Klein und Wagner

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Hermann Hesse (1925)

Klein und Wagner ist eine 1919 [1] publizierte Novelle Hermann Hesses . Erzahlt werden die letzten Tage im Leben des von der Polizei gesuchten und nach Norditalien gefluchteten Bankbeamten Friedrich Klein.

Flucht nach Norditalien

Der etwa 40-jahrige Familienvater und Bankbeamte Friedrich Klein flieht, nachdem er Geld veruntreut und Urkunden gefalscht hat, mit dem Zug Richtung Suden. Er landet in einer italienischen Stadt und checkt im ?Hotel Milano“ ein (Kap. 1). Voller Verzweiflung versucht er seine Tat zu verstehen, denkt zwanghaft nach und hat Alptraume: ?In ihm selbst war alles gewachsen und entstanden, in seinem eigenen Herzen war das Schicksal groß geworden. Verbrechen und Auflehnung, Wegwerfen heiliger Pflichten, Sprung in den Weltraum, Hass gegen sein Weib, Flucht, Vereinsamung und vielleicht Selbstmord. […] Klein [kann] sich auf nichts […] hinausreden, nichts verantwortlich machen, hochstens vielleicht seine Frau. Ja, sie allerdings konnte und musste […] verantwortlich gemacht werden.“ Er erinnert sich an ein ?Gefuhl, oder eine Phantasie, ein seltsamer und krankhafter Seelenzustand, eine Versuchung, ein wahnsinniges Gelust […] Es war die Vorstellung oder Vision einer furchtbaren Bluttat, die er beging, indem er sein Weib, seine Kinder und sich selbst ums Leben brachte.“ Jahre zuvor, als Kleins Leben noch beinahe glucklich war, hatte der suddeutsche Schullehrer Wagner seine ganze Familie abgeschlachtet. Damals verurteilte er mit Abscheu die Tat. Heute sieht er diese Entrustung als Heuchelei an, in seinem Innern habe er die Tat verstanden und gebilligt. Er habe sich selbst an Wagners Stelle auf der Anklagebank gesehen. Er furchtet, wahnsinnig zu werden, wenn diese Alptraume anhalten.

Teresina

Am nachsten Tag (Kap. 2) genießt er bei einem Spaziergang den Reiz der sudlichen Landschaft am See. An diesem Tag begegnet ihm im Park die junge Tanzerin Teresina mit ihren metallisch gelben Haaren, die er zugleich sexuell anziehend und gerade deshalb dirnenhaft abstoßend empfindet. Er reflektiert, dass diese Beurteilung mit der Angst vor seiner eigenen Natur zusammenhangt, mit der Verdrangung des Tiers oder Teufels Wagner. Er fuhlt sich entwurzelt. ?Alles, was sein Leben lang gut und richtig gewesen war, war es jetzt nicht mehr. Alles muss[-] er aus sich selber holen, niemand [hilft] ihm. Und was [findet] er denn in sich selbst? Ach, Unordnung und Zerrissenheit!“ Am Abend sieht er Teresina in einem Gartenlokal bei einer Tanzvorfuhrung mit ihrem Partner Claudio. Ihr Tango druckt ?Gluck und Freude aus, Schonheit und Luxus, gute Lebensart und Lebenskunstart“, auch ?Liebe und Geschlechtlichkeit, aber nicht wild und gluhend, sondern eine Liebe voll Selbstverstandlichkeit, Naivitat und Anmut“. Daran schließt sich ein freier Phantasietanz an, der ?das glaubige Einverstandensein mit der eigenen Natur, die vertrauensvolle Hingabe an Wunsche, Traume und Spiele des Herzens“ ausdruckt. Fur ihn ist es ein Bild der Harmonie einer Person mit sich selbst, und er verliebt sich in sie. Teresina spricht ihn nach dem Tanz an und verabredet sich mit ihm am nachsten Tag im Park. Dort sprechen sie uber die Doppelexistenz des Menschen, sein außeres, burgerliches, gesellschaftskonformes Auftreten und seine innere Natur (Kap. 3). Er bekennt, dass er bisher nur ?Fremdes, nur Gelerntes, nur Gutes und Richtiges“ tat. Aber er konnte dieses Leben nicht mehr ertragen. Jetzt gehe ihn die Welt nichts mehr an, er sei ganz allein. Er sei aus dem Nest gefallen. Jetzt musse er untergehen oder fliegen lernen. Beim Verbalisieren seiner Probleme spurt er die Begrenztheit der Sprache. Am besten ware es zu schweigen. Als Teresina ihn fragt, was er eigentlich von ihr erwartet, weiß er es nicht, lauft davon und wandert durch die Umgebung der Stadt. Seine Depression weicht in der Natur einem euphorischen Gefuhl, einem Einklang mit Gott. In einem landlichen Wirtshaus, in dem er in einem kahlen Kammerchen ubernachtet, ist er glucklich im Gefuhl des einfachen bedurfnislosen Lebens, ohne Reflexion. Als die junge Wirtin, deren betrunkener Mann im Streit das Haus verlassen hat, nachts in sein Bett kommt, sturzt er nach kurzer Lust wieder ab in Schuldgefuhle, Angst und Ekel vor dem Leben und verlasst fluchtartig das Haus.

Die ganze Nacht verbringt er im Freien, fuhlt sich verloren, will sich, wie Wagner, selbst toten, auf die Schienen vor einen Zug werfen und sieht dann, dass damit seine Probleme nicht gelost sind und er nur durch Leid seinen Weg zur Reife finden kann. Dann schlaft er im Wald.

Am nachsten Tag geht er in den Kursaal, sieht Teresina beim Tanzen und ladt sie ein, mit ihm am Abend mit dem Boot zur Spielbank nach Castiglione zu fahren (Kap. 4). Er hat zwei Tausenderschein dabei und fragt sie, ob sie gemeinsam spielen wollen. Sie ist fur getrennte Aktionen. Er setzt seinen Schein auf eine Nummer und verliert. Sie teilt ihren Betrag auf und hat am Ende 5000. Fur Teresina bedeutet der Geldgewinn Freiheit. Er erwidert, Geld bedeute nicht Freiheit, denn es gehe schnell verloren. Nur in ihren Wunschen gebe es Freiheit. Sie versteht seine Lebensphilosophie nicht, spurt auch seine undurchschaubare kriminelle Vergangenheit und warnt ihn: ?Du lebst wie ein Selbstmorder.“ Zugleich ist sie von dem viel Alteren angezogen und geht mit ihm eine sexuelle Beziehung ein. Sie ist fur ihn eine kindliche und ?primitiv gesund[e]“ Gegenfigur zu seiner zerrissenen, depressiven Personlichkeit. Bei ihrer letzten Liebesnacht beobachtet er die ruhig und tief Schlafende: ?ohne Schmerzen, ohne Angst, ohne Ahnung, schon und stumpf und dumm wie ein gesundes schlafendes Tier.“ (Kap. 5) In allem ist er, der Schlaflose, die Gegenfigur. Nach der Lust sturzt er ab und der teuflische Schmerz und die alten Angste tauchen wieder auf (Kap. 5). Im schlafenden Gesicht Teresina schaut er auf den Grund und sieht nichts von Liebe darin, wie er auch im eigenen Herzen nichts von Liebe findet, sondern nur ?Lebensgier und Angst, und aus […] dummer Kinderangst vor der Kalte, vor dem Alleinsein, vor dem Tode [flieht] man zueinander.“ Auch in seinem Spiegelbild sieht er ?viel Lug und Trug“: ?Es [ist] sehr alt, dies Gesicht, viel hat[-] sich in ihm gespielt, allzu viel.“ (Kap. 5). Wie in seinen Traumen vom Morder Wagner sucht er ein Messer und will sie und dann sich toten.

Auflosung

Klein kommt zur Besinnung, verlasst Teresinas Zimmer, steigt am Ufer in einen Kahn, rudert auf den See und lasst sich ins Wasser gleiten. Er stirbt mit dem Gedanken an den Zugang zum ewigen Kreislauf des Weltstroms: ?Die ganze Kunst war: sich fallen lassen“ in den Kreislauf der Welt, die immerfort geboren wird und immerfort stirbt: ?Jedes Leben [ist] ein Atemzug, von Gott ausgestoßen. Jedes Sterben [ist] ein Atemzug, von Gott eingesogen. Wer gelernt hat[-], nicht zu widerstehen, sich fallen zu lassen, der [stirbt] leicht, der [wird] leicht geboren. […] Es [gibt] kein Bleiben in Gott! Es [gibt] keine Ruhe! Es [gibt] nur das ewige, ewige, herrliche heilige Ausgeatmetwerden und Eingeatmetwerden, Gestaltung und Auflosung, Geburt und Tod, Auszug und Wiederkehr, ohne Pause, ohne Ende. […] Jeder [kann] suchen. Jeder [kann] finden.“ (Kap. 5)

Durch die klassisch dramatische Einteilung in funf Kapitel, den vorherrschenden inneren Monolog in oft freier und vor allem auch indirekter Rede , gepaart mit dem ausschließlich inneren Konflikt und der sparlichen, gerade mal typisierenden Beschreibung der Orte und Charaktere wird Hesse Mitbegrunder eines neuen Schreibstils und Erzahlmodus. Hinter der zunachst nur als einfache Kriminalgeschichte anmutenden, personalen Erzahlung verbirgt sich ein modernes ?Psychodrama“, das formale Ahnlichkeiten zu dem 1922 erschienenen Roman Ulysses von James Joyce aufweist.

Wie in seinem Roman Der Steppenwolf ordnet der Autor den Sprachfluss und -rhythmus beim Erzahlen dem Empfinden des Protagonisten unter. Klein und Wagner entwirft mit einem Antagonismus das Bild eines burgerlichen Lebens in der fruhen Moderne. Einerseits funktioniert Friedrich Klein den burgerlichen Werten entsprechend, andererseits bricht in einem Moment das unterdruckte Selbst hervor. Die burgerliche Welt, die konventionellen Normen, Werte und Ziele sind fur Klein zu einem unertraglichen Korsett geworden, in das er sich gezwangt und gedrangt fuhlt. In ebendiesem burgerlichen, fur ihn viel zu engen oder sogar ganzlich falschen Leben verstoßt Klein gegen die burgerlichen Normen und Werte. Sein extremes Einhalten dessen, was er selbst fur die Normen halt, fuhrt zwar zu einem gesicherten und bequemen gesellschaftlichen Leben, genauso jedoch zu einer wachsenden Unzufriedenheit, die in der Veruntreuung und Flucht ihren ebenso extremen Ausbruch findet. Der Versuch Kleins, das burgerliche Korsett abzuschnallen, fuhrt ihn zwar hier und da zu großen Einsichten in sein innerstes Selbst. Gleichzeitig fuhlt er sich aber hilf- und haltlos und stirbt schließlich. Er verachtet zwar die burgerliche Welt, ist aber den Zukunftsangsten und den Lasten der Vergangenheit ebenso unterworfen und schafft es nicht, sich endgultig hiervon zu befreien.

Klein kennt keine Alternativen zu seinen gesellschaftlich gepragten Interpretationsmustern und Voreingenommenheiten; die burgerliche Welt hatte ihm keine Moglichkeit gelassen, sich selbst kennen, lieben und leben zu lernen.

Mit der Figur des Lehrers Wagner greift Hesse auf einen historischen, seinerzeit aktuellen Amoklaufer zuruck, uber den die Tagespresse berichtet hatte. Wegen seiner Popularitat ist der Fall Wagner geeignet, Diskussionen uber die Verantwortung des Einzelnen sowie der Gesellschaft anzuregen sowie die Dringlichkeit und Aktualitat des Konfliktes, den Klein ausficht, deutlich werden zu lassen.

Autobiographischer Bezug

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Als Hesse im April 1919 ins Tessin kam und sich schließlich in Montagnola niederließ, hatte er gerade die schwere Entscheidung getroffen, seine Frau und seine drei Sohne zu verlassen. [2] Vorausgegangen waren die sehr anstrengende Arbeit beim Aufbau einer Zentrale fur Kriegsgefangenenfursorge in Bern, die die Trennung von seiner Familie erforderte, und die Zerreißproben des Ersten Weltkrieges sowie die Schmahungen und Verunglimpfungen als Nestbeschmutzer und vaterlandsloser Geselle. Hesse hatte sich einer aufreibenden, eineinhalbjahrigen Psychoanalyse unterzogen, als seine erste Frau Mia im Oktober 1918 in eine derart schwere Gemutskrankheit verfiel, dass ihre depressiven Ruckfalle bis 1925 in drei verschiedenen Heilanstalten uber langere Abschnitte stationar behandelt werden mussten. Der sie dann betreuende Psychoanalytiker Carl Gustav Jung kam zu dem Ergebnis, dass eine Trennung der Ehepartner in dem Sinne unausweichlich sei, als Maria die drei Sohne ubernahme und Hesse getrennt seinen schriftstellerischen Weg verfolgen wurde. Mia Hesses Verfassung erlaubte allerdings nicht, dass sie sich um die drei Sohne sorgen konnte, so dass diese bei Freunden, Pflegeeltern und in Landerziehungsheimen untergebracht werden mussten.

Hesse suchte den Irrtum und das Scheitern seiner Ehe nicht bei seiner Frau, sondern bei sich selbst. Zudem war ihm die Tragik der Trennung von seinen Sohnen bewusst. Diese Gesamtkonstellation den vier nachsten Verwandten gegenuber spiegelte Hesse in Klein und Wagner in der Weise, als in der Novelle der Beamte Klein durch seine Mordphantasien sein Gewissen auf erdruckende Weise belastet. [3]

Klein und Wagner wurde im Oktober 1919 in der von Hesse mitbegrundeten ?Zeitschrift fur neues Deutschtum“ Vivos Voco vorabgedruckt. Die Erstausgabe erschien 1920 beim S. Fischer Verlag im Erzahlband Klingsors letzter Sommer , zusammen mit der gleichnamigen Erzahlung und der Ende 1918 noch in Bern entstandenen Erzahlung Kinderseele . 1931 wurden diese drei Erzahlungen zusammen mit Siddhartha unter dem Titel Weg nach innen veroffentlicht; in den Neuausgaben 1973 und 1983 erganzt durch die Tessiner Aufzeichnungen Wanderung und acht Aquarelle Hesses. Einzeln erschien die Novelle erstmals 1958 in der Reihe Bibliothek Suhrkamp , 1973 schließlich als Suhrkamp Taschenbuch, 2014 dessen 21. Auflage.

  • Klingsors letzter Sommer . Erzahlungen. Fischer, Berlin 1920.
  • Weg nach innen . Vier Erzahlungen. Fischer, Berlin 1931; Suhrkamp, Frankfurt am Main 1983, ISBN 3-518-04480-X .
  • Klein und Wagner . Erzahlung. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1958 (Bibliothek Suhrkamp, Band 43).
  • Klein und Wagner . Novelle. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1973, ISBN 3-518-36616-5 (st 116).

Einzelnachweise

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  1. im Fruhling/Sommer 1919 geschrieben und im Oktober 1919 in der von Hesse mitbegrundeten ?Zeitschrift fur neues Deutschtum. Vivos Voco“ vorabgedruckt. Die Erstausgabe erschien 1920 beim S. Fischer Verlag im Erzahlband Klingsors letzter Sommer zusammen mit der gleichnamigen Erzahlung und der Ende 1918 noch in Bern entstandenen Erzahlung ?Kinderseele“.
  2. Hermann Hesse. Die Reise in den Suden. Film von Werner Weick. 3sat: https://www.youtube.com/watch?v=xy1WBeKrrsk
  3. vgl. Volker Michels : ?Meine noble Ruine“  ?  Hermann Hesse in der Casa Camuzzi . In: Die vielen Gesichter Hermann Hesses , Eggingen 1996, ISBN 3-86142-078-3 , S. 76 und 78f.