Jugendgerichtsgesetz (Deutschland)

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Basisdaten
Titel: Jugendgerichtsgesetz
Abkurzung: JGG
Art: Bundesgesetz
Geltungsbereich: Bundesrepublik Deutschland
Rechtsmaterie: Rechtspflege , Jugendstrafrecht
Fundstellennachweis : 451-1
Ursprungliche Fassung vom: 16. Februar 1923
( RGBl. I S. 135)
Inkrafttreten am: uberw. 1. Juli 1923, Erhohung des Strafmundigkeitsalters von 12 auf 14 Jahre bereits am 27. Februar 1923 (§ 43)
Neubekanntmachung vom: 11. Dezember 1974
( BGBl. I S. 3427 )
Letzte Neufassung vom: 4. August 1953
( BGBl. I S. 751 )
Inkrafttreten der
Neufassung am:
1. Oktober 1953
Letzte Anderung durch: Art. 21 G vom 25. Juni 2021
( BGBl. I S. 2099, 2112 )
Inkrafttreten der
letzten Anderung:
1. Juli 2021
(Art. 28 G vom 25. Juni 2021)
GESTA : C202
Bitte den Hinweis zur geltenden Gesetzesfassung beachten.

Das Jugendgerichtsgesetz (JGG) regelt mehrheitlich das formelle Jugendstrafrecht in der Bundesrepublik Deutschland . Sein Kerngedanke ist ?Erziehung vor Strafe“. Es ist lex specialis zum materiellen und formellen Strafrecht ? wo keine besonderen Regeln des JGG greifen, sind das Strafgesetzbuch oder die Strafprozessordnung anwendbar.

Nach dem Reichsstrafgesetzbuch von 1871 (RStGB) [1] trat die Strafmundigkeit mit dem vollendeten 12. Lebensjahr ein (§ 55 RStGB). Ein Angeschuldigter, welcher zwar strafmundig war, aber nicht das 18. Lebensjahr vollendet hatte, wurde gem. § 56 Abs. 1 RStGB freigesprochen, wenn er bei Begehung der Tat ?die zur Erkenntniß ihrer Strafbarkeit erforderliche Einsicht nicht besaß“. Er konnte aber seiner Familie uberwiesen oder bis zur Vollendung des 20. Lebensjahres in eine Erziehungs- oder Besserungsanstalt eingewiesen werden. Diese Regelung bestand auch schon im Strafgesetzbuch fur den Norddeutschen Bund vom 31. Mai 1870. Fur strafmundige und einsichtsfahige Angeschuldigte vor Vollendung des 18. Lebensjahres waren die fur Erwachsene geltenden Strafrahmen herabzusetzen (§ 57 RStGB).

Die Volljahrigkeit trat nach dem Reichsgesetz vom 17. Februar 1875 mit Vollendung des 21. Lebensjahres ein. Fur 18- bis 20-Jahrige wurde aber bis 1953 (vgl. unten) stets das Erwachsenenstrafrecht angewandt.

Weimarer Republik

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Das erste, von Gustav Radbruch entworfene Jugendgerichtsgesetz wurde am 16. Februar 1923 erlassen. [2] [3] Es trug bereits die Grundzuge des heutigen Jugendgerichtsgesetzes und verwirklichte Ideen des Strafrechtlers Franz von Liszt . Die Strafmundigkeit wurde auf 14 Jahre heraufgesetzt und spezielle Jugendgerichte geschaffen. Es definierte außerdem erstmals den Begriff des Jugendlichen als eine Person, die uber 14 Jahre, aber noch nicht 18 Jahre alt ist (§ 1 JGG). Ein Jugendlicher wurde nicht bestraft, ?wenn er zur Zeit der Tat nach seiner geistigen und sittlichen Entwicklung unfahig war, das Ungesetzliche der Tat einzusehen oder seinen Willen dieser Einsicht gemaß zu bestimmen“ (§ 3 JGG). Bei einsichtsfahigen Jugendlichen hatte das Gericht zu prufen, ob Erziehungsmaßregeln erforderlich sind. Hielt es sie fur ausreichend, war von Strafe abzusehen (§§ 5, 6 JGG). Die Anordnung und Auswahl von Erziehungsmaßregeln konnte das Strafgericht auch dem Vormundschaftsgericht uberlassen. Eine Strafe war gegenuber dem Erwachsenenstrafrecht gegebenenfalls zu mildern (§ 9 JGG), die Vollstreckung einer Freiheitsstrafe konnte ausgesetzt werden, um sich wahrend einer Probezeit von zwei bis funf Jahren durch gute Fuhrung Straferlass zu verdienen (§§ 10, 12 JGG). Bei Vollzug einer Freiheitsstrafe sollten Jugendliche von Erwachsenen getrennt gehalten und ihre Erziehung gefordert werden (§ 16 JGG).

Parallel wurde 1922 das erste Reichsgesetz fur Jugendwohlfahrt beschlossen, nach dem jedes deutsche Kind ?ein Recht auf Erziehung zur leiblichen, seelischen und gesellschaftlichen Tuchtigkeit“ besaß. Erziehungsbedurftige Jugendliche, die nicht strafbar geworden waren, fielen in die Zustandigkeit der Jugendwohlfahrtsbehorden ( Jugendamt , Landesjugendamt und Reichsjugendamt), wobei die Umsetzung in den Wirren der Weimarer Republik anfangs sehr zogerlich verlief.

Nationalsozialismus

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Mit der ersten Verordnung zum Schutz gegen jugendliche Schwerverbrecher vom 4. Oktober 1939 wurden Jugendliche ab dem vollendeten 16. Lebensjahr den Erwachsenen gleichgestellt, wenn sie nach ihrer ?geistigen und sittlichen Entwicklung einer uber achtzehn Jahre alten Person gleichzuachten“ waren und die ?bei der Tat gezeigte, besonders verwerfliche verbrecherische Gesinnung oder der Schutz des Volkes eine solche Bestrafung erforderlich“ machte (§ 1 Abs. 2). Eine Aufweichung des Erziehungsgedankens wurde mit dem Reichsjugendgerichtsgesetz und der eingearbeiteten Jugendstrafrechtsverordnung vom 6. November 1943 [4] vorgenommen. Unter den oben genannten Voraussetzungen wurde ab dem vollendeten 14. Lebensjahr das Erwachsenenstrafrecht angewandt, ebenso wenn ?der Jugendliche zur Zeit der Tat nach seiner sittlichen und geistigen Entwicklung zwar einem Erwachsenen nicht gleichgestellt werden kann, aber die Gesamtwurdigung seiner Personlichkeit und seiner Tat ergibt, daß er ein charakterlich abartiger Schwerverbrecher ist und der Schutz des Volkes diese Behandlung erfordert“ (§ 20). Die Strafmundigkeitsgrenze blieb zwar grundsatzlich bei 14 Jahren, wurde aber praktisch auf 12 Jahre herabgesetzt ?wenn der Schutz des Volkes oder die verwerfliche verbrecherische Gesinnung des Taters eine strafrechtliche Ahndung fordert.“ Allerdings konnte auf noch nicht 14-Jahrige nicht das Erwachsenenstrafrecht angewandt werden. Das sittliche Urteilsvermogen sowie die entsprechende Willenskraft wird erstmals positiv formuliert (1923 nur negativ ? ausschließend). Die Relativierung stellt nun auf die Einsicht des ?Unrechts der Tat“ ab (1923: ?Ungesetzliches der Tat“).

Das Jugendgerichtsgesetz der Deutschen Demokratischen Republik vom 23. Mai 1952, in Kraft getreten am 1. Juni 1952 verfolgte das Ziel, "die jungen Menschen zu selbstandigen und verantwortungsbewußten Burgern des demokratischen Staates, die ihre Heimat lieben und fur den Frieden kampfen, zu erziehen" sowie den Schutz der "antifaschistisch-demokratischen Ordnung". Entsprechend betont das Gesetz, dass gegenuber Jugendlichen besondere Milde walten musse: "Dabei ist den Erziehungsmaßnahmen der Vorzug vor der Strafe einzuraumen und eine Strafe nur zu verhangen, wenn der Zweck des Gesetzes nicht anders zu erreichen ist." Die Strafmundigkeit wurde auf 14 Jahre angehoben. Kinder unter 14 Jahren waren in der DDR seitdem strafrechtlich nicht verantwortlich. Jugendlicher im Sinne des Gesetzes war, wer uber vierzehn, aber noch nicht achtzehn Jahre alt war. [5] Allerdings wurden Jugendliche bei vollendeten und versuchtem Mord, Vergewaltigung, Sabotage und bestimmten politischen Verbrechen sowie der wiederholten Begehung schwerer Verbrechen nach Erwachsenenstrafrecht bestraft, wobei aber nicht die Todesstrafe gegen Jugendliche verhangt werden durfte (§ 24). Zum 1. Juli 1968 wurde das Jugendgerichtsgesetz durch die besonderen Bestimmungen fur Jugendliche im damals neu eingefuhrten Strafgesetzbuch (DDR) (§§ 65 bis 79) ersetzt. Bis 1977 konnte auch gegen Jugendliche lebenslange Freiheitsstrafe verhangt werden, danach betrug die Hochststrafe 15 Jahre.

Am 4. August 1953 wurde auch in der Bundesrepublik Deutschland ein neues Jugendgerichtsgesetz verabschiedet und trat am 1. Oktober 1953 in Kraft. [6] Die Strafmundigkeit wurde auf 14 Jahre angehoben (§ 1 Abs. 3 JGG). Der personliche Anwendungsbereich unterschied zwischen Jugendlichen und Heranwachsenden . Jugendlicher war danach, wer zur Zeit der Tat 14, aber noch nicht 18, Heranwachsender , wer zur Zeit der Tat 18, aber noch nicht 21 Jahre alt war (§ 1 Abs. 2 JGG). Ein Jugendlicher war strafrechtlich nur dann verantwortlich, ?wenn er zur Zeit der Tat nach seiner sittlichen und geistigen Entwicklung reif genug war, das Unrecht der Tat einzusehen und nach dieser Einsicht zu handeln“ (§ 3 Satz 1 JGG). War ein Jugendlicher mangels Reife strafrechtlich nicht verantwortlich, konnte der Strafrichter dieselben Maßnahmen anordnen wie der Vormundschaftsrichter (§ 3 Satz 2 JGG). Auf die 18- bis 20-Jahrigen Heranwachsenden waren, obwohl nach damaligem Recht noch nicht volljahrig, die fur Jugendliche geltenden Vorschriften (nur) bei einer Reifeverzogerung oder wenn die Tat nach Art, Umstanden oder Beweggrunden eine Jugendverfehlung war, anzuwenden (§ 105 JGG); zuvor unterlagen sie stets dem Erwachsenenstrafrecht.

Mit Wirkung zum 1. Januar 1975 wurde in Deutschland das Alter der Volljahrigkeit von der Vollendung des 21. auf die Vollendung des 18. Lebensjahres herabgesetzt. [7] Das JGG hat jedoch an der Anwendung von Jugendstrafrecht auf die danach volljahrigen Heranwachsenden festgehalten, ?wenn die Gesamtwurdigung der Personlichkeit des Taters bei Berucksichtigung auch der Umweltbedingungen ergibt, dass er zur Zeit der Tat nach seiner sittlichen und geistigen Entwicklung noch einem Jugendlichen gleichstand oder es sich nach der Art, den Umstanden oder den Beweggrunden der Tat um eine Jugendverfehlung handelt“ ( § 1 , § 105 JGG).

Seit der deutschen Wiedervereinigung gilt das Jugendgerichtsgesetz auch in den neuen Bundeslandern .

Anwendungsbereich

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Das Jugendgerichtsgesetz ist auf alle strafmundigen ( § 19 StGB : mindestens 14 Jahre alten) Jugendlichen anwendbar. Heranwachsende (18- bis unter 21-Jahrige) werden nach § 105 JGG nach Jugendstrafrecht bestraft, wenn sie zur Zeit der Tat in ihrer sittlichen und geistigen Entwicklung noch einem Jugendlichen gleichstanden oder es sich nach der Art, den Umstanden oder Beweggrunden der Tat um eine Jugendverfehlung handelt. Nach dem Jugendgerichtsgesetz ist die Anwendung des Jugendstrafrechts auf Heranwachsende dabei nicht die Regel, sondern es ist von Fall zu Fall durch eine Wurdigung der Personlichkeit und der Tat durch das Gericht zu entscheiden, ob im konkreten Fall Erwachsenenstrafrecht oder das Jugendgerichtsgesetz Anwendung findet. [8]

Eine wichtige Rolle im Strafverfahren gegen Jugendliche und Heranwachsende spielt die Jugendgerichtshilfe , die das Verfahren vom Beginn bis zum Ende begleitet, in der Hauptverhandlung anregt, ob bei Heranwachsenden noch das Jugendstrafrecht, oder schon das allgemeine Strafrecht angewendet werden sollte, und auch Vorschlage zu den zu ergreifenden Maßnahmen macht.

Die Regelungen des JGG setzen auf einen Vorrang der Erziehung vor der Verhangung von Strafe. Gleichwohl haben die meisten Maßnahmen, die auf Grund des JGG verhangt werden konnen, Sanktionscharakter. Anders als beim allgemeinen Strafrecht steht einem Jugendgericht ein breiterer Sanktionskatalog zur Verfugung, um eine optimale Reaktion auf Jugenddelinquenz zu finden. Seit 2008 ist die nachtragliche Sicherungsverwahrung bei Jugendlichen moglich, seit 2011 jedoch nur dann, wenn sich das Gericht diese Moglichkeit im Urteil vorbehalten hat ( § 7 , § 81a und § 106 JGG).

Weitere Besonderheiten gegenuber dem allgemeinen Strafverfahren sind die Vorbewahrung ( § 61 JGG) und das Wahlrechtsmittel ( § 55 Abs. 2 JGG). [9]

Neben den Einstellungsmoglichkeiten der Strafprozessordnung gibt es in § 45 , § 47 JGG weitere Moglichkeiten der Verfahrensbeendigung ohne Gerichtsurteil, wenn die erzieherische Einwirkung im Rahmen einer Verfahrenseinstellung sichergestellt ist.

Der sachliche Regelungsbereich ist das formelle Strafrecht. Straftatbestande finden sich nicht im JGG, sie sind durch das StGB und das Nebenstrafrecht geregelt. Materiell-rechtliche Regelungen beschranken sich auf die Rechtsfolgenseite.

Das Jugendgerichtsgesetz ist wie folgt gegliedert:

  1. Anwendungsbereich: Enthalt die Definitionen des Begriffes Jugendlicher und Heranwachsender sowie den Subsidiaritatsgrundsatz des ubrigen Rechts.
  2. Jugendliche
    1. Verfehlungen Jugendlicher und ihre Folgen: In diesem Abschnitt werden materiell-rechtlich auch die besonderen Rechtsfolgen des Jugendstrafrechts geschildert: Erziehungsmaßregeln , Zuchtmittel und die Jugendstrafe .
    2. Jugendgerichtsverfassung und Jugendstrafverfahren: Diese Vorschriften treten an die Stelle der Strafprozessordnung. Die Jugendgerichtsverfassung ist insofern von der ublichen Gerichtsverfassung zu unterscheiden, als dass man vom Jugendstaatsanwalt (statt Staatsanwalt ), vom Jugendgericht, Jugendrichter, Jugendschoffengericht und Jugendkammer spricht. Die Zuordnung zum Amts- oder Landgericht bestimmt sich nach den allgemeinen Regeln.
    3. Vollstreckung und Vollzug: Die Rechtsfolgen der Straftaten von Jugendlichen werden in eigenen Anstalten (Jugendstrafe, Jugendarrest ) vollstreckt. Die gesetzlichen Grundlagen entstehen derzeit auf der Landerebene, nachdem diese die Gesetzgebungskompetenz fur den Strafvollzug erhalten haben.
    4. Weitere Abschnitte beschaftigen sich mit der Beseitigung des Strafmakels und den Jugendlichen vor Gerichten in allgemeinen Strafsachen.
  3. Heranwachsende: Dieser Abschnitt erklart die vorhergehenden Vorschriften fur anwendbar, sofern die Voraussetzungen des § 105 JGG vorliegen.
  4. Sondervorschriften fur Soldaten der Bundeswehr: Fur die Jugendlichen und Heranwachsenden bei der Bundeswehr, die ublicherweise nach dem Wehrstrafgesetz abgeurteilt und verurteilt, sind Sondervorschriften erlassen worden.
  5. Schluss- und Ubergangsvorschriften: Diese Vorschriften ermoglichen die Bestellung eines Bewahrungshelfers und die Ermachtigungsvorschrift fur Verordnungen zum Vollzug.

Einzelnachweise

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  1. Reichsstrafgesetzbuch (RStGB)
  2. RGBl. I S. 135
  3. Thomas Morawetz: 16. Februar 1923: Eigenes Jugendstrafrecht in Deutschland Bayerischer Rundfunk , 16. Februar 2012
  4. RGBl. I S. 635, 637.
  5. Jugendgerichtsgesetz der DDR vom 23. Mai 1952: Das JGG der DDR ( Memento vom 6. Mai 2016 im Internet Archive ).
  6. BGBl. I S. 751
  7. Art. 1 des Gesetzes zur Neuregelung des Volljahrigkeitsalters, BGBl. I S. 1713
  8. BGH Urteil vom 6. Dezember 1988, Az. 1 StR 620/88, Volltext ( Memento vom 3. Dezember 2013 im Internet Archive ) = BGHSt 36, 37 - Anwendung von Jugendstrafrecht auf Heranwachsende.
  9. Tillmann Bartsch: Die Rechtsmittel im Jugendstrafverfahren. Geltung allgemeiner Regelungen, Besonderheiten, aktuelle Fragen ( Memento vom 29. Dezember 2016 im Internet Archive ) ZJJ 2016, S. 112?119.