Mary Henrietta Kingsley
(*
13. Oktober
1862
in
Islington
; †
3. Juni
1900
in
Simon’s Town
,
Sudafrika
) war eine britische
Forschungsreisende
,
Ethnologin
, Reiseschriftstellerin und Vortragsreisende. Beruhmt wurde sie fur ihren Reisebericht
Travels in West Africa
(1897).
Mary Kingsley war die Tochter des Arztes George Henry Kingsley (ein Bruder des Schriftstellers
Charles Kingsley
) und seiner Hausangestellten, der Kochin Mary Bailey.
Die Ehe der Eltern, die vier Tage vor der Geburt von Tochter Mary geschlossen wurde, galt aufgrund des Klassenunterschieds als
nicht standesgemaß
und Mary Bailey Kingsley wurde von der Familie ihres Mannes mit Ausnahme von dessen Bruder Henry weitgehend ignoriert. George Henry Kingsley selbst hielt sich selten zu Hause auf; als Leibarzt begleitete er haufig meist adlige Dienstherren (u. a. den
Earl of Pembroke
) auf deren Reisen. 1866 wurde Marys Bruder Charles George Kingsley geboren.
Wahrend dem Bruder eine Schulausbildung und daran anschließend ein Studium ermoglicht wurden, verbrachte Mary Kingsley die meiste Zeit mit ihrer spater pflegebedurftigen Mutter zu Hause, wobei auf Wunsch der Mutter die Fenster des Hauses meist abgedunkelt blieben. Eine Schule besuchte sie nie; die einzige formale Bildung, die ihr Vater ihr finanzierte, war privater Deutschunterricht, damit sie ihn bei seinen hobbyethnologischen Studien unterstutzen konnte.
[1]
Daruber hinaus eignete sie sich ihr Wissen vorwiegend aus der Bibliothek des Vaters an. Zu ihrer Lekture gehorten Bucher uber Physik, Chemie, Geografie, Ethnologie und Theologie, außerdem Reise- und Abenteuerliteratur sowie Do-it-yourself-Zeitschriften.
[2]
Die Familie zog 1886 nach
Cambridge
. Hier begann Mary Kingsley, ihre nervenkranke Mutter als Gastgeberin bei den Teegesellschaften und Gelehrtenzirkeln ihres mittlerweile dauerhaft zuruckgekehrten Vaters zu vertreten, und es gelang ihr erstmals, sich einen eigenen Freundeskreis außer Haus aufzubauen.
[3]
Im Abstand von sechs Wochen verstarben im Fruhjahr 1892 zunachst Kingsleys Vater und dann ihre Mutter. Kingsley, die nun erstmals sowohl frei von familiarer Verantwortung als auch ohne Aufgabe war, entschloss sich bald darauf, auf Reisen zu gehen. Motiviert durch ihre Lekture entschied sie sich fur Westafrika; eine erste Probereise fuhrte sie noch 1892 auf die
Kanarischen Inseln
. Anschließend machte sie eine Kurzausbildung in Krankenpflege in der
Diakonissenanstalt Kaiserswerth
. Die erworbenen Fahigkeiten halfen ihr, einerseits ihre eigene Gesundheit zu bewahren, und andererseits konnte sie durch kleinere medizinische Hilfeleistungen Freundschaften und Anerkennung erwerben.
Kingsley startete im August 1893 von England aus mit einem Frachtschiff nach Afrika. Sie segelte darauf die Kuste entlang uber
Freetown
in
Sierra Leone
bis nach
Angola
. Bei
Cabinda
, auf der Insel
Fernando Poo
und dem unteren
Kongo
betrieb sie erste ethnologische Feldstudien. Sie lebte dort bei Einheimischen, von denen sie unter anderem nutzliche Fahigkeiten fur ihre Reisen in den afrikanischen
Dschungel
lernte.
Ihre Route fuhrte sie uber die
franzosische Kolonie Kongo
(heute
Gabun
) schließlich nach
Calabar
, von wo aus sie im Januar 1894 heimkehrte. Ihre Berichte erregten Interesse und sie baute Kontakte zum
British Museum
auf. Der Zoologe
Albert Gunther
des British Museum stattete sie mit einer Ausrustung fur folgende Reisen aus und verschaffte ihr einen Buchvertrag.
Nach Vorbereitungen fur eine zweite Reise brach Kingsley am 23. Dezember 1894 mit der
Batanga
von
Liverpool
aus zu ihrer nachsten
Expedition
auf. Uber die
Goldkuste
und Old Calabar erreichte sie erneut die franzosische Kolonie Kongo. Sie fuhr erst mit dem Dampfschiff, dann mit dem Kanu den Fluss
Ogooue
hinauf, wobei sie Fische sammelte, die zum Teil in Europa noch nicht katalogisiert waren. In Begleitung indigener Reisefuhrer und Gepacktrager nahm Kingsley dann eine Route durch den Busch zum Ufer des Flusses Remboue. Sie handelte dabei britische Stoffe und Metallwaren gegen
Kautschuk
und
Elfenbein
, um sich zum einen den Aufenthalt zu finanzieren und zum anderen mit den Menschen leichter ins Gesprach zu kommen. Auf der Reise freundete sie sich auch mit britischen Handlern an, insbesondere den in der weißen Kolonialgesellschaft als eher rupelhaft beleumundeten
Palmolhandlern
aus dem Raum Liverpool. Nach ihrer Expedition durch den Busch fuhr Kingsley zuruck zur Kuste, nach
Corisco
und in die damalige
deutsche Kolonie Kamerun
. Sie bestieg, wiederum in Begleitung von indigenen Gepacktragern und Reisefuhrern, als erste europaische Frau den 4.095 m hohen vulkanischen
Kamerunberg
, Westafrikas hochsten Gipfel. Aus Kamerun trat sie im November 1895 uber Calabar die Heimreise an.
Nach ihrer Ruckkehr beschrieb Kingsley in schillernden Farben und mit selbstironischem Humor ihre Reise in ihrem 700-seitigen Reisebericht
Travels in West Africa
. Neben ausgiebigen ethnologischen Betrachtungen und geografischen Beschreibungen enthalt das Buch zahlreiche Anekdoten uber Kingsleys Erlebnisse mit vermeintlichen und realen Gefahren zu Wasser und zu Land, freundliche wie misslungene Kontakte mit Mitgliedern des westafrikanischen Volkes der
Fang
sowie Begegnungen mit
Blutegeln
,
Flusspferden
,
Gorillas
,
Elefanten
und
Krokodilen
. Ein Missgeschick mit einer Wildtierfalle liest sich folgendermaßen:
“About five o'clock I was off ahead and noticed a path which I had been told I should met with, and, when met with, I must follow. The path was slightly indistinct, but by keeping my eye on it I could see it. […] I made a short cut for it and the next news was I was in a heap, on a lot of spikes, some fifteen feet or so below ground level, at the bottom of a bag-shaped game pit.
It is at these times you realise the blessing of a good thick skirt. Had I paid heed to the advice of many people in England, who ought to have known better, and did not do it themselves, and adopted masculine garments, I should have been spiked to the bone, and done for. Whereas, save for a good many bruises, here I was with the fulness of my skirt tucked under me, sitting on nine ebony spikes some twelve inches long, in comparative comfort, howling lustily to be hauled out. […] The Passenger came […], and he looked down. 'You kill?' says he. 'Not much,' say I, 'get a bush-rope and haul me out.'”
[4]
Die Insekten, Reptilien und Fische, die sie auf der Reise gesammelt oder sammeln lassen hatte, uberließ sie dem
Britischen Museum
.
Nachrichten von ihren Reisen erreichten bald England, und ihre Ruckkehr im November 1895 stieß auf reges offentliches Interesse. Ihr Buch
Travels in West Africa
wurde bald nach Erscheinen ein Bestseller und machte sie zu einer begehrten Vortragsreisenden. In den folgenden drei Jahren hielt sie zahlreiche Vorlesungen uber das Leben in Afrika, zu seiner Fauna, Flora und ?Folklore“.
Kingsley schrieb neben ihrem Reisebericht
Travels in West Africa
(1897) mit dem eher politischen Werk
West African Studies
(1899) ein weiteres Buch uber ihre Reise. Jenes verstand sie als Beitrag zur Diskussion uber die britische koloniale Praxis; hierin erorterte sie auch ihre Gedanken zu einer moglichen Zukunft der Verwaltung der britischen Kolonien. Dabei setzte sie zwar starker auf Selbstverwaltung als das unter
Joseph Chamberlain
mittlerweile zentralistische Kolonialministerium; nichtsdestotrotz begriff Kingsley sich eindeutig als Imperialistin und Kolonialistin. Es ging ihr nicht darum, den Kolonialismus abzuschaffen, sondern ihn zu reformieren und nicht zuletzt auch fur Großbritannien lukrativer zu machen. Das Werk wurde breit rezensiert; in politischen Kreisen blieb die Rezeption ihrer als unzeitgemaß betrachteten Ideen jedoch hinter ihren Hoffnungen zuruck.
[5]
Die
Missionare
der
anglikanischen Kirche
kritisierte sie heftig fur ihre Versuche, Afrikaner zu ?europaisieren“. Praktiken wie
Polygamie
und
Kannibalismus
, die weiße Europaer schockierten, wollte sie nicht abgeschafft wissen, sondern versuchte, sie zu erklaren. Anders war es bei der in Calabar verbreitet anzutreffenden Praxis der
Totungen von Zwillingskindern
; hier befurwortete sie die Uberzeugungsarbeit der schottischen Missionarin
Mary Slessor
, mit der sie eine gute Freundschaft verband. Ihr
Kulturrelativismus
speist sich dabei aus einer differenzialistischen und zugleich hierarchischen Vorstellung menschlicher ?
Rassen
“. Demzufolge sei ?a black man […] no more an undeveloped white man than a rabbit is an undeveloped hare.“
[6]
Ein Verbot des Verkaufs von Alkohol an Afrikaner, wie es
Abstinenzler
anstrebten, lehnte sie ebenfalls ab ? nicht zuletzt, weil sie auf ihren Reisen enge und freundschaftliche Kontakte zu Liverpooler Handlern geknupft hatte, die vom Ginhandel lebten.
[7]
Fur die zeitgenossische
Suffragettenbewegung
hegte sie keine Sympathien, da ihre Auffassung von den Geschlechtern ebenso differentialistisch war wie ihre ?Rassen“ideologie: ?[T]he mental difference between the two races is very similar to that between men and women among ourselves. A great woman, either mentally or physically, will excel an indifferent man, but no woman ever equals a really great man.“
[6]
Kingsley hatte eine dritte Reise an die Westkuste Afrikas geplant, anderte ihre Plane jedoch nach dem Ausbruch des
Burenkrieges
. Stattdessen fuhr sie nach
Sudafrika
und bot ihre Dienste als Krankenschwester an. Sie starb, keine 38 Jahre alt, an
Typhus
in Simonstown bei Kapstadt in einem Kriegsgefangenenlager, wo sie
internierte
Buren
behandelte.
Wie sie es sich gewunscht hatte, erhielt Mary Kingsley eine Seebestattung; als erster Frau ließ man ihr militarische Ehren zuteilwerden.
Kingsleys Feldforschung trug mit damals verhaltnismaßig neuen ethnologischen Arbeitsmethoden zahlreiche Informationen uber die Lebensweise westafrikanischer Menschen in den 1890er Jahren nach Europa. Dabei verstand sie ihr Werk auch als durchaus politisch: Sie argumentierte gegen die damals in Europa und Amerika vorherrschende Vorstellung, schwarze Menschen seien ?Primitive“ und Europa musse Afrika ?zivilisieren“. Teile ihres Werks sind dabei durchaus widerspruchlich; so stellte sie die Ideologie einer ?weißen“ Uberlegenheit und den expansiven europaischen Imperialismus nie in Frage. Gleichzeitig trug ihr Wille zum Verstandnis von Afrikanern auf der Grundlage damals neuer Forschungsmethoden ? nicht zuletzt durch ihren lebhaften Erzahlstil ? in England auch zu einem differenzierteren Bild der Menschen in Westafrika bei.
Kingsleys politische Bedeutung wird in der Forschung zwiespaltig gesehen: Sie war Akteurin des britischen Kolonialismus; gleichzeitig wurde ihr aufrichtiges Interesse auch in der indigenen Bevolkerung durchaus geschatzt. Direkten Einfluss auf die britische Kolonialpolitik hatte sie nicht; indirekt wird ihre Arbeit von Forschern jedoch auch als eine der Grundlagen fur die spateren Aktivitaten von Kolonialismuskritikern wie
Edmund Dene Morel
gesehen, der Kingsley selbst als seine ?Mentorin“ bezeichnete.
[8]
- Travels in West Africa
, London: Macmillan 1897.
- West African Studies
, London: Macmillan 1899.
- The Story of West Africa
, London: Horace Marshall 1900.
- Notes on Sports and Travel
, London: Macmillan 1900.
- Die grunen Mauern meiner Flusse, Aufzeichnungen aus Westafrika
, Auszuge und Fotografien aus
Travels in West Africa
, London 1897, C. Bertelsmann, Munchen 1989,
ISBN 3-570-02655-8
.
- Reisen in Westafrika, Durch Franzosisch-Kongo, Corisco und Kamerun
,
Edition Erdmann
, 4. Auflage, Lenningen 2016,
ISBN 978-3-86539-861-1
.
- Tropenfieber ? Wagnis im Dschungel. Mary Kingsley unter Kannibalen
, Soundtrack ? Vangelis ? Mutiny on the Bounty
ZDF
-
Terra X
, Deutschland 2007, 45 Min.
[9]
- Entdecker (Original: Ten Who Dared: The Explorers) ? Mary Kingsley, Großbritannien 1973, 45 Min., 1976 ARD-Fernsehen
- Dea Birkett:
Mary Kingsley: Imperial Adventuress
. London: Macmillan 1992,
ISBN 0-333-48920-9
.
- Katherine Frank:
A Voyager Out. The Life of Mary Kingsley
. London: Tauris 2005,
ISBN 1-84511-020-X
.
- Stephen Gwynn:
The Life of Mary Kingsley
. London: Macmillan 1932.
- Heather Lehr Wagner:
Mary Kingsley: Exp O/T Congo
. New York: Chelsea House Publishers 2013,
ISBN 0-7910-7714-4
.
- Gero Brummer:
Mary Kingsley, "The Sea-Serpent of the Season" ? Selbstwahrnehmung und -verortung einer Afrikareisenden.
In: Helge Baumann, Michael Weise u. a. (Hrsg.):
Habt euch mude schon geflogen? Reise und Heimkehr als kulturanthropologische Phanomene
. Marburg 2010,
ISBN 978-3-8288-2184-2
.
- Magdalena Koster:
Mary Kingsley ? Was ist das Leben ohne ein Handtuch?
In: S. Hartel, M. Koster:
Die Reisen der Frauen.
Weinheim: Beltz & Gelberg 2003,
ISBN 3-407-80915-8
.
- Bianca Walther: ?
I, as a Scientific Man“ ? Grenzen viktorianischer Weiblichkeit bei der Afrikareisenden Mary Kingsley
. In: Uta Fenske, Daniel Groth, Matthias Weipert (Hrsg.):
Grenzgang ? Grenzgangerinnen ? Grenzganger. Historische Perspektiven. Festschrift fur Barbel P. Kuhn zum 60. Geburtstag.
St. Ingbert: Rohrig 2017, S. 103?114,
ISBN 978-3-86110-635-7
.
- ↑
Katherine Frank:
A Voyager Out. The Life of Mary Kingsley
. London: Tauris Paperback 2005, S. 23 f.
- ↑
Frank 2005, S. 28?36.
- ↑
Dea Birkett:
Mary Kingsley: Imperial Adventuress
. London: Macmillan 1992, S. 12 f.
- ↑
Mary Kingsley:
Travels in West Africa
. London: Virago 1982 [1897], S. 229 f.
- ↑
Birkett 1992, 130 ff.
- ↑
a
b
Kingsley 1982 [1897], S. 659.
- ↑
Birkett 1992, S. 70 ff.
- ↑
Bernard Porter:
Critics of Empire. British Radical Attitudes to Colonialism in Africa 1895-1914
, London: Macmillan 1968, S. 256 ff.
- ↑
Terra X: Tropenfieber, Wagnis im Dschungel - Mary Kingsley unter Kannibalen
, abgerufen am 11. April 2022.