangs, zur Transzendenz, transcendentia schlechthin. Das Gedicht sei ?der ausgezeichnete Ort, an dem das Dasein zu sich selbst“ komme. [15]

  • Thomas Borgstedt (Hrsg.): Andreas Gryphius. Gedichte. Reclam-Verlag , Stuttgart 2012. ISBN 978-3-15-018561-2 .
  • Thomas Borgstedt: Sonette. In: Nicola Kaminski, Robert Schutze (Hrsg.): Gryphius-Handbuch, S. 90?112. Verlag Walter de Gruyter, Berlin 2016, ISBN 978-3-11-022943-1 .
  • Fritz G. Cohen: The ?Tageszeiten“-quartet of Andreas Gryphius: Convergence of Poetry and Meditation . In: Argenis . 2. Jahrgang, Nr.   1?4 , 1978, S.   95?113 .
  • A. G. de Capua: Two Quartets: Sonnet Cycles by Andreas Gryphius . In: Monatshefte fur deutschen Unterricht . 59. Jahrgang, Nr.   4 , 1967, S.   325?328 .
  • Heinz Drugh: Allegorie. In: Nicola Kaminski, Robert Schutze (Hrsg.): Gryphius-Handbuch, S. 604?614. Verlag Walter de Gruyter, Berlin 2016, ISBN 978-3-11-022943-1 .
  • Dietrich Walter Jons: Das ?Sinnen-Bild“. Studien zur allegorischen Bildlichkeit bei Andreas Gryphius. J. B. Metzler’sche Verlagsbuchhandlung , Stuttgart 1966.
  • Nikolaus Lohse: ?Diss Leben kommt mir vor alss eine renne bahn“. Poetologische Anmerkungen zu einem Sonett-Zyklus des Andreas Gryphius . In: Zeitschrift fur deutsche Philologie . 110. Jahrgang, Nr.   2 , 1991, S.   161?180 .
  • Victor Manheimer: Die Lyrik des Andreas Gryphius. Studien und Materialien. Weidman Verlag , Berlin 1904.
  • Marian Szyrocki: Der junge Gryphius. Rutten & Loening , Berlin 1959.
  • Marian Szyrocki (Hrsg.): Andreas Gryphius. Sonette. Max Niemeyer Verlag , Tubingen 1963.

Einzelnachweise und Anmerkungen

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  1. Szyrocki 1963.
  2. Borgstedt 2012.
  3. Szyrocki 1963, S. 65?66.
  4. Borgstedt 2012, S. 38.
  5. ?An Gott den Heiligen Geist“, Sryrocki 1963, S. 29.
  6. Szyrocki 1963, S. 65.
  7. de Capua 1967, S. 326.
  8. Lohse 1991, S. 166.
  9. Gryphius konnte den Satz revidiert haben, um gemaß barocken Poesieregeln das Fremdwort ?regiert“ zu vermeiden ? Manheimer 1904, S. 68 ? und um ?Licht“ in die Position maximaler Betonung zu verschieben ? Cohen 1978, S. 106.
  10. Drugh 2016.
  11. De Capua 1967, S. 326.
  12. Jons 1966, S. 168.
  13. Jons 1966, S. 170.
  14. Lohse 1991, S. 167.
  15. Lohse 1991, S. 169.