Mary Rudge
(*
6. Februar
1842
[1]
in
Leominster
; †
22. November
1919
in
London
) war im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts die fuhrende
Schachspielerin
Englands. Nach ihrem uberlegenen Sieg beim ersten internationalen Schachturnier fur Damen im Jahre 1897 in London zahlte man sie zu den starksten Spielerinnen weltweit. Das
British Chess Magazine
betitelte sie nach diesem Erfolg ? 30 Jahre vor dem ersten offiziellen Wettbewerb um die Schachkrone der Frauen ? als erste
Schachweltmeisterin
.
[2]
Mary Rudge wurde am 6. Februar 1842 als jungstes von sieben Kindern des Arztes Henry und dessen Frau Eliza Rudge in Leominster geboren, einer Kleinstadt im Sudwesten Englands, in der sie aufwuchs und 32 Jahre lang lebte. Nach dem Tod ihres Vaters im Jahr 1874 verließ Mary ihre Geburtsstadt und zog zusammen mit ihrer alteren Schwester Caroline ? beide waren unverheiratet ? weiter in den Sudwesten nach
Bristol
. Dort wohnten sie mit ihrem Bruder Henry, einem Junggesellen, der seit 1870 in der Hafenstadt als Hilfspfarrer arbeitete.
Das Schachspiel erlernte Mary Rudge von ihren beiden Schwestern Emily († 1873) und Caroline († 1900), die es wiederum vom Vater Henry beigebracht bekamen. Im Jahr 1864 nahm sie zusammen mit ihrer Schwester Emily an einem
Fernschach
-Turnier der Zeitschrift
Cassell's Illustrated Family Newspaper
teil, wobei sie die
Pseudonyme
Snowdon
und
Vesuvius
benutzten.
[3]
Aus dem Jahr 1872, als sie an einem Fernschach-Turnier der Zeitschrift
Gentleman’s Journal
teilnahm, stammen ihre ersten uberlieferten Partien. Rudges Umzug nach Bristol war forderlich fur ihre schachliche Entwicklung, da sie in Leominster vermutlich keine ernst zu nehmende Moglichkeit besaß, sich im Nahschach zu messen. Mary Rudge kam im
Bristol Chess Club
unter, dem altesten, außerhalb Londons gegrundeten Schachklub (1829 oder 1830), der just im Jahr 1872 beschlossen hatte, auch Frauen aufzunehmen.
[4]
In Bristol trat Rudge erstmals 1875 namentlich in Erscheinung, als sie gegen den englischen Meister
Joseph Henry Blackburne
spielte, der im Februar den
Bristol Chess Club
fur drei Tage besuchte und eine
Blindsimultan-Veranstaltung
an zehn Brettern gab. Mary Rudge verlor die Partie nach 27 Zugen.
[5]
Im Oktober des folgenden Jahres weilte auf Einladung des Klubs der Pole
Johannes Hermann Zukertort
in Bristol, um sich ebenfalls im Blindspiel gegen mehrere Gegner gleichzeitig zu messen, diesmal an zwolf Brettern. Der Verlauf und das Ergebnis seiner Partie gegen Mary Rudge sind nicht bekannt, insgesamt gewann Zukertort funf Partien,
remisierte
drei und verlor eine Begegnung; die ubrigen drei wurden nicht beendet.
[6]
In den 1870er Jahren spielte Rudge einige Wettkampfe gegen den starken Amateur Edmund Thorold (1833?1899), bei denen sie
Vorgaben
erhielt.
[3]
In den kommenden Jahren gab Henry Rudge seine Anstellung als Hilfspfarrer an der St. Thomas-Kirche auf und ubernahm bis 1885 die Leitung der
Luccombe House Preparatory School
in Bristol, wobei angenommen wird, dass seine beiden Schwestern in der Schule als Lehrerinnen tatig waren.
[4]
Als Henry 1885 die Schulleitung aufgab und wegzog, um eine neue Stelle als Pfarrer in
Southport
an der mittleren Westkuste Englands anzutreten, blieb Mary Rudge in Bristol. Im Alter von mittlerweile 45 Jahren verbesserte Rudge unter dem Einfluss des Schachklubs ihr Schachspiel und wurde in der Mannschaft des
Bristol and Clifton Chess Clubs
gegen auswartige Vereine eingesetzt. In den Jahren 1887 und 1888 sind zwei Begegnungen verzeichnet, bei denen Mary am sechsten Brett gegen mannliche Gegnerschaft einmal gewann und einmal Remis spielte. 1888 trat sie in einer weiteren Simultanpartie gegen Blackburne an und kam diesmal zu einem Unentschieden, im Jahr darauf gewann sie den
Challenge Cup
des
Bristol and Clifton Chess Club
.
Nach dem Weggang ihres Bruders aus Bristol ? Henry verstarb schließlich im Jahr 1891 ? kam Mary Rudge, die kein eigenes, festes Auskommen hatte, in finanzielle Schwierigkeiten. So wurde im
British Chess Magazine
1889 gar ein Aufruf veroffentlicht, in dem um Unterstutzung fur Rudge gebeten wurde.
[7]
Um diese Zeit herum nahm sich die irische Journalistin Frideswide Rowland ihrer an; Rowland organisierte, zusammen mit ihrem Mann Thomas B. Rowland, Schachveranstaltungen, veroffentlichte eigene
Schachkompositionen
und hatte zu dieser Zeit maßgeblichen Einfluss auf das Schach in Irland. Mary Rudge konnte bei Rowland als Gesellschaftsdame arbeiten und pendelte in den folgenden Jahren zwischen England und Irland. Bis zum Jahr 1896 spielte Mary Rudge weiter in Mannschaften (fur Bristol und die Grafschaft
Gloucestershire
) und gab im irischen Clontarf (bei
Dublin
) ? moglicherweise als erste Frau uberhaupt ? eine
Simultanvorstellung
an sechs Brettern, bei der sie alle Partien gewinnen konnte.
[8]
Außerdem spielte sie in Irland fur den
Clontarf Chess Club
: In der Saison 1889/1890 blieb Rudge in elf Partien am zweiten Brett ungeschlagen bei acht Siegen und drei Remisen.
[9]
In den 1890er Jahren gewann sie zwei kleinere Turniere: Im Jahr 1890 den
Ladies’ Challenge Cup
in Cambridge, sechs Jahre spater das ?B-Turnier“ des
Southern Counties Tournaments
in Bristol, als einzige Frau unter den zehn Teilnehmern.
[9]
Das Damenschach erfuhr im Jahr 1895 in Großbritannien einen nicht unbedeutenden Aufschwung, als beim internationalen Meisterturnier von
Hastings
im Nebenprogramm ein Turnier fur Frauen ausgetragen wurde und dadurch in der medialen Offentlichkeit gesteigerte Aufmerksamkeit erfuhr. Im selben Jahr wurde außerdem unter der Initiative von Mrs. Rhoda Bowles der
London Ladies Chess Club
gegrundet. Mrs. Bowles war es auch, die zwei Jahre spater in London das erste Schachturnier fur Frauen organisierte, das mit internationaler Beteiligung ausgetragen wurde. Dieses Turnier, das Mary Rudge als uberlegene Siegerin abschließen konnte, sollte ? im Alter von 55 Jahren ? ihr großter Erfolg werden.
Das internationale Damenturnier wurde fur den Juni 1897 annonciert, genau zu der Zeit als das 60-jahrige Thronjubilaum von
Queen Victoria
in London gefeiert wurde. Die Schirmherrschaft des Turniers ubernahm ?
Prinzessin Maud von Wales
“, eine Enkelin Konigin Victorias.
[10]
Das Turnier wurde ab Marz in diversen Publikationen angekundigt, so in der Londoner
The Field
, die
Times
ubernahm die regelmaßige Berichterstattung, und auch in der
Deutschen Schachzeitung
findet sich in der Marz-Ausgabe ein erster Hinweis; von insgesamt 32 Anmeldungen wurden seitens der Veranstalter schließlich 20 akzeptiert. Die
Deutsche Schachzeitung
schrieb nach dem Turnier, dass ?sich Vertreterinnen fast aller Lander, in denen das Schachspiel heimisch ist“,
[11]
beteiligt hatten und nur Spielerinnen aus Osterreich und Russland fehlten. Die Teilnehmerinnen kamen aus England (elf Spielerinnen), Irland (zwei), Schottland, Frankreich, USA, Kanada, Belgien und Italien (je eine Spielerin); die einzige fur Deutschland startende Dame war ?Fraulein Anna Hertzsch aus Halle a. S.“,
[12]
?Miss Muller-Hartung“, eine weitere Deutsche, spielte fur die USA.
Die Partien wurden ab dem 23. Juni in der ersten Turnierwoche im
Hotel Cecil
ausgetragen, in der zweiten Woche musste man wegen der Feierlichkeiten des Thronjubilaums in das Klublokal des
Ladies Chess Club
umziehen, das Turnier endete am 3. Juli. Die Teilnehmerinnen hatten an einem Tag zwei Partien zu bestreiten, die Runden wurden jeweils auf 13 und 19 Uhr angesetzt. Als
Bedenkzeit
standen jeder Spielerin eine Stunde fur zwanzig Zuge zur Verfugung, nach vier Stunden Spielzeit wurden die Partien abgebrochen und die
Hangepartie
am nachsten Morgen weitergespielt. Zu den Favoriten gehorten ? neben Mary Rudge ? die Gewinnerin des Damenturniers von Hastings, Lady Edith Margaret Thomas, sowie die Zweitplatzierte, ?Miss Fox“ (ihr Rufname ist nicht bekannt). Außerdem Louisa Matilda Fagan (Italien) sowie Harriet Jona Worrall, die Gattin des US-amerikanischen Schachspielers Thomas Herbert Worrall.
Mary Rudge startete mit 13 Siegen aus 13 Partien und gab den einzigen halben Punkt in der vierzehnten Runde gegen die spatere Funftplatzierte Marie Bonnefin aus Belgien ab. Eine fur den Turnierverlauf wichtige Partie stand in der Runde zuvor an, als Rudge gegen die bis dato Zweitplatzierte Louisa Matilda Fagan antreten musste. Die Italienerin opferte in ausgeglichener Stellung einen
Springer
, musste allerdings wenig spater aufgeben, da sie einer ?Halluzination“
[13]
aufgesessen war. Mary Rudge fuhrte mit 13,5 Punkten nach 14 Runden mit zwei Zahlern vor Fagan und gewann ihre restlichen funf Partien. Am Ende erzielte sie 18,5 Punkte aus 19 Partien und gewann uberlegen mit drei Punkten Vorsprung auf Fagan, die ihren zweiten Platz verteidigen konnte.
[14]
Auf den weiteren Platzen folgten die Englanderin Eliza Mary Thorold als Dritte und Frau Worrall als Vierte. Anna Hertzsch aus Deutschland belegte den vierzehnten Platz.
Fur ihren Turniererfolg bekam Mary Rudge als Siegpramie stattliche 60 £ (
Pfund Sterling
), was auf heutige Verhaltnisse umgerechnet einer Summe von ungefahr 5000 £ entspricht (etwa 7500
€
).
[9]
[15]
Fur den sechsten Platz waren noch 15 £ ausgeschrieben, den Spezialpreis fur die schonste Partie (20 £) stiftete der Schach
mazen
Albert von Rothschild
. Der Preisfonds wurde unter anderem vom amerikanischen Meisterspieler
Harry Nelson Pillsbury
zusammengetragen, den ersten Preis stiftete Sir George Newnes (1851?1910), ein Verleger und Mitglied des englischen Abgeordnetenhauses. Das
British Chess Magazine
bezeichnet in seinem Abschlussbericht zum Londoner Turnier Mary Rudge, die schon lange als starkste Schachspielerin weltweit gegolten habe, nun als
lady chess champion of the world
.
[2]
Ein Jahr nach Rudges Turniererfolg weilte der damalige
Schachweltmeister
, der Deutsche
Emanuel Lasker
, in England. Nach seiner Titelverteidigung gegen
Wilhelm Steinitz
(1896) gab Lasker auf Tourneen in Europa einige
Simultanveranstaltungen
, Ende des Jahres 1898 auch in London und Bristol.
[16]
Im Bristoler
Hotel Imperial
gehorte auch Mary Rudge zu seinen Kontrahenten: Nachdem Lasker in einer besseren Stellung fehlgriff und erst einen Bauern verlor und danach die
Qualitat opferte
, stand Mary Rudge auf Gewinn (siehe Diagramm). Allerdings wurde die Simultanvorstellung nach Ablauf der vereinbarten Gesamtspieldauer, nach mehreren Stunden Spielzeit, abgebrochen. Die Partie konnte nicht zu Ende gebracht werden, Lasker gestand aber unmittelbar danach, ?inoffiziell“, die Niederlage gegen Rudge ein.
[17]
Mary Rudge spielte die kommenden Jahre weiterhin fur Vereinsmannschaften und in kleineren Turnieren, ohne nennenswerte Schlagzeilen zu schreiben. Als im Jahr 1900 ihre alteste Schwester Caroline starb, verblieb Mary Rudge alleine, ohne nahe Angehorige. Im Jahr 1912 veroffentlichte ihre Mentorin Rowland in den
Cork Weekly News
(Irland) eine Anzeige, in der sie um finanzielle Zuwendung fur Mary Rudge bat. Sie leide unter
Rheumatismus
und ersuche um Unterstutzung fur die Einweisung in ein Dubliner Hospital.
[18]
Ihre letzte gewertete Partie spielte sie 1913 in einem Fernschachwettkampf. Im Jahr 1915 spielte sie noch gegen verwundete Soldaten in einem Lazarett an ihrem Wohnort
Streatham
.
[3]
Am 22. November 1919 starb die Pionierin des Frauenschachs im
Guy’s Hospital
in London. Genau dreißig Jahre nach Rudges Sieg im ersten internationalen Damenturnier gewann
Vera Menchik
die erste offizielle
Schachweltmeisterschaft
der Frauen. Bei dem ebenfalls in London ausgetragenen WM-Turnier im Rahmen der
Schacholympiade 1927
siegte Menchik mit einem vergleichbaren Ergebnis wie Rudge und gab in elf Partien nur ein Unentschieden ab.
- John Richards:
Mary Rudge: Bristol’s world chess champion
. In:
The Regional Historian
. Nr. 13, 2005, S. 33?37.
Online
(PDF-Dokument, englisch; 500 kB)
- Edward Winter
:
Chess Facts and Fables
. McFarland, 2005, S. 212?215,
ISBN 0-7864-2310-2
.
- ↑
Geburtsjahr laut
General Register Office
von Leominster, Marz 1842, vgl. Richards (2005). In Jeremy Gaiges
Chess Personalia
wird (falschlicherweise) 1845 angegeben.
- ↑
a
b
British Chess Magazine
, August 1897, S. 289. Zitiert nach Winter (2005), S. 214.
- ↑
a
b
c
Tim Harding:
Rudge, Mary.
In: Henry Colin Gray Matthew, Brian Harrison (Hrsg.):
Oxford Dictionary of National Biography
, from the earliest times to the year 2000
(ODNB). Oxford University Press, Oxford 2004,
ISBN 0-19-861411-X
(
doi:10.1093/ref:odnb/95654
Lizenz erforderlich
), Stand: 2004
- ↑
a
b
Vgl. Richards (2005), S. 33.
- ↑
Die Blindsimultan-Partie Blackburne ? Rudge zum Nachspielen
(Java-Applet)
- ↑
John Burt:
The Bristol Chess Club
. James Fawn and Son, Bristol 1883. Auszugsweise online:
chessit.co.uk
- ↑
British Chess Magazine
1889, S. 231. Zitiert nach Winter (2005).
- ↑
Vgl. Richards (2005), S. 34.
- ↑
a
b
c
Vgl. Tim Harding:
The Kibitzer.
Nr. 111,
PDF
(
Memento
vom 4. Juni 2011 im
Internet Archive
)
- ↑
Deutsche Schachzeitung.
Marz 1897, S. 93.
- ↑
Deutsche Schachzeitung.
Juli 1897, S. 221.
- ↑
Deutsche Schachzeitung.
Mai 1897, S. 155.
- ↑
The Field
10. Juli 1897, zitiert nach Harding:
The Kibitzer.
Nr. 111.
- ↑
Die
Deutsche Schachzeitung
veroffentlichte in der Juni-Ausgabe eine fehlerhafte Tabelle, in der zwei Niederlagen Fagans als Siege deklariert wurden, vgl.
Deutsche Schachzeitung.
Juni 1897, S. 222.
- ↑
Prazisere Berechnungen zum Wertevergleich bietet Lawrence H. Officer:
Five Ways to Compute the Relative Value of a UK Pound Amount, 1830?2005
. MeasuringWorth.Com, 2006.
online
(englisch)
- ↑
Zu Laskers Vortragen und Simultanveranstaltungen vgl. die Ausgaben der
Deutschen Schachzeitung
im Marz, April, Mai und Dezember 1898.
- ↑
Laut der
Weekly Irish Times
vom 14. Januar 1899, zitiert nach Richards (2005).
- ↑
Laut
American Chess Bulletin
, Mai 1912, vgl. Winter (2005), S. 214.