Unter dem Begriff
Ministerverantwortlichkeit
(auch: ministerliche oder ministerielle Verantwortlichkeit) wird diskutiert und geregelt, in welcher Beziehung ein Minister zum
Monarchen
, zum
Gesetz
bzw. zur
Volksvertretung
steht. Der Begriff gehort in die Zeit des
Konstitutionalismus
vor allem im
19. Jahrhundert
; es wurde versucht, das
monarchische Prinzip
mit der modernen
Reprasentativverfassung
zu versohnen. Einerseits galt der Monarch als unverletzlich und konnte fur seine Handlungen nicht belangt werden, andererseits sollte die Macht seiner Regierung unter Aufsicht der Volksvertretung beschrankt werden.
Das (historische) Staatsrecht unterscheidet verschiedene Formen der Ministerverantwortung, vor allem die juristische (strafrechtliche) von der parlamentarischen (politischen). Bei der ersten geht es in erster Linie darum, ob ein Minister wegen
Gesetzesbruchen
von einem Gericht verurteilt werden kann, und bei der zweiten darum, ob die Volksvertretung Einfluss auf die Tatigkeit des Ministers nehmen konnte.
Je nach Land und Epoche gibt es wiederum große Unterschiede, was mit der Ministerverantwortlichkeit genau gemeint ist und wie sie in der Realitat umgesetzt wird. Die Frage der ministerlichen Verantwortlichkeit stellt sich auch in parlamentarischen Demokratien; dort kann die Volksvertretung dafur sorgen, dass ein Minister ausgewechselt wird, sowohl bei juristischen Fehltritten, bei personlichem Fehlverhalten als auch wegen unterschiedlicher politischen Auffassungen. Das gesamte Regierungshandeln untersteht der
parlamentarischen Kontrolle
, dieser modernere Begriff ist also umfassender als die traditionelle Ministerverantwortlichkeit.
In den europaischen Monarchien vor etwa 1800 wurde die
Exekutive
ausschließlich durch den Monarchen bestimmt. Der Monarch entschied, wen er in die Regierung berief und was die Regierungsmitglieder tun durften. Diese Regierungsmitglieder waren die
Minister
, was ursprunglich ?Diener“ bedeutete. Spater wurde deren Zusammenarbeit als Kabinett formeller geregelt, man sprach auch vom ?Ministerium“ oder ?Ministerrat“ und meinte damit alle Minister. Neben ihnen gehorte der Monarch ebenfalls zur Regierung.
In vormoderner Zeit hatten Minister mehr Handlungsfreiheit, doch in kritischen Situationen schwebten sie in Gefahr, dass der Monarch sie hinrichtete oder auch Vermogen und Leben der gesamten Familie nahm. Es wurde kein Unterschied gemacht zwischen politischen Fehlern, Vergehen gegen die Verfassung und Vergehen als Privatperson.
[1]
In den Jahren um 1800, also vor, wahrend und nach der
Franzosischen Revolution
, stritt man uber die Rolle des Volkes im Staat. Auch wenn man noch nicht von der
Volkssouveranitat
ausging, so sollte doch nach Meinung der Liberalen und auch gemaßigter Konservativer eine
Verfassung
(Konstitution) existieren. Das Volk, genauer gesagt die Reichen bzw. Gebildeten, sollte laut einer Reprasentativverfassung eine Volksvertretung wahlen durfen, also ein
Parlament
. Je nach Land hatte die Volksvertretung mehr oder weniger Einfluss auf die Gesetzgebung und den Staatshaushalt.
Hieraus ergab sich ein Problem: Der Monarch war seit dem
Absolutismus
?unverletzlich“ oder unverantwortlich, er konnte kein Unrecht begehen.
[2]
Man konnte ihn also nicht vor Gericht fur seine Handlungen zur Verantwortung ziehen. Daher hatte die monarchische Regierung noch große Macht, selbst wenn es bereits eine Verfassung gab.
Die Ministerverantwortlichkeit war ein Mittel, um das Prinzip des unverletzlichen Monarchen mit dem Prinzip des Konstitutionalismus zu versohnen.
[3]
Demnach wurden die Handlungen des Monarchen durch den zustandigen Minister gegengezeichnet. Durch dieses ?
Contraseign
“ ubernahm der Minister die Verantwortung fur die Handlung. Verstieß der Minister gegen geltendes Recht, konnte er dafur belangt werden, wahrend der Monarch unverletzlich blieb.
Als strafrechtliche oder juristische Ministerverantwortlichkeit bezeichnete man es, dass ein Amtstrager nach Strafrecht oder burgerlichem Recht die Verantwortung dafur trug, wenn er sein Amt in einem konkreten Fall fehlerhaft, vielleicht sogar schuldhaft ausubte. Dabei blieben politische oder moralische Uberlegungen noch unberucksichtigt.
[4]
Ihren eigentlichen Sinn hatte diese juristische Ministerverantwortlichkeit erst, wenn der Minister tatsachlich eine Ministeranklage und deren Folgen furchten musste. Die genauen Regeln dazu hingen vom jeweiligen Land ab; manche Verfassungen sahen die Ministeranklage nur fur Verfassungsbruche oder bestimmte Verfassungsbruche vor, andere auch fur sonstige Gesetzesbruche, andere wiederum fur Bestechlichkeit oder Verrat.
Die juristische Ministerverantwortlichkeit starkte indirekt die Stellung der Minister. Der Monarch durfte sie zwar immer noch entlassen, sie konnten sich aber ihm gegenuber auf ihre Verantwortung berufen; sie waren keine rein ausfuhrenden Diener mehr. Adolf Samuely druckte diesen Gedanken 1869 so aus:
- ?Auf der anderen Seite sei es ebenso naturlich, den verantwortlichen Ministern die selbststandige und unabhangige Ausubung der Exekutive zu ubertragen, weil es allen Principien der Gerechtigkeit und Billigkeit widerstreiten wurde, ein passives Werkzeug verantwortlich zu machen, wahrend man das eigentlich active Organ, den befehlenden Souveran, fur irresponsabel erklaren mußte. Die Minister erscheinen nach dieser Theorie als die selbstandigen Trager der Executive, als die in ihrer Sphare unabhangigen Reprasentanten des Konigs, welchem nur, entsprechend seinem Rechte zur Auflosung der Volksvertretung, das Recht zusteht, die Organe der Executive nach Belieben zu entlassen.“
[5]
Die neue Bedeutung der Minister ruhrte auch daher, dass die Verwaltungen ausgebaut wurden. Nach diesen Teilmodernisierungen gab es einen erhohten Bedarf an Koordination der Hierarchie-Ebenen, die Kommunikationsmoglichkeiten der alten Kollegien fehlten. Zentrale Macht erhielten Fachminister, die unter einem Ministerprasidenten einem Ministerrat angehorten. Nicht mehr die personliche Nahe zum Monarchen, anders als im Gunstlingssystem, war ausschlaggebend, sondern das Recht anwesend zu sein, wenn die Fachminister dem Monarchen vortrugen.
[6]
Wesentlich komplizierter und weniger klar geregelt ist die politische Verantwortung der Minister. Gemeint ist damit diejenige, die von der Volksvertretung kontrolliert wird, daher spricht man auch von der parlamentarischen Ministerverantwortlichkeit. Es geht darum, welche Mittel die Verfassung oder die Praxis dem Parlament an die Hand gibt, um Kontrolle auszuuben, Auskunfte zu erhalten oder gar Einfluss auf die Entlassung eines Ministers zu nehmen.
Gangige Kontrollmittel in der Geschichte des Konstitutionalismus waren:
- Ein Zitierrecht, mit dem die Volksvertretung einen Minister verpflichten konnte, im Parlament aufzutreten.
- Mitgemeint ist dabei die Pflicht des Ministers, erwunschte Auskunfte zu erteilen.
- Das Recht der Volksvertretung, einen Untersuchungsausschuss einzurichten.
- Ein regelrechtes Misstrauensvotum, in dem das Parlament den Rucktritt eines Ministers verlangte, war noch eher unublich. In der Regel handelte es sich hochstens um eine Meinungsaußerung des Parlamentes, nicht um einen Staatsakt, der direkt den Rucktritt eines Ministers erzwungen hatte.
Bereits in der
belgischen Verfassung
von 1831 findet sich die Feststellung, dass die Person des
Konigs
unverletzlich ist und seine Minister verantwortlich sind (Art. 63, heute 88). Der Konig kann niemals fur ein Vergehen verfolgt oder verurteilt werden, weder strafrechtlich, zivilrechtlich noch politisch. Minister oder Abgeordnete durfen das politische Auftreten und das Handeln des Konigs als Oberhaupt der Exekutive nicht in der Offentlichkeit besprechen, kritisieren oder beurteilen.
[7]
Anderen Artikeln der Verfassung zufolge (die teilweise wesentlich junger sind) kann der Konig wegen der Unverletzlichkeit nicht allein handeln; die Minister sind gegenuber der Kammer verantwortlich und konnen angezeigt werden. Sie konnen nicht ihrer Verantwortung entgehen, indem sie sich etwa auf den Konig berufen.
[8]
Der Konig ernennt die Minister durch konigliche Verordnung, wobei die Ernennung eines einzelnen Ministers vom
Premier
mitunterzeichnet wird. Minister werden auf eigenen Wunsch oder auf Wunsch des Premiers entlassen. Seit 1993 schreibt die Verfassung (Art. 96) fest, dass der Konig die Regierung entlassen muss, wenn eine absolute Mehrheit in der Kammer dies durch ein Misstrauensvotum fordert. Gleichzeitig tragt ein solches Misstrauensvotum dem Konig einen neuen Premier vor.
[9]
Eine Ministerverantwortlichkeit findet sich bereits in den fruhen Verfassungen Suddeutschlands (ab 1808). Allerdings blieb auch dort wenig geregelt, wie sie konkret wirksam werden sollte. Eine eigentliche, namlich politisch-parlamentarische Ministerverantwortlichkeit sahen erst die Verfassungsordnungen der
Frankfurter Nationalversammlung
1848/1849 vor, indem das Parlament einen Minister anklagen konnte, auch aus politischen Grunden.
Im
Norddeutschen Bund
und im
Deutschen Kaiserreich
(1867?1918) besagte die Verfassung nur, dass der Bundeskanzler bzw. Reichskanzler ?verantwortlich“ sei. Es fehlte eine Bestimmung, wem gegenuber, und wie ein Regierungsmitglied zur Verantwortung gezogen werden konnte. Allerdings fehlten solche Bestimmungen auch in anderen Verfassungen von
konstitutionellen Monarchien
der damaligen Zeit. Die Durchsetzung der parlamentarischen Regierungsweise, bei der das Parlament letztlich uber die Zusammensetzung der Regierung entscheidet, hing nicht so sehr vom Verfassungstext als von der Verfassungswirklichkeit ab.
Erst 1917 setzte sich die parlamentarische Ministerverantwortlichkeit in Deutschland durch, und im Oktober 1918 wurde sie auch durch die
Oktoberreformen
formell in der Verfassung festgeschrieben. Ahnlich war das System in der
Weimarer Republik
(1919?1933): Das Staatsoberhaupt setzte die Regierung ein, aber bei fehlendem Vertrauen im Reichstag mussten die Minister zurucktreten. In der Bundesrepublik Deutschland (ab 1949) wird der Regierungschef (und damit die Minister) vom Parlament gewahlt und durch einen Nachfolger ersetzt.
Beim Wechsel von
Jakob II.
zu
Wilhelm III.
(1689) setzte das Parlament in London die
Bill of Rights
durch. Anders als in der amerikanischen Verfassungsgeschichte ist damit nicht eine Liste der Rechte von Burgern gemeint, sondern des Parlamentes gegenuber der koniglichen Regierung. Sie machte das Regierungshandeln vor allem in finanziellen Fragen abhangig vom Parlament.
[10]
Der Konig verdankte seinen Titel dem Parlament, die Monarchie wurde parlamentarisch und konstitutionell. Der Souveran wurde zum Souveran-im-Parlament.
[11]
Allerdings gehorte zu den noch immer umfangreichen Vorrechten des Konigs die Ernennung und Entlassung von Ministern. Um die konigliche Politik auszufuhren, mussten die Minister aber politisches Einfluss-Management betreiben, da es einen Rahmen von konstitutionellen Regeln einzuhalten galt. Im Laufe des 18. Jahrhunderts, zur Zeit des
Hauses Hannover
, verwandelte sich die einstige konigliche Macht in bloßen Einfluss. Wer Minister werden wollte, konnte von der Unterstutzung des Konigs profitieren, diese war aber weder ausreichend noch notwendig. Wichtig war die Unterstutzung des Unterhauses.
[12]
Trotzdem galten Minister bis zum Ende des 18. Jahrhunderts nur als Berater. Hatte der Konig einen Entschluss gefasst, musste ein Minister diesem folgen. Nachdem
Georg III.
den jungeren
Pitt
zum Premier ernennen musste, unterlag der Konig im darauffolgenden Machtkampf: Nach einer Parlamentsauflosung errang Pitt einen Wahlerfolg, der als Absage der Wahler gegen den Kurs des Konigs verstanden werden konnte. Georg III. behielt Pitt im Amt, da es sonst wohl zu einem Premier gekommen ware, den er noch mehr furchtete. Das Regierungssystem in dieser Zeit ist weniger in Begriffen einer modernen Kabinettsregierung, sondern als eine Partnerschaft zwischen dem Konig und dem von ihm berufenen Premier zu sehen. Im weitesten Sinne waren sie dem Parlament und der Wahlerschaft gegenuber verantwortlich, die allerdings beide auch unter dem Einfluss des Konigs standen (unter anderem durch Wahlerbestechung).
[13]
Seit 1717 nahm der Konig immer seltener an Kabinettssitzungen teil, seit 1837 gar nicht mehr. Sein Platz wurde von einem Minister eingenommen, der spater als Premierminister galt. Dieser, und weniger der Konig, begann die Grundlinien der Politik zu bestimmen. Folglich sollte nicht mehr der Konig fur die Politik verantwortlich gemacht werden.
[14]
Palmerston druckte es 1859 so aus:
[15]
?Es ist der Grundsatz der Britischen Verfassung, dass der Souveran nichts Falsches tun kann, aber das heißt nicht, dass die konigliche Autoritat nichts Falsches tun konne; es bedeutet, dass wenn etwas Falsches getan wurde, der Staatsdiener fur die falsche Handlung zur Verantwortung gezogen werden muss, der den Rat zu der Handlung gegeben hat.“
Haufig wird angenommen, dass England bereits seit dem 18. Jahrhundert eine parlamentarische Regierung gehabt habe. Doch die Behauptung des Journalisten
Walter Bagehot
, dass der Konig keine Macht mehr habe und nur der Regierung Ratschlage mitgeben konne, war Mitte des 19. Jahrhunderts noch ein politisch-philosophisches Idealbild. Von einer parlamentarischen Mehrheit abhangig wurden die Kabinette erst zwischen dem
ersten
und dem
zweiten
Reform Act
(1832?1867), und erst im 20. Jahrhundert uberließ der Konig in der Praxis alle Regierungshandlungen den Ministern. Die Entwicklung der Ministerverantwortlichkeit war also eine sehr allmahliche.
[16]
In der
Franzosischen Revolution
ab 1789 bestimmte bereits die
Erklarung der Menschen- und Burgerrechte
, dass die Gesellschaft von offentlichen Beamten Rechenschaft uber ihre Amtsausubung verlangen konnte (Art. 15). Die verfassungsgebende Versammlung folgte allerdings der Auffassung von Montesquieu, dass im Sinne der Gewaltenteilung die Ministerverantwortlichkeit nur ein Ausgleich fur die fehlende Verantwortlichkeit des Konigs sei. Daher sah die
Verfassung von 1791
nur eine strafrechtliche, keine politische (parlamentarische) Verantwortlichkeit vor. Das Parlament hatte keine Befugnisse gegenuber und durfte lediglich beschließen, ob ein Minister vor dem Staatsgerichtshof anzuklagen sei. Grunde konnten Rechtsverletzungen und die Verschwendung von Geldern sein. Die (nicht in Kraft getretene)
Verfassung von 1793
kannte ein Zitierrecht.
[17]
In der Praxis blieben auch in nachfolgenden Verfassungen die Minister nur dem Konig oder spater Napoleon gegenuber verantwortlich. Im erneuerten Konigreich ab 1814 bemuhte das Parlament sich, beispielsweise uber das Budgetrecht Rechenschaftsberichte der Regierung zu verlangen und so Kontrolle auszuuben. Es kam zu Untersuchungsausschussen, und seit 1831 gestand man der Nationalversammlung ein Interpellationsrecht zu. Die Regierung verweigerte aber oft Antworten unter Bezugnahme auf Interessen der Geheimhaltung. Es blieb die Ausnahme, dass Minister wegen einer Initiative des Parlaments zurucktragen.
[18]
Napoleons
Verfassung vom Januar 1852 schnitt das Regierungssystem ganz auf den Staatschef zu. Verantwortlich waren die Minister nur ihm gegenuber, einen gesonderten Regierungschef gab es nicht, das Parlament konnte den Ministern keine Fragen stellen und diese nicht kontrollieren.
[19]
Erst nach dem Sturz Napoleons 1870 sah die
Loi Rivet
von 1871 eine Verantwortlichkeit der Minister vor dem Parlament vor. Trotzdem fehlten immer noch genaue Regeln, wie die Verantwortlichkeit in der Praxis erzwungen werden konnte. Die Verfassung von 1875 war dann die erste, die die parlamentarische Verantwortlichkeit ausdrucklich festschrieb. Der Umfang der Verantwortlichkeit wuchs, das Parlament machte die Minister auch fur Handlungen von Untergebenen und Akte des Prasidenten, die sie gegenzeichnet hatten, verantwortlich. Es kam vor allem nach 1879 zu mehr parlamentarischen Interventionen. Als weniger wirkungsvoll erwies sich das seit 1869 bestehende Interpellationsrecht, das vor allem fur lokale und individuelle Probleme angewandt wurde. Parlamentarische Untersuchungsausschusse waren ein haufig verwendetes Kontrollmittel.
[20]
Der autoritare Staat unter Marschall
Petain
, das
Vichy-Regime
, machte die Minister wieder nur dem Staatschef gegenuber verantwortlich. Paradoxerweise, so Wuttke, wurde gerade jetzt das Misstrauensvotum des Parlaments offiziell eingefuhrt. Allerdings durfte der Staatschef nach einem erfolgreichen Misstrauensvotum das Parlament auflosen, und im autoritaren Staat waren die Regelungen sowieso eher etwas fur die Theorie. Die
Verfassung von 1946
fuhrte die parlamentarische Ministerverantwortlichkeit wieder ein und behielt das Misstrauensvotum bei.
[21]
Nach der napoleonischen Zeit wurde das
Konigreich der Niederlande
gegrundet. Konig
Wilhelm I.
regierte von Gottes Gnaden, nach Art eines aufgeklarten Despoten, wozu die damalige
Verfassung
ihm die Gelegenheit gab. Er war dennoch kein absoluter Monarch, denn die Verfassung, auf die er einen Eid schwor, band ihn an das Recht.
[22]
Fur einige Staatstatigkeiten musste es ein formelles Gesetz geben, und ein Gesetz bedurfte der Zustimmung des Konigs sowie beider Kammern des Parlaments. Vor allem ging es um Steuern, den auf zehn Jahre bewilligten allgemeinen Haushalt und Bestimmungen in Straf- und Zivilrecht. Ansonsten regierte Wilhelm aufgrund von koniglichen Verordnungen; uberhaupt waren Außen- und Verteidigungspolitik das Terrain des Konigs allein.
[23]
Der Konig konnte die Minister nach eigenem Ermessen ernennen und entlassen, die nur ihm verantwortlich waren; die Kammern durften den Konig nicht fur seine Politik zur Verantwortung rufen. Das Prinzip, dass der Konig unverletzlich sei, war fur so selbstverstandlich gehalten worden, dass man es nicht einmal in die Verfassung aufgenommen hatte.
[24]
Fur eine Ministerverantwortlichkeit setzten sich vor allem Abgeordnete aus dem spateren
Belgien
ein, die von franzosischen Autoren beeinflusst worden waren. Da sie sich als Sudniederlander schlechter behandelt fuhlten als die Nordniederlander, wollten sie durch die Ministerverantwortlichkeit die Regierung kontrollieren. 1829 setzten sie ihre Forderung sogar auf die Tagesordnung der Kammer, aber der Konig weigerte sich ? sogar noch nach dem
Aufstand 1830
, der zur Abspaltung Belgiens fuhren sollte. Erst nach Anerkennung der Abspaltung konnten Abgeordnete, Minister und Großen der Finanzwelt den Konig zum Umsteuern zwingen.
[25]
Im Jahre 1840 wurden zwei bedeutende Verfassungsanderungen durchgesetzt, die Wilhelm zum Anlass fur seine Abdankung nahm. Die eingefuhrte strafrechtliche Ministerverantwortlichkeit (Art. 75) besagte, dass Minister strafrechtlich verantwortlich waren fur Verfassungs- oder Gesetzesbruche. Betroffen waren die eigenen Handlungen der Minister sowie ihr Mitwirken an der Ausfuhrung einer koniglichen Verordnung. Art. 76 (heutiger Art. 47) besagte, dass eine konigliche Verordnung (
besluit
) von einem Minister mitunterzeichnet werden musste (
contraseign
). Daraus war die Mitwirkung ersichtlich.
[26]
Bei der großen Verfassungsrevision 1983 wurde Art. 75 mit der strafrechtlichen Verantwortlichkeit abgeschafft. An seiner Stelle kam in Art. 119 nur eine Regelung zum Amtsmissbrauch (unter anderem von Ministern). Um Amtsmissbrauch ging es aber bei der strafrechtlichen Verantwortlichkeit 1840 nicht, da dieser sowieso zu ahnden war, sondern um Regierungshandeln, das Verfassung oder Gesetze verletzt.
[27]
In den uber hundert Jahren der Existenz dieses Artikels gab es nie eine entsprechende Ministeranklage. Eine Erklarung dafur ist die Konsenshaltung in den Niederlanden, die einen angreifbaren Minister noch bis zur nachsten Wahl toleriert habe,
[28]
eine andere der Charakter der Ministerverantwortlichkeit, die auch in anderen Landern mehr eine politische sei.
[29]
Im europaischen Revolutionsjahr 1848 akzeptierte
Wilhelm II.
dann Verfassungsanderungen, die noch viel weiter gingen. In Bezug auf den Konig nannte nun Art. 53 (jetzt Art. 42 Abschnitt 2) den Konig ?unverletzlich“ und die Minister ?verantwortlich“. Das Parlament erhielt (Art. 89, jetzt Art. 68) ein Recht auf Auskunfte. Starker wurde das Parlament auch dadurch, dass der Konig nicht mehr die Mitglieder der Ersten Kammer ernannte.
[30]
In den folgenden Jahrzehnten setzte es sich durch, dass das Parlament
de facto
uber die Regierungsmitglieder entscheidet, auch wenn die Verfassung
de iure
noch den Monarchen die Minister ernennen und entlassen ließ.
[31]
Die Ministerverantwortlichkeit gilt im niederlandischen Staatsrecht immer noch als Kern des demokratischen Rechtsstaates. Man kann vier Arten der Verantwortlichkeit unterscheiden:
- Die Verantwortlichkeit nach burgerlichem Recht ist weiter nicht geregelt, es gelten die allgemeinen Bestimmungen. Der Staat ist eine juristische Person und damit verantwortlich fur das, was seine Organe (wie die Minister) tun. Ein Minister kann auch als Person haftbar sein.
- Eine finanzielle Verantwortlichkeit fragt nach der Haftung fur finanzielle Handlungen, wenn sie nicht durch den Haushalt gedeckt sind. Auch dies ist nicht sonderlich geregelt und von geringem Interesse in der Literatur.
- Die strafrechtliche Ministerverantwortlichkeit ist eher historisch von Bedeutung, als Schritt zur politischen.
- Politisch ist der Minister verantwortlich gegenuber dem Parlament. Verantwortlich ist der Minister fur das eigene Handeln und das seiner Untergebenen, aber auch fur das des Ministerrats (der Regierung, den Monarchen ausgenommen).
[32]
[33]
Unter dem Begriff der Ministerverantwortlichkeit wird nicht zuletzt diskutiert, in welchem Rahmen die Regierung (oder der Ministerprasident) verantwortlich ist fur die Handlungen des Monarchen. So ist es schwierig, in der Realitat zwischen dem Konig als Privatperson und dem Konig als Amtstrager zu unterscheiden. Wenn der Konig etwas privat sagt, kann es offentlich werden und damit als Handlung in seiner offentlichen Rolle interpretiert werden. Es liege am Ministerprasidenten, so ein Kommentator, dem Konig zu verdeutlichen, inwieweit das private Auftreten des Konigs das Staatsinteresse beruhrt.
[34]
Der unverletzliche Konig und die verantwortlichen Minister bilden eine Zweiheit. Der Unverletzlichkeit wegen muss geheim bleiben, was Konig und Minister miteinander besprechen; man spricht vom
geheim van Noordeinde
(Geheimnis von
Noordeinde
, dem koniglichen Palast in Den Haag). Geschutzt ist diese Geheimhaltungspflicht auch vor der Pflicht eines Ministers, dem Parlament Auskunft zu erteilen. Daruber hinaus gilt fur Kammermitglieder, Journalisten und alle anderen Burger der Brauch, den Konig zumindest nicht wortlich zu zitieren.
[35]
- Herbert Schambeck:
Die Ministerverantwortlichkeit
. C.F. Muller, Karlsruhe 1971.
- ↑
Wolfgang Reinhard:
Geschichte der Staatsgewalt. Eine vergleichende Verfassungsgeschichte Europas von den Anfangen bis zur Gegenwart.
3. Auflage, C. H. Beck, Munchen 2002 (1999), S. 179?181.
- ↑
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Die Verantwortlichkeit von Regierungsmitgliedern in Deutschland und Frankreich
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Volkerrecht ? Europarecht ? Staatsrecht
35), S. 8.
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Adolf Samuely:
Das Prinzip der Ministerverantwortlichkeit in der constitutionellen Monarchie. Eine staatsrechtliche Abhandlung
, Verlag von Julius Springer, Berlin 1869, S. 1.
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Julia Wuttke:
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Adolf Samuely:
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Karel Rimanque:
De grondwet toegelicht, gewikt en gewogen
. Intersentia, Antwerpen / Groningen 1999, S. 184.
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Karel Rimanque:
De grondwet toegelicht, gewikt en gewogen
. Intersentia, Antwerpen / Groningen 1999, S. 184.
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Karel Rimanque:
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The Monarchy and the Constitution
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?The maxim of the British Constitution is that the Sovereign can do no wrong, but that does not mean that no wrong can be done by Royal authority; it means that if wrong be done, the public servant who advised the act, and not the Sovereign must be held answerable for the wrongdoing.“ Zitiert nach: Vernon Bogdanor:
The Monarchy and the Constitution
. Clarendon, Oxford 1995, S. 14.
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Diederick Slijkerman:
Het geheim van de ministeriele verantwoordelijkheid. De verhouding tussen koning, kabinet, Kamer en kiezer, 1848-1905.
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Franzosische Verfassungsgeschichte der Neuzeit: 1450-1980. Ein Uberblick
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. Ars Aequi Libri, Nijmegen 2005, S. 66/67.
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