Als
Interactive Fiction
(oftmals
IF
abgekurzt, englisch fur
interaktive Fiktion
) bezeichnet man ein
Computerspielgenre
, in dem innerhalb einer Spielwelt Handlung und Spielumgebung als Text beschrieben werden und in dem der Spieler Einfluss auf die Handlung nehmen kann.
Da der Begriff neben einem allgemeinen Prinzip von Computerspielen nur die Darstellungsweise beschreibt, umfasst er als Oberbegriff verschiedene Genres mit unterschiedlichen Spielprinzipien. Die bekannteste und am weitesten verbreitete Art der Interactive Fiction sind
Textadventures
. Ebenfalls weit verbreitet sind
Multiple-Choice
-Adventures nach Art eines
Spielbuchs
. Eine Ableitung dieses Konzepts sind die
Japanischen Adventures
.
[1]
Diese drei Genres konnen innerhalb des Obergenres Interactive Fiction auch
Rollenspiel
-Elemente enthalten. Gemein ist allen Untergenres der Interactive Fiction, dass ihnen eine im weitesten Sinne manipulierbare Spielwelt zugrunde liegt und dass der Ablauf des Spiels an ein aktives Tun des Spielers gekoppelt ist ? solange der Spieler keine Eingabe tatigt, pausiert das Spiel. Abzugrenzen ist das Genre Interactive Fiction von anderen Formen elektronischer Literatur, denen es entweder an literarischer Qualitat, an Interaktivitat oder an einer Spielwelt mangelt, wie z. B.
MUDs
,
Hyperfiction
, prozeduralen Geschichten- oder Gedichtgeneratoren und
Chatterbots
.
[2]
Im Laufe der Zeit hat der Begriff ?Interactive Fiction“ einen Bedeutungswandel erfahren. Bis in die 2000er-Jahre hinein war die Interaktion mittels naturlicher Sprache, die uber die Tastatur eingegeben und von einem
Parser
verarbeitet wurde, essenziell fur die Kategorisierung eines Spiels als Interactive Fiction.
[3]
In den 2000er-Jahren kamen Autorensysteme fur Spielbucher wie
Twine
,
ChoiceScript
oder
Ren’Py
auf, die es Autoren mit literarischem Hintergrund, aber ohne Programmierkenntnisse erlaubten, niveauvolle und komplexe Spielbucher zu erstellen. Diese wurden fortan ebenfalls unter das Genre Interactive Fiction subsumiert.
Die Interaktivitat besteht in klassischen Textadventures aus Ratseln, die vom Spieler gelost werden. Ein Ratsel ist hierbei eine Situation, in der fur den Fortgang der Spielhandlung ein Eingreifen des Spielers in die Spielwelt notwendig ist. Beispielsweise kann eine Tur durch ein Schloss gesichert sein; im einfachsten Fall muss der Schlussel fur die Tur in der Spielwelt gefunden werden, in komplexeren Ratseln muss er seinem Besitzer durch einen Trick entwendet oder der Zugang mit alternativen Mitteln bewirkt werden. In Spielbuchern bedeutet ?Ratsel“, dass in einer Situation zwischen zwei oder mehr Optionen abgewogen werden muss, welche Option den Spieler seinem individuellen Spielziel naher bringt. In beiden Fallen stellt das Ratsel in literarischer Hinsicht eine Zasur dar, die die Narrative kontrolliert und den weiteren Text erst nach einem aktiven Tun des Spielers freigibt.
[4]
Eine derartige Verwendung von Ratseln ist ein altbekanntes Stilmittel; Nick Montfort, Professor fur
Digitale Medien
am
MIT
, weist sie fur die
Bibel
nach und nennt sie ?Flaschenhals der Narrative“.
[5]
Da Textadventures narrativ oft linear gestaltet sind, also keine unterschiedlichen, optionalen Handlungsstrange bieten, haben sie nur einen geringen
Wiederspielwert
.
Der Begriff ?Interactive Fiction“ wurde 1979 vom US-amerikanischen Programmierer und Spieleentwickler Robert Lafore gepragt, der seine fur
Scott Adams'
Firma
Adventure International
entwickelten Textadventures so bezeichnete.
[6]
Im selben Jahr pragte das US-amerikanische
SoftSide
-Magazin den alternativen Begriff ?Compunovel“, der sich aber nicht durchsetzte.
[7]
Eine breite Verwendung erfuhr der Begriff ab 1984, als der US-amerikanische Spieleproduzent
Infocom
begann, seine popularen Textadventures als ?Interactive Fiction“ zu bezeichnen, um sich von qualitativ weniger weit entwickelten Konkurrenzprodukten abzugrenzen. Montfort hebt hervor, dass das mannlich gepragte akademische Umfeld der fruhen Autoren dazu gefuhrt habe, dass die Werke aus einer mannlichen Perspektive heraus geschrieben wurden.
[8]
Ende der 1980er-Jahre wurde Interactive Fiction im kommerziellen Bereich von grafischen Adventures wie
Maniac Mansion
abgelost. Daraufhin grundeten Benutzer des
ARPANET
Newsgroups, in denen zunachst die vorhandenen Spiele fur die Nachwelt gesichert wurden. Dabei wurde per
Reverse Engineering
der Quellcode der zMachine, des Interpreters von Infocom, geknackt und ein ahnlicher Interpreter geschrieben, der als
Public Domain
freigegeben wurde. 1987 erschien das Sharewareprogramm
TADS
, mit dem eigene Textadventures hergestellt werden konnten und das in der dritten Version 1990 die Funktionsbreite der zMachine erreicht. 1993 wurde die Programmierumgebung
Inform
veroffentlicht, die als
Freeware
die Erstellung eigener Textadventures erlaubte. Die beiden Programme wurden unter den Anhangern der
Interactive Fiction
so popular, dass seit 1995 ein jahrlicher Wettbewerb namens
IF Comp
stattfindet, bei dem die beste interaktive Geschichte ausgezeichnet wird. Die Textprogramme erlebten daraufhin ohne kommerzielle Zwange eine zweite Hochzeit. Neben Textadventures waren auch ungewohnliche Erzahlweisen von Geschichten bedeutend.
Da ein einmal programmierter Parser ahnlich einer
Game-Engine
fur weitere Spiele wiederverwertet werden kann, entstanden fruh Autorensysteme, die dem Autor eines Spiels einen großen Teil der Programmierarbeit abnahmen, so dass er sich auf das Spieldesign und die Texte konzentrieren konnte. Die ersten Systeme wurden von Firmen entwickelt und ausschließlich intern genutzt. Firmen wie Infocom oder
Telarium
konnten so ihre Spiele teilweise von Autoren ohne Programmierkenntnisse schreiben lassen und stellten Programmierer lediglich zur Unterstutzung ab. 1983 erschien mit
The Quill
erstmals ein jedermann zugangliches Autorensystem, das uber ein Menusystem die Eingabe von Texten fur die Beschreibung der Spielwelt und die Definition der Beziehungen zwischen den Objekten in der Spielwelt erlaubte. Das fertige Spiel konnte unabhangig vom Autorensystem genutzt werden, so dass auch kommerzielle Spiele mit
The Quill
erstellt wurden. Weitere, ahnliche Autorensysteme folgten.
1987 erschien mit dem
Adventure Game Toolkit
erstmals die Kombination aus
Programmiersprache
,
Compiler
und
Interpreter
, die in der Folge uber gut Jahrzehnte die Interactive-Fiction-Landschaft pragte. Mit Hilfe der Programmiersprache definiert der Autor Raumlichkeiten und Objekte der Spielwelt und ihre Beziehungen zueinander, der Compiler ubersetzt das Programm in ein maschinenlesbares Format und der Interpreter lasst das Spiel auf unterschiedlichen Systemen ablaufen.
Ab 2004 erschienen Autorensysteme fur Spielbucher. Diese sind in der Regel Entwicklungsumgebungen, die keine oder wenige Programmierkenntnisse voraussetzen und sich auf die strukturierte Abfolge von Text und
Hypertext
konzentrieren.
In einer
Black Mirror
-Episode namens
Black Mirror: Bandersnatch
, die im Dezember 2018 auf
Netflix
veroffentlicht wurde, wird die Entwicklung einer interaktiven Geschichte thematisiert. Zudem handelt es sich um einen interaktiven Film, bei dem der Zuschauer den Verlauf der Filmhandlung durch Eingaben auf seiner Fernbedienung wie in einer interaktiven Geschichte mitbestimmt.
In der IF-Szene existieren mehrere jahrlich stattfindende Wettbewerbe, in denen Autoren ihre Werke von einer Jury bewerten lassen, und Auszeichnungen, die jahrlich von Interessengruppen oder Publikationen vergeben werden. Zu den bekanntesten zahlen:
- Die
XYZZY Awards
werden seit 1996 in mehreren Kategorien vergeben. Ausrichter ist das Magazin XYZZY News, die Wahl erfolgt durch die IF-Community.
- Die
Interactive Fiction Competition
ist ein seit 1995 jahrlich stattfindender Wettbewerb, bei dem Autoren bis dato unveroffentlichte Werke einreichen, aus denen die IF-Community einen Sieger wahlt. Ausrichter des Wettbewerbs sind verschiedene IF-Autoren.
- Kevin Jackson-Mead & J. Robinson Wheeler:
IF Theory Reader
. 2. Auflage. Transcript On Press, Boston 2011.
- Jimmy Maher:
Let's Tell a Story Together. A History of Interactive Fiction
. Senior Honor's Thesis, University of Texas, Dallas 2006
- Nick Montfort:
Twisty Little Passages - An Approach to Interactive Fiction
. The MIT Press, Cambridge, Massachusetts 2003,
ISBN 0-262-13436-5
.
- Graham Nelson:
Inform Designer´s Manual
. Dan Sanderson, 4. Ed. 2001, Hardcover:
ISBN 0-9713119-3-5
, Paperback:
ISBN 0-9713119-0-0
(§ 46:
A brief history of interactive fiction
Online-Ausgabe
)
- Interactive Fiction
. In:
Retro
#7, Fruhling 2008, S. 42?47.
ISSN
1862-2348
- ↑
Marie-Laure Ryan, Narrative and Digitality: Learning to Think With the Medium, in:
A Companion to Narrative Theory
, edited by
James Phelan
and
Peter J. Rabinowitz
, Blackwell Publishing, Malden/Massachusetts and Oxford 2005, paperback edition 2008,
ISBN 978-1-4051-1476-9
Inhaltsverzeichnis
, pp. 515?528.
- ↑
Montfort, S. VII
- ↑
Montfort, S. VIII
- ↑
Montfort, S. 3
- ↑
Montfort, S. 39
- ↑
Filfre.net:
Seastalker.
Abgerufen am 20. August 2017
.
- ↑
Filfre.net:
Two Adventuring Cultures.
Abgerufen am 31. August 2023
.
- ↑
Montfort, S. 101