Kreiselinstrument

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Einfacher Kreisel

Ein Kreiselinstrument , auch Kreiselstabilisator oder Gyroskop ( griechisch γ?ρο? gyros , deutsch ‚Drehung‘ und σκοπε?ν skopein ?sehen‘) genannt, ist ein rasch rotierender, rotationssymmetrischer Kreisel , der sich in einem beweglichen Lager dreht. Das Lager kann eine kardanische Aufhangung sein oder ein Rahmen in Form eines Kafigs (siehe Abbildung). Aufgrund der Drehimpulserhaltung weist der Kreisel ein hohes Beharrungsvermogen gegenuber Lageanderungen im Raum auf. Wird die Drehgeschwindigkeit zwischen Kreisel und Kafig gemessen, spricht man von einem Gyrometer . Gyroskope werden als Navigationsinstrumente sowie zur aktiven Lageregelung eingesetzt, insbesondere in der Luft- und Raumfahrt. Bei der Lageregelung von Raumflugkorpern wie Satelliten wird ausgenutzt, dass das Gesamtsystem aus Raumflugkorper und Gyroskop seinen Drehimpuls beibehalt und somit durch Drehimpulsubertragung zwischen beiden die Lage gesteuert werden kann.

Aktuell wird der Begriff Kreisel oder Gyro in ubertragender Weise fur eine Vielzahl von Drehratensensoren verwendet, die keine Kreisel enthalten, aber den gleichen Zweck erfullen wie ein tatsachliches Kreiselinstrument.

Das Gyroskop wurde 1810 vom Professor fur Physik , Mathematik und Astronomie Johann Gottlieb Friedrich von Bohnenberger an der Universitat Tubingen erfunden; ein Exemplar wurde 2004 von Alfons Renz, Privatdozent an der Biologischen Fakultat der Eberhard Karls Universitat Tubingen, im Kepler-Gymnasium Tubingen wiederentdeckt. [1] 1852 hat Leon Foucault das Gyroskop bis zur Konstruktion und Fertigung des Kreiselkompasses weiterentwickelt, wobei das erste Gyroskop von 1810 als Idee nicht unterscheidbar ist und wesentliche Grundlage zur Erfindung des Kreiselkompasses im Jahr 1852 war.

Die Universitat Stuttgart hat ab 1961 auf Initiative von Kurt Magnus eine historische Sammlung mit technischen Kreiselgeraten aufgebaut und deren Exponate seit 2017 im Rahmen des Forschungsprojekts ?Gyrolog“ digitalisiert. [2]

Physikalische Prinzipien

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Ein Kreiselsystem lasst sich als abgeschlossenes System ansehen, dessen Drehimpuls konstant bleibt. Versucht eine außere Kraft die Drehachse des Kreisels zu kippen, resultiert ein zur Kraft senkrechtes Drehmoment , dem sich der Drehimpuls nach der Regel vom gleichsinnigen Parallelismus anzugleichen strebt. Der Drehimpuls kippt rechtwinklig zur angreifenden Kraft. Die Drehachse ist uber den Tragheitstensor an den Drehimpuls gekoppelt, weswegen die Kreiselachse dem Drehimpuls folgt und ihn dabei auf engem Kegel umlauft, siehe Drallstabilisierung . Der Effekt ist unter anderem vom Spielzeugkreisel bekannt, dessen Achse durch die ihn kippen wollende Schwerkraft entlang eines Kegelmantels prazediert . Der Offnungswinkel des Kegels ist beim symmetrischen Kreisel umgekehrt proportional zum Quadrat der Drehzahl und des Verhaltnisses des axialen zum aquatorialen Haupttragheitsmoment des Kreisels.

Kreiselinstrument in Bewegung (rot: Kreiselachse, grun: Achse außere Kraft, blau: Achse Ergebnis)

Daher sind am Kreisel folgende Messprinzipien moglich: [3]

  1. Die Stabilitat der Kreiselachse : Ein frei laufender, symmetrischer Kreisel hat das Bestreben, die Richtung seiner Drehachse im Inertialraum beizubehalten. ? Ein Bezug der Lage ist gegeben
  2. Die Prazession : Versucht eine außere Kraft, die Achsenrichtung eines laufenden Kreisels zu andern, so folgt die Kreiselachse nicht der Angriffsrichtung dieser Kraft, sondern weicht rechtwinklig zu ihr im Sinne der Kreiseldrehung aus. ? Außere Kraft und Prazession stehen in direktem Zusammenhang, eine Lageanderung wird messbar

Die zwei Gesetzmaßigkeiten sind die Grundlage aller Kreiselinstrumente: Der 1. Satz ist eine Folge der Massentragheit , der 2. Satz eine Folge des Drallsatzes (Satz vom Drehimpuls) .

In einem abgeschlossenen System bleibt neben dem Gesamt impuls auch der Drehimpuls erhalten. Stabilitat und Prazession nehmen mit dem Drehimpuls des Kreisels zu.

Die Wirkung wird auch als richtungshaltender Kreisel bezeichnet; wichtige technische Anwendungen sind der kunstliche Horizont und der Kurskreisel der Luftfahrt. In der Praxis bewirkt jede kleinste Unwucht ein langsames Auswandern der Kreiselachse ( Kreiseldrift ), was durch bestimmte Maßnahmen mehr oder weniger reduziert werden kann.

Die Prazession wird in noch breiterem Ausmaß angewandt: u. a. als Stellgroße bei Aufgaben der mechanischen Stabilisierung, beim Kreiselkompass der Nautik bzw. beim Vermessungskreisel ( richtungssuchender bzw. nordsuchender Kreisel), oder fur den Instrumentenflug beim Wendezeiger .

Technische Anwendungen

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Weitverbreitet sind Kreiselinstrumente in der Verkehrstechnik , insbesondere zur Orientierung und zur Navigation .

Ein Gyroskop aus einem Flugzeug
  • In Pkw konnen Gyrometer Richtungsanderungen genauer messen, als es uber die Radstellung moglich ist. Zusammen mit der Messung der zuruckgelegten Strecke ist eine recht genaue Positionsbestimmung moglich ( Koppelnavigation ), die schon heute in manchen GPS -Navigationsanlagen die Anzeige fortfuhrt, wenn die Satellitensignale (etwa im Tunnel) ausfallen. Diese enthalten meist einen Vibrationskreisel .
  • In vielen Smartphones , aber auch Tablets sind Gyroskopsensoren enthalten. Sie dienen auch hier zur weiteren Navigation, wenn das GPS-System ausgefallen ist. Aber auch fur Spieleapps (z. B. fur die Bewegung von Figuren) werden sie genutzt.
  • Bei der Odometrie des europaischen Zugbeeinflussungssystems ETCS kommen teilweise auch Gyroskope zum Einsatz.

Bei jedem Kreiselsystem wurde aber uber langere Zeitraume jede kleine Unwucht zu einer anwachsenden Kreiseldrift fuhren, die insbesondere im Flugwesen sehr storend ware. Daher entwickelt man magnetgestutzte Gyrosyn -Gerate, welche die Richtungsmessung auch uber langere Zeit stabilisieren.

  • In jedem Flugzeug- Cockpit befinden sich in aller Regel mehrere Kreiselinstrumente:
    • Der kunstliche Horizont zeigt dem Piloten eine Linie, die vor dem Start horizontal ausgerichtet wird. Wahrend des Fluges halt der Horizontkreisel infolge seiner Achsenstabilitat diese Linie in der Horizontalen, auch wenn sich das Flugzeug nach vorn, hinten oder zur Seite neigt. Damit kann man im Cockpit die raumliche Lage des Flugzeugs bestimmen, auch wenn Dunkelheit, Wolken oder flugbahnbedingte Fliehkrafte eine unmittelbare visuelle Orientierung erschweren (siehe Instrumentenflug )
    • Der Wendezeiger ermoglicht einen genau kontrollierten Kurvenflug .
    • Der Kurskreisel ermoglicht die Einhaltung der Flugrichtung.
  • Weitere Kreiselsysteme befinden sich im Flugzeugrumpf und sind dort meist zu einem INS (Tragheitsnavigation) zusammengefasst. Diese dienen der Steuerung des Autopiloten und der Anzeige von Lage- und Richtungsabweichungen auf den Computermonitoren im Cockpit.
  • Kreiselinstrumente in Kampfschiffen oder Panzern ermoglichen die prazise Ausrichtung der Geschutze auf die angepeilten Ziele trotz Wellengang oder Unebenheiten des Gelandes.

Lageregelung ist auch in anderen Bereichen von Bedeutung (wobei Gyroskop hier auch fur Drehratensensoren stehen kann, welche nicht tatsachlich auf Kreiseln basieren):

  • Bei Eisenbahnwagen mit Neigetechnik liefern Gyroskope die Sensordaten fur die Komfortsteuerung.
  • Bei Modellflugzeugen und -hubschraubern werden Gyroskope eingesetzt, um eine oder mehrere Achsen gegen Wind oder gegen Nebeneffekte der Steuerung zu stabilisieren, weil diese andernfalls nur schwer steuerbar sind. Dabei kamen anfangs mechanische Kreisel zur Anwendung, mittlerweile werden Piezo - oder SMM -Sensoren (Silicon Micro Machine) eingesetzt; in beiden Fallen werden die Steuerkorrekturen uber integrierte Mikrocontroller direkt im Flugmodell errechnet.
  • Bei Flugzeugtragern wird zur Stabilisation des Anflugleitstrahls ebenfalls eine gyroskopisch gelagerte Konstruktion verwendet, um die Wellenbewegungen des Schiffes nicht auf den Strahl zu ubertragen.
  • Torpedos oder unbemannte Fluggerate wie z. B. ballistische Raketen benotigen keinen kunstlichen Horizont. Stattdessen wird ein Kreiselinstrument direkt an die Steuerung angeschlossen, was erstmals bei der A4 (V2-Rakete) im Zweiten Weltkrieg geschah. Die Kreiselsteuerung dient dazu, unerwunschte Einflusse wie die Abdrift durch Wind oder Unregelmaßigkeiten im Antrieb zu kompensieren, um die programmierte Flugbahn einzuhalten. Sie ist heute meist Teil eines inertialen Navigationssystems (INS).
  • In der Raumfahrt dienen Kreisel zur Lageregelung: Hierbei stabilisieren sich im fast kraftefreien Raum das Tragheitsrad und das Reaktionsrad selbst. Messtechnische Aspekte spielen dabei nur eine sekundare Rolle. Das bisher praziseste und technisch anspruchsvollste Kreiselinstrument wurde fur den im April 2004 gestarteten Gravity-Probe -Satelliten konstruiert, dessen erste Ergebnisse im April 2007 bekannt wurden.
  • Ebenfalls zum Einsatz kommen Gyroskope in kreiselstabilisierten Fernglasern , bei denen das Kreiselinstrument eine Beobachtung auch von Schnellbooten oder aus Helikoptern bzw. Kraftfahrzeugen heraus ermoglicht.
  • Die BMW S 1000 RR nutzt ebenfalls zwei Gyroskope zum Einsetzen der Dynamic Traction Control (kurz DTC).
  • 2009 kamen Gyroskope in Nintendos Erweiterung Wii Motion Plus erstmals in der Unterhaltungsindustrie zum Einsatz.
  • Auch der ? PlayStation 3 Move Controller “ verwendet einen gyroskopischen Sensor.
  • Bereits in den 1970er Jahren hat der Kameramann Jost Vacano die sogenannte ?Joosticam‘ entwickelt, eine Art Steadicam , mit der er auch den Film Das Boot drehte. Diese Technik findet z. B. Anwendung in der On-board-Kamera in der FIM-Motorradweltmeisterschaft und wurde erstmals auf dem Sachsenring am Motorrad von Valentino Rossi eingesetzt.
  • Gyroskopische Ubungsgerate nutzen den Kreiseleffekt zum Training des Handgelenks, bei welchem man durch entsprechende Handbewegungen versucht, den Kreisel zu beschleunigen und mit wachsender Drehzahl der Kreiselkraft entgegenzuwirken.
  • Kreiselmesszelle zur Gewichtsermittlung (Kreiselwaage) zur hochgenauen Verwagung mit einer Genauigkeit von bis zu 1.000.000 Teilen. [4]
  • Nina Fjodorowna Babajewa: Kreiselgerate (Originaltitel: Giroskopy , ubersetzt von Volker Christoph). Militarverlag der Deutschen Demokratischen Republik, Berlin 1975.
  • Wolf von Fabeck: Kreiselgerate. Die verschiedenen Geratetypen und ihre technische Anwendungen, prinzipbedingte Fehler und geratetechnische Losungen, physikalische Grundlagen. Vogel, Wurzburg 1980, ISBN 3-8023-0612-0 (Kap. 1, 3 und 8).
  • Alfons Renz: Bohnenbergers Gyroskop. Eine typisch Tubinger Erfindung. In: Tubinger Blatter. Band 93, 2007, S. 27?34.
  • Harro Simon: Instrumentenflugkunde und Navigation. Teil I: Bucher der Luftfahrtpraxis. Band 8, Reich, Munchen 1961.
  • J. F. Wagner, A. Trierenberg: The Machine of Bohnenberger. In: E. Stein (Hrsg.): The History of Theoretical, Material and Computational Mechanics. Springer, Heidelberg 2014. doi:10.1007/978-3-642-39905-3_6
  • Jorg F. Wagner, Helmut Sorg, Alfons Renz: The machine of Bohnenberger. In: European journal of navigation. Bd. 3, Nr. 4, 2005, S. 69?77.
Commons : Gyroskop  ? Album mit Bildern, Videos und Audiodateien
Wiktionary: Gyroskop  ? Bedeutungserklarungen, Wortherkunft, Synonyme, Ubersetzungen

Einzelnachweise

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  1. Jorg F. Wagner, Helmut Sorg, Alfons Renz: The machine of Bohnenberger. In: GeoBit. Band 10, Nr. 4, 2005, GIS, S. 19?24; Jorg F. Wagner, Helmut Sorg, Alfons Renz: The machine of Bohnenberger. In: European journal of navigation. The leading journal for systems, services and applications. Bd. 3, Nr. 4, 2005, S. 69?77; Alfons Renz: Bohnenbergers Gyroskop. Eine typisch Tubinger Erfindung. In: Tubinger Blatter. Band 93, 2007, S. 27?34.
  2. Jorg Wagner: Sammlung zur Kreiseltechnik und Inertialnavigation. Universitat Stuttgart, 2023, abgerufen am 2. Mai 2024 (mit Links zu einem Video uber die Exponate sowie zum Projekt ?Gyrolog“).
  3. Harro Simon: Instrumentenflugkunde und Navigation. Teil 1. Grundlagen und Ausbildung im Motor- und Segelflug . In: Bucher der Luftfahrtpraxis . Band   8 . Reich, 1961.
  4. Thomas Wohrl: Die WOHWA Kreiselmeßzelle: Hochprazise Verwagung hoher Lasten. In: woehwa.com. Wohwa, 21. Juli 2010, abgerufen am 9. Juni 2022 .