Kollektives Gedachtnis

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Schematische Darstellung der Formen/Funktionen von Gedachtnis in den Wissenschaften

Der Begriff kollektives Gedachtnis bezeichnet eine gemeinsame (= kollektive) Gedachtnisleistung einer Gruppe von Menschen. So wie jedes Individuum situativ zu einem individuellen Gedachtnis fahig ist, wird einer Gruppe von Menschen (Volk oder jede andere unterscheidbare soziale Gruppe) eine gemeinsame Gedachtnisleistung unterstellt. Das kollektive Gedachtnis wird als Rahmen einer solchen Gruppe verstanden: Es bildet die Basis fur gruppenspezifisches Verhalten zwischen ihren Angehorigen, fur ethische Normen und einen gewissen Verhaltenskodex, der es dem Einzelnen ermoglicht, im gemeinschaftlichen Interesse zu denken, zu handeln oder sich zu organisieren. Das kollektive Gedachtnis nimmt mit Blick auf die kulturelle Vergangenheit, aber auch auf historische Ablaufe oder Ereignisse, Bezug zu den gegenwartigen sozialen und kulturellen Verhaltnissen, wirkt individuell auf eine Gruppe von Menschen und tradiert gemeinsames Verhalten. [1]

Begriff und Abgrenzung

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Das Konzept des kollektiven Gedachtnisses stammt von dem franzosischen Philosophen und Soziologen Maurice Halbwachs , der diesen Begriff in den 1920er Jahren einfuhrte. Es wird in jungerer Zeit in mehreren Disziplinen, darunter auch in der Geschichtswissenschaft, als Analysekategorie verwendet.

Beim kollektiven Gedachtnis wird zwischen dem kommunikativen Gedachtnis und dem kulturellen Gedachtnis unterschieden. Diese beiden Bestandteile unterscheiden sich nach Jan Assmann durch Alltagsnahe bzw. -ferne, Geformtheit und die Art der Tradierung: [2] Das kommunikative Gedachtnis liefert mundlich weitergegebene Erfahrungen und Traditionen; das aber nur in einem Zeitraum von ca. drei Generationen nach dem Zeitpunkt des Geschehens. Diese Form des Gedachtnisses ist immer an Menschen gebunden, weil es von der Weitererzahlung lebt. Dadurch unterliegt es zugleich der Gefahr der Verfalschung (siehe auch: Stille Post ). Erganzt wird es durch das kulturelle Gedachtnis , welches ebenfalls immer an Personen gebunden ist. Dazu gehoren Kunst- und Kulturgegenstande, Musik, Literatur, Mode aber auch ausgewahlte Architektur. Es enthalt aber auch niedergeschriebene Erinnerungen von Personen, abhangig von ihrem Wissen, ihrer Haltung und Motivation und somit fur die Nachwelt konserviert. Es wirkt, je nach Pflege uber mehrere Generationen hinaus. Zum Beispiel zahlen Religionen, Geschichten uber vergangene Ereignisse, die in Schriften niedergelegt wurden, zum kulturellen Gedachtnis.

Das Institutionelle Gedachtnis ist ebenfalls ein nicht an einzelne Personen gebundenes Gedachtnis. Es wird in besonderer Weise von der Art der Institution, ihrer Rolle im jeweiligen gesellschaftlichen Kontext und der Machtstruktur eines Landes oder einer Gruppe gepragt. Bestimmt und gepflegt wird es in der Regel von den fuhrenden Personen der jeweiligen Institution, dabei hat es eine Art Zielfunktion und ist zugleich Instrument zur Durchsetzung der institutionellen Ziele.

Bestandteile des kollektiven Gedachtnisses

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Abhangig von der Gruppe, ihre Organisationsform, Funktionalitat, Große sowie Zielstellung konnen folgende Elemente unterschieden werden:

  • Es bewahrt bestimmte Rituale oder auch Traditionen, wie es vor allem bei Naturvolkern oder Gruppen in abgegrenzten Territorien sehr typisch ist.
  • Es nutzt bestimmte Symbole oder sachbezogene Gegenstande, wie Fahnen, Wappen [3] oder auch symboltrachtige Bauwerke wie die Pariser zum Beispiel den Eiffelturm.
  • Es vereint in sich identitatsstiftende naturliche Gegebenheiten, wie eine typische Landschaft, die ?Heimat“, aber auch bestimmte Tier- und Pflanzenarten, wie es zum Beispiel bei Finnland mit dem Elch oder bei Kanada durch das Ahornblatt zum Ausdruck kommt.
  • Genauso gehoren ausgewahlte, besonders geachtete, geehrte Personlichkeiten dazu, wie zum Beispiel Nelson Mandela fur Sudafrika [4] oder Mahatma Gandhi (1869?1948) fur Indien [5]
  • Ein wichtiges Element bilden die Kunst, bestimmte Kunstrichtungen oder Gattungen, eingeschlossen die Musik, wie sie beispielsweise bei religiosen Feierlichkeiten oder durch das Abspielen einer Nationalhymne eingesetzt wird.
  • Auch historische Ereignisse mit hoher Symbolkraft wie der Holocaust/Shoa, der Atombombenabwurf uber Hiroshima, wie Woodstock, Armstrongs Landung auf dem Mond, die Terroranschlage des 11. September 2001 ; aber auch sehr regional stattgefundene und rezipierte geschichtliche Ablaufe konnen Eingang finden, wie:
    • die verheerenden Luftangriffe der Alliierten im Sommer 1943 auf Hamburg, genauso wie das Hochwasser der Elbe 1962; [6]
    • die Luftangriffe auf Dresden vom 13.?15. Februar 1945, die auch 70 Jahre danach noch eine eigene Gedenkkultur besitzen; [7]
    • die beiden Wahrungsreformen (1923 und 1948) in Deutschland und die schwierigen Zeiten davor (1923: galoppierende Inflation bzw. Hyperinflation; 1948: Schwarzmarkt );
    • die Aufrichtung der nationalsozialistischen Herrschaft ab 1933 in Deutschland und die gezielte Auslosung des Zweiten Weltkrieges, beginnend mit dem Uberfall auf Polen
    • und andere mehr.

Wahrheit ? Legenden ? Lugen

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Das kollektive Gedachtnis entsteht niemals aus dem ?Nichts“ heraus oder weil spontan ein bestimmtes Ereignis stattgefunden hat. Es ist immer davon abhangig: Welches Wissen hat eine bestimmte Gruppe zu einem konkreten Sachverhalt? Welche Fakten sind zu dem Sachverhalt tradierend von besonderem Interesse? Was ist von dem Ereignis ganz besonders im Gedachtnis haften geblieben? Welche Ursachen und Wirkungen haben zu diesem Sachverhalt gefuhrt? Und wie ist der Wahrheitsgehalt der damit im Zusammenhang stehenden Informationen?

Vor allem das vorausgegangene Wissen ist schon eine Art Filter dafur, ein Ereignis oder einen bestehenden Sachverhalt in einem bestimmten Licht zu betrachten. [8] Das heißt, das Individuum macht sich einen ersten Eindruck und pruft die dabei gewonnenen Informationen auf ihre Relevanz ab. Die gewonnenen Informationen konnen richtig sein, sie konnen aber auch bewusst oder unbewusst verfalscht worden sein. Die extremste Form davon ist die Luge. Wenn also ein stattgefundenes Ereignis bewusst verfalscht wurde, also in vollem Bewusstsein des Ubermittlers der Nachricht anders dargestellt wurde, als das Ereignis wirklich war. Das finden wir in besonders ausgepragten Varianten dort vor, wo es um die Wahrnehmung bestimmter Gruppeninteressen geht. [9] Das fangt im ganz kleinen Bereich einer Familie an, geht uber gesellschaftliche Gruppierungen, Bundnisse, Gemeinschaften, Parteien oder Religionen, betrifft aber ganz genauso Lander, Staatengemeinschaften, politische oder geografische Bundnisse. [10] Alle diese Gruppen werden in ihrer ursprunglichsten Form durch ein gemeinsames kollektives Gedachtnis zusammengehalten, motiviert und organisiert.

Im Zuge der digitalen Revolution und der Relevanz algorithmischer Empfehlungssysteme fur die Prasenz gesellschaftlicher Ereignisse und kultureller Praktiken finden vermehrt technologische Aspekte Eingang in die Debatte um das kollektive Gedachtnis. [11]

Einzelnachweise

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  1. Friedrich Schiller, Akademische Antrittsrede bei der Eroffnung seiner Vorlesungen an der Universitat in Jena, gehalten am 26. Mai 1789.
  2. Jan Assmann: Kollektives Gedachtnis und kulturelle Identitat . In: Jan Assmann, Tonio Holscher (Hrsg.): Kultur und Gedachtnis . Suhrkamp, Frankfurt 1988, S.   9–19 ( uni-heidelberg.de [PDF]).
  3. Ottfried Neubecker, J. P. Brooke-Little: Heraldik. Ihr Ursprung, Sinn und Wert. Orbis, Munchen 2002, ISBN 3-572-01344-5 .
  4. Ein Leben fur die Freiheit ? Nelson Mandela. Reihe Biografie Der Spiegel, Nr. 2, 2018.
  5. Mahatma Gandhi: Mein Leben , 1930.
  6. Hamburg. Merian Verlag, 2019.
  7. Walter Weidauer: Inferno Dresden. Dietz Verlag, Berlin 1987.
  8. Jurgen Habermas: Moralbewusstsein und kommunikatives Handeln. Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main 1983.
  9. Marcus Konig: Agitation ? Zensur ? Propaganda (mit zahlreichen Beispielen zum U-Bootkrieg und bewusster Fehlinformation der Offentlichkeit im Ersten Weltkrieg). ibidem Verlag, Stuttgart 2014.
  10. Magnus Brechtken: Der Wert der Geschichte fur die Gegenwart. Siedler Verlag, 2020, S. 33ff.
  11. Taha Yasseri, Patrick Gildersleve, Lea David: Collective memory in the digital age . In: Progress in Brain Research . Elsevier, 26. August 2022, doi : 10.1016/bs.pbr.2022.07.001 ( sciencedirect.com [abgerufen am 12. September 2022]).