Industriestaat
(
englisch
industrialized state
; oder
Industrieland
, veraltet auch Staaten der
Ersten Welt
) ist ein
Staat
, dessen
Wirtschaftsstruktur
durch
Technologie
und
Industrie
beherrscht wird und die
Industrieproduktion
einen hohen Anteil am gesamten
Bruttoinlandsprodukt
(BIP) oder
Produktionswert
in einer
Volkswirtschaft
aufweist. Pendant ist der
Agrarstaat
.
Die klassischen Industriestaaten der westlichen Welt entwickelten sich in den letzten Jahrzehnten vermehrt zu
Dienstleistungsgesellschaften
und bekamen mehr und mehr Konkurrenz durch sogenannte
Schwellenlander
.
Der Industriestaat ist ein
Erkenntnisobjekt
der
Wirtschaftsgeographie
. Der Begriff wird haufig als Abgrenzung zu
Entwicklungs-
und
Schwellenlandern
verwendet. Der Unterscheidung zwischen Industrie- und Agrarstaaten liegt der jeweils dominante
Wirtschaftssektor
(
Industrieproduktion
oder
Agrarproduktion
) oder der Anteil der
Erwerbstatigen
in jenen Sektoren
[1]
an den gesamten Erwerbstatigen zugrunde (
Industriegesellschaft
). Typische Industriestaaten sind die
USA
oder
Deutschland
, typische Agrarstaaten liegen in
Afrika
oder
Asien
. Industriestaaten konnen
Flachenstaaten
sein wie
Frankreich
, aber auch
Zwergstaaten
wie
Singapur
. Bei dieser Betrachtung darf jedoch nicht ubersehen werden, dass fast jeder Industriestaat Gebiete in Form eines Flachenstaats enthalt, die selbst entwicklungsbedurftig sind. So verfugen die USA oder
Russland
uber großflachige Regionen, die als Entwicklungslander bezeichnet werden mussten.
[2]
Das schmalert jedoch nicht ihre Rolle als Industriestaat, weil hierbei die Gesamtbetrachtung maßgebend ist.
Die Bezeichnung ?Industriestaat“ wird der heutigen Bedeutung nicht mehr gerecht, weil die Einteilung der Staaten vorwiegend nicht mehr nach dem Grad ihrer
Industrialisierung
erfolgt, sondern uberwiegend auf der Basis des Bruttoinlandsprodukts. Staaten mit einem starken
Dienstleistungssektor
nehmen dabei in der Rangfolge die vorderen Platze ein, konnen jedoch faktisch Industriestaaten sein. In Veroffentlichungen werden deshalb Begriffe verwendet, wie ?
OECD
-Staaten und ubrige marktwirtschaftlich organisierte Industriestaaten“, ?Staaten der Ersten Welt“ oder ?fortschrittliche Staaten“ (
englisch
advanced economies
). Der Begriff
Erste Welt
wurde zur Zeit des
Kalten Krieges
fur die hochindustrialisierten marktwirtschaftlichen Lander gepragt, wahrend die
planwirtschaftlich
organisierten Staaten ? durchaus auch Industriestaaten ? als
Zweite Welt
bezeichnet wurden. Mit dem Ende des Ost-West-Konflikts hat diese Einteilung an Bedeutung verloren. Dagegen ist die Bezeichnung
Dritte Welt
gebrauchlich geblieben.
Industriestaaten konnen eingeteilt werden in Industriestaaten ersten Grades (
bevolkerungsreiche
Staaten), zweiten Grades (bevolkerungsarme),
Montanwirtschaftsstaaten
und Agrar-Industriestaaten.
[3]
Wahrend in Montanwirtschaftsstaaten der
Bergbau
dominiert, sind
Landwirtschaft
und
Industrie
in Agrar-Industriestaaten ahnlich stark vertreten. Streng genommen sind Montanwirtschaftsstaaten keine Industriestaaten, weil der Bergbau nicht zur Industrie gehort, sondern Teil der
Urproduktion
darstellt.
Statistisch gilt als Industriestaat, wenn der Anteil der Industrieproduktion am BIP hoher ist als der Anteil der Agrarproduktion. Dabei ist es unerheblich, ob der hochste Anteil im Dienstleistungssektor zu finden ist, dann konnte genauer vom ?Dienstleistungsstaat“ (
Dienstleistungsgesellschaft
) gesprochen werden.
Bis zur
Grunderzeit
gab es weltweit ausschließlich Agrarstaaten. Mit der
Industrialisierung
begann in einzelnen Staaten auch der Wechsel vom Agrarstaat zum Industriestaat. Als erster Industriestaat weltweit gilt
England
,
[4]
dessen Aufstieg das Land der Kohle und dem Eisen zu verdanken hatte. Ab 1765 trat dort ein Umschwung ein, der sich durch sinkende Getreideexporte ankundigte, die auch auf das Wachstum der Industrie und des Gewerbes zuruckzufuhren waren.
[5]
England legte die Weichen fur einen burgerlichen Industriestaat, den
Arnold Toynbee
1882 als
industrielle Revolution
(
englisch
industrial revolution
) bezeichnete.
[6]
Nach dem Ende des
Wiener Kongresses
im Juni 1815 setzte in Deutschland der Prozess der
Fruhindustrialisierung
ein. Hauptursachen waren unter anderem die Grundung der ?Preußisch-Rheinischen Dampfschifffahrtsgesellschaft“ (Vorlauferin der
Koln-Dusseldorfer Deutsche Rheinschiffahrt
) im Oktober 1825,
[7]
im Juni 1837 folgte die
Rheinische Eisenbahn-Gesellschaft
, im Oktober 1843 die
Koln-Mindener Eisenbahn-Gesellschaft
. Hiervon profitierten der
Schiff-
und
Eisenbahnbau
. An der Spitze des Eisenbahnbaus stand die
Firma Borsig
, die 1841 ihre erste und 1858 bereits die tausendste
Lokomotive
herstellte und mit 1100 Beschaftigten zur drittgroßten Lokomotivfabrik der Welt aufstieg. Die industrielle Revolution setzte in den
USA
vergleichsweise spat ein, seit 1850 zugig
[8]
und nach dem
Sezessionskrieg
ab 1865 deutlich erkennbar.
Die
Deutsche Revolution 1848/1849
markierte inzwischen den Ubergang von der Fruhindustrialisierung zur
zweiten industriellen Revolution
.
Johann von Zimmermann
grundete im Jahr 1848 in Chemnitz die erste
Werkzeugmaschinenfabrik
Deutschlands. Wichtigster Industriezweig blieb jedoch 1850 in Deutschland mit 45,5 % der Beschaftigten immer noch die
Textilindustrie
, deren Anteil 1859 nur noch 15,2 % betrug. Demgegenuber wuchs die
Metallindustrie
von 10,8 % (1850) auf 33,4 % (1859).
[9]
Einen zweiten Schub bekam die Textilindustrie ab etwa 1860 durch die
Mechanisierung
der Baumwollweberei.
[10]
Ab 1870 setzte in Deutschland die
Hochindustrialisierung
ein, wobei sich endgultig der Wandel zum Industriestaat vollzog. Bis um das Jahr 1880 stand England als Industriestaat ohne Konkurrenz da und war allen anderen Staaten weit voraus. Erstmals im Jahre 1895 gab es in Deutschland in Industrie und Handwerk mit 38,5 % aller Erwerbstatigen mehr Erwerbstatige als in der Landwirtschaft (35,0 %) ? der Wandel zum Industriestaat war aus Sicht der Volkswirtschaftslehre vollzogen. Der
Nationalokonom
Karl Oldenberg
sah in einem Vortrag im Juni 1897 das Ende der deutschen Nation voraus, falls die industrielle Entwicklung sich in dem Maße wie in den letzten Jahrzehnten fortsetze.
[11]
Definitionen des Begriffs Industriestaat waren noch landwirtschaftlich gepragt;
Paul Voigt
verstand 1898 unter Industriestaat einen Staat, ?dessen landwirtschaftliche Produktion in einem so großen Missverhaltnis zu dem Bedarf der industriellen Bevolkerung steht, dass die Einfuhr von Lebensmitteln und Rohstoffen nicht mehr bloß erganzend neben die heimische Urproduktion tritt…“.
[12]
Dem schloss sich 1899
Paul Arndt
an, bei dem der Industriestaat als Staat galt, ?dessen industrielle Produktion den Bedarf seiner Bevolkerung ubersteigt, wahrend seine landwirtschaftliche Produktion hinter dem Bedarf seiner Bevolkerung zuruckbleibt“.
[13]
Reichskanzler
Graf Bernhard von Bulow
stellte in einer Rede vor dem Reichstag am 2. Dezember 1901 fest: ?Deutschland ist weder ein Industriestaat noch ein reiner Agrarstaat, sondern beides zugleich …“.
[14]
Hiermit wollte er die Einfuhrung von Agrarzollen begrunden.
Um 1900 erreichte diese Debatte auch
Osterreich
: War die
Donau-Monarchie
ein Agrar- oder ein Industriestaat? Osterreich-Ungarn fuhre mehr Nahrungsmittel ein, als es ausfuhre, daher sei die Doppelmonarchie ein Industriestaat.
[15]
Im Jahre 1920 ubertraf in
Japan
beim BIP erstmals der industrielle Sektor den landwirtschaftlichen Sektor, das Land stieg zum Industriestaat auf.
[16]
Seit etwa 1969 machte die Schweiz den Wandel von einem Industriestaat zu einem Dienstleistungsstaat durch.
[17]
Die modernen Industriestaaten entwickelten sich ab 1970 immer mehr zu Dienstleistungsgesellschaften.
[18]
Die westliche
Offentlichkeit
staunte im Oktober 1974 uber die Nachricht, dass die
DDR
in der Weltrangliste der Industrielander den zehnten Platz erobert habe; gemessen an der industriellen Produktion liege Ostdeutschland etwa zwischen
Italien
und
Kanada
.
[19]
Wie sich nach der
Wende
1990 herausstellte, entbehrte die von westlichen Medien ungepruft ubernommene
Propaganda
jeder Grundlage.
Ab 1990 begann das
Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen
(
englisch
United Nations Development Programme
, UNDP), ein differenziertes Bewertungskonzept im Hinblick auf Industrie- und Entwicklungslander zu entwerfen. Dabei sollten zunehmend auch soziale Faktoren berucksichtigt werden. Der hieraus entstandene
Index der menschlichen Entwicklung
(HDI) wird im jahrlich vom UNDP herausgegebenen
Bericht uber die menschliche Entwicklung
(
englisch
Human Development Report
, HDR) veroffentlicht.
[20]
Typisch fur einen Industriestaat ist der niedrige Anteil der Land- und Forstwirtschaft an der gesamten
Wertschopfung
.
[21]
Ein Industriestaat stellt Industrieprodukte her, die sich in
Investitionsguter
und
Konsumguter
einteilen lassen. Zu ersteren gehoren auch
Vorleistungsguter
, letztere unterteilen sich in
Gebrauchs-
und
Verbrauchsguter
. Diese Industrieprodukte dienen zunachst der
eigenen Guterbedarfsdeckung
innerhalb des Staates, bei einem
Selbstversorgungsgrad
von uber 100 % werden sie
exportiert
oder
gelagert
. Die Industrie neigt zur
Massenproduktion
, charakteristisch ist ihr hoher
Automatisierungs
-,
Mechanisierungs
- und
Technisierungsgrad
sowie die Anwendung industrieller
Technologien
. Die Industrieproduktion unterliegt nicht so starken Schwankungen wie die
witterungs
- und
saisonabhangige
Agrarproduktion. Die
Wertschopfung
ist in einem Industriestaat wesentlich hoher als in einem Agrarstaat, weil jedes Glied einer
Wertkette
im Regelfall einen hohen
Produktionswert
erzielt. So beispielsweise liefert die
Erzgewinnung
und Eisenherstellung den
Stahl
, aus welchem die
Stahlerzeugung
Karosserien
produziert, die letztlich in der
Automobilindustrie
als Vorleistungsgut benotigt werden. Das ist ? neben dem
Preis-
und
Lohnniveau
? der Grund, warum das
Pro-Kopf-Einkommen
in einem Industriestaat vergleichsweise hoher ist als in einem Agrarstaat.
Die Starke der wirtschaftlichen Leistung eines Industriestaats lasst sich durch das Bruttoinlandsprodukt (BIP) messen.
[22]
Beim BIP pro Kopf fuhrten 2018 weltweit ausschließlich Industriestaaten und Staaten, bei denen der Anteil des Dienstleistungssektors am hochsten ist (siehe
Liste der Lander nach Bruttoinlandsprodukt pro Kopf
).
- ↑
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9,3
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Nina Rosch:
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