Indischer Aufstand von 1857

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Indischer Aufstand von 1857

Karte des indischen Subkontinents

Schwarz: aufstandische Furstenstaaten.
Blau: Furstenstaaten, die loyal zu den Briten blieben, in denen es aber zu militarischen Auseinandersetzungen mit aufstandischen Truppen kam.
Hellblau: Furstenstaaten, die die britische Seite unterstutzen.
Ocker: britische Gebiete, die vom Aufstand betroffen waren.
Grun: sich neutral verhaltende Staaten.

Datum 10. Mai 1857 bis 1859
Ort Indischer Subkontinent
Casus Belli Aufstand gegen die Kolonialherrschaft der Britischen Ostindien-Kompanie
Ausgang Niederschlagung des Aufstands durch die britischen Koloniemachte
Folgen Auflosung der Ostindien-Kompanie; Britisch-Indien wird Kronkolonie
Konfliktparteien

Britische Ostindien-Kompanie Aufstandische Truppen der Ostindien-Kompanie

Indische Zivilisten

Sieben indische Furstenstaaten:

Britische Ostindien-Kompanie Truppen der Ostindien-Kompanie

Vereinigtes Konigreich 1801 Britische Armee

21 indische Furstenstaaten, die die britische Seite unterstutzten:

Befehlshaber

Unter anderen:

Commander-in-Chiefs in India :

Verluste

Mindestens 800.000 Inder sowohl bei dem Aufstand als auch in diesem folgenden Hungersnoten und Epidemien (Vergleich zwischen der Bevolkerung von 1857 und dem Indischen Census 1871)

6.000

Der Indische Aufstand von 1857 , auch Sepoyaufstand genannt, richtete sich gegen die Kolonialherrschaft der Britischen Ostindien-Kompanie uber den indischen Subkontinent . Der Aufstand war uberwiegend auf das obere Gangestal und Zentralindien beschrankt. Zentren des Aufstands waren Uttar Pradesh , Bihar , der Norden von Madhya Pradesh und die Region um Delhi .

Der Beginn des Indischen Aufstands von 1857 wird meist auf den 10. Mai 1857 datiert. An diesem Tag kam es in Merath zu einem offenen Aufstand von hinduistischen und muslimischen Soldaten gegen ihre britischen Befehlshaber. Die meuternden Truppen zogen nach Delhi ab, das sich bereits am 11. Mai in der Hand der Aufstandischen befand. In Delhi kam es wie zuvor in Merath zu Morden an Briten und Eurasiern sowie an Indern, die zum Christentum ubergetreten waren. An diesen Massakern waren nicht nur Sepoys , sondern auch Teile der indischen Zivilbevolkerung beteiligt. In den folgenden Wochen und Monaten dehnte sich der Aufstand uber Nordindien aus. Einzelne britische Garnisonen wie Lakhnau und Kanpur verteidigten sich dabei ? teils mit Hilfe loyal gebliebener Sepoys ? mehrere Wochen lang gegen eine Ubermacht aufstandischer Truppen. Die Ermordung britischer Zivilisten wurde von britischen Truppen als Rechtfertigung fur eine Kriegsfuhrung genommen, die bereits von Zeitgenossen als unangemessen grausam und ethisch zweifelhaft bewertet wurde. In der indischen Geschichtsschreibung nimmt Lakshmibai , Rani von Jhansi, eine besondere Rolle ein. Die Furstin schloss sich dem Aufstand nur zogernd an und entschied sich fur eine aktive Unterstutzung erst, als sie darin die einzige Moglichkeit sah, den Machtanspruch ihrer Familie zu sichern. Sie fiel am 17. Juni 1858 im Gefecht bei Khota-ki-Serai nahe Gwalior . Der Aufstand war im Laufe des Jahres 1858 bereits weitgehend zu Gunsten der Briten entschieden. 1859 gab es noch einzelne Auseinandersetzungen; der Indische Aufstand endete nach allgemeinem Verstandnis erst in diesem Jahr. Nach der Niederschlagung wurde die Ostindien-Kompanie durch den Government of India Act 1858 aufgelost und Britisch-Indien zu einer formellen Kronkolonie .

Als Ausloser des Aufstands gilt gemeinhin die Einfuhrung des Enfield-Gewehres , dessen Papierpatronen nach einem unter britisch-indischen Streitkraften weit verbreiteten Gerucht mit einer Mischung aus Rindertalg und Schweineschmalz behandelt waren. Da die Patronen vor dem Einsatz aufgebissen werden mussten, stellte ihre Verwendung fur glaubige Hindus wie Moslems einen Verstoß gegen ihre religiosen Vorschriften dar. Als eigentliche Ursachen gelten die von der Britischen Ostindien-Kompanie verfolgte Sozial- und Wirtschaftspolitik, durch die weite Teile der indischen Bevolkerung Landrechte, Beschaftigungsmoglichkeiten und Einfluss verloren, die im 19. Jahrhundert zunehmenden Anstrengungen, Indien zu christianisieren, sowie die Annexion indischer Furstenstaaten durch Anwendung der Doctrine of Lapse . Es besteht in der Geschichtsschreibung kein Konsens, welchem dieser Faktoren ein besonderes Gewicht zukommt. Historiker haben auch in Abhangigkeit ihres eigenen kulturellen, religiosen und politischen Standpunktes die Ursachen des Aufstands sehr unterschiedlich gewichtet. [1]

In der englischen Literatur werden die Ereignisse in Nordindien aus dem Jahre 1857 bis 1859 meistens als Indian Mutiny oder Sepoy Mutiny ( engl. mutiny ?Meuterei, Befehlsverweigerung“) bezeichnet. Der Begriff sepoy (von pers. sipahi ?Soldat“) bezieht sich im engeren Sinne nur auf indische Infanteristen, die in den Armeen der Britischen Ostindien-Kompanie Dienst taten. Im Kontext des Indischen Aufstandes wird die Bezeichnung sepoy auch fur die eigentlich als Sawaren bezeichneten indischen Kavalleristen verwendet.

Bereits Zeitgenossen des Aufstands kritisierten, dass die Bezeichnung als ?Meuterei“ das Ausmaß der Ereignisse nicht ausreichend wiedergibt, da sich schnell weite Teile der indischen Bevolkerung den meuternden Soldaten angeschlossen hatten. Die Mehrzahl der zeitgenossischen britischen Geschichtsschreiber war sich einig, dass es sich bei den Ereignissen in Indien um mehr als eine Meuterei einiger Regimenter, aber um weniger als eine nationale Revolte handelte. Der zeitgenossische britische Historiker John William Kaye gab dementsprechend seiner fur das 19. Jahrhundert maßgebenden dreibandigen Geschichte des Aufstands den Titel History of the Sepoy War in India . Die Dominanz der Bezeichnung mutiny im kollektiven Geschichtsverstandnis der Briten ist auf die damals vorherrschende politische Deutung des Aufstandes zuruckzufuhren. Ein durch die Ereignisse in seinem Selbstverstandnis erschuttertes Empire konnte den Schein einer unbescholtenen Integritat besser wahren, wenn es von einer Meuterei statt von einer nationalen Revolte sprach. [2] In der britischen Historiographie ist die Bezeichnung mutiny nach wie vor weitgehend gebrauchlich.

Die indische Geschichtsschreibung lehnt die britische Bezeichnung mutiny uberwiegend als wertend ab und betont, dass die Ereignisse den Charakter eines Volksaufstandes hatten. 1909 nannte Vinayak Damodar Savarkar ihn den ?ersten indischen Unabhangigkeitskrieg“ (?first war of Indian independence“). [3] Eine Reihe von Hindunationalisten verwenden diese Bezeichnung noch heute. Sowohl ein Teil der modernen indischen wie auch die britische Historiographie lehnen die Deutung der Ereignisse als einen Unabhangigkeitskrieg als zu weitgehend ab, da sich die Aufstande auf die nordlichen Gebiete Indiens beschrankten und die ubrigen indischen Territorien der East India Company gegenuber loyal blieben. [4]

Geschichtlicher Hintergrund und Ursachen des Aufstands

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Vorherrschaft der britischen Ostindien-Kompanien in Indien

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Im 17. Jahrhundert war das Mogulreich die beherrschende Macht auf dem indischen Subkontinent. Das Mogulreich, das keinen festgefugten Staat, sondern ein Konglomerat aus Reichsprovinzen, untergeordneten Furstenstaaten und halbautonomen Stadten und Dorfern darstellte, war zu dieser Zeit bereits im Niedergang begriffen. Im Zuge dieser Entwicklung begannen viele europaische Machte, Handelsstationen in Indien zu errichten, um den in Europa aufgekommenen Bedarf an Produkten wie Baumwolle , Chintz , Porzellan , Tee und Seide zu befriedigen. Am erfolgreichsten war dabei die Britische Ostindien-Kompanie, der es gelang, ihre europaischen Konkurrenten bis auf wenige Ausnahmen zu verdrangen. [5] 1693 unterhielt sie Handelsstationen in Madras , Bombay und Kalkutta .

Bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts war das Mogulreich in mehrere, sich zum Teil bekriegende Staaten zerfallen. Um ihren Handel in diesem politischen Umbruch zu schutzen, begann die Kompanie zunehmend, einheimische Soldaten oder ?Sepoys“ zu rekrutieren. Die Kompanie wandelte sich hierbei zunehmend von einer Handels- in eine politische Macht. In den Jahren 1773 und 1784 verabschiedete das britische Parlament Gesetze, die der Kompanie direkte Eingriffe in die inneren Angelegenheiten Indiens erlaubten. Bis 1857 hatte die Kompanie weite Teile des Subkontinents militarisch erobert oder auf unblutigem Wege annektiert. Letzteres geschah meist durch die Doctrine of Lapse , die durch Lord Dalhousie , von 1847 bis 1856 Generalgouverneur von Britisch-Indien , eingefuhrt wurde. Die Doctrine of Lapse bestimmte, dass jeder Furstenstaat, dessen Herrscher sich unfahig zeigte oder ohne Erben starb (?manifestly incompetent or died without a direct heir“), von der Kompanie zu annektieren sei. Satara (1848), Jaitpur , Sambalpur (1849), Nagpur , Jhansi (1854) und Oudh (1856) fielen so an die Kompanie. Zu Beginn des Aufstandes befanden sich so zwei Drittel des Subkontinents unter direkter britischer Herrschaft, wobei vielerorts allerdings die lokale Macht und die Regelung innerer Angelegenheiten zu großen Teilen in den Handen angestammter Adelsgeschlechter verblieben. Die Annexion von Oudh gilt als einer der Mitausloser des Aufstands von 1857. Die Britische Ostindien-Kompanie verfolgte in diesem Teil Indiens eine sehr strenge Steuerpolitik, in deren Folge sehr viele Landbesitzer große Teile ihres Besitzes verloren. [6] Mehr als 60 Prozent der indischen Sepoys stammten aus dieser indischen Provinz. [7]

Rolle des Großmoguls

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Obwohl die Mogulen ihren beherrschenden Einfluss auf dem indischen Subkontinent bereits im 18. Jahrhundert verloren hatten, galt der im Roten Fort in Delhi residierende Großmogul sowohl der indischen Bevolkerung als auch den indischen Provinzen und Staaten als nomineller Souveran. Deshalb hatte die Britische Ostindien-Kompanie sich noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts auf offiziellen Papieren und Munzen als Vasall des Großmoguls bezeichnet und den in Delhi ansassigen Vertretern der Kompanie die strikte Anweisung gegeben, dem Mogul mit dem Respekt zu begegnen, der dem obersten Herrscher von Hindustan zustand. [8] Ab den 1830er Jahren begann sich die britische Politik in diesem Punkt zu andern. Bis 1857 demonstrierten eine Reihe von Maßnahmen und Ereignissen dem Großmogul und seinem Hofstaat die zunehmende Bedeutungslosigkeit, die ihnen die Briten beimaßen. So uberreichte die Britische Ostindien-Kompanie ab 1832 das zeremonielle Geschenk (als ?nazr“ bezeichnet) nicht mehr, das die Verpflichtungen der Kompanie gegenuber dem Großmogul offentlich unterstrichen hatte. Hochrangige Vertreter der Kompanie verzichteten auf den Antrittsbesuch beim Großmogul, wenn sie in Delhi weilten.

Auf den Rupien, die die Britische Ostindien-Kompanie herausgab, wurde der Name des Großmoguls entfernt und ab 1850 war es allen britischen Untertanen untersagt, vom Großmogul verliehene Titel oder Ehrungen anzunehmen. [9] Der Einflussbereich von Bahadur Shah Zafar II. , dem letzten der Großmogule, beschrankte sich auf seinen Palast, das Rote Fort. Ohne die Erlaubnis Thomas Metcalfes , des ranghochsten Vertreters der Kompanie vor Ort, durfte ihn kein indischer Adeliger aufsuchen. [10] Metcalfe versuchte auch, die Thronfolge zu beeinflussen. Ublich war es, dass der Großmogul unter seinen Sohnen denjenigen bestimmte, der aus seiner Sicht der am meisten geeignete Nachfolger war. Metcalfe versuchte zunachst, die Primogenitur durchzusetzen, und verweigerte dem Sohn, den Bahadur Shah Zafar erwahlt hatte, die Anerkennung. Kurz vor Ausbruch des Aufstands verfolgten die Vertreter der Britischen Ostindien-Kompanie jedoch zunehmend die Strategie, durch Anwendung der Doctrine of Lapse mit dem Tod von Bahadur Shah Zafar die Herrschaftslinie erloschen zu lassen. [11] Dies hatte zur Folge, dass eine Reihe von Wurdentragern am Hof des Großmoguls bereit war, die Aufstandischen zu unterstutzen.

Die britische Ostindien-Kompanie unterhielt zu Beginn des Aufstands in ihren drei Prasidentschaften Bombay , Madras und Bengalen jeweils eine Armee . Insgesamt betrug die Kopfstarke dieser drei Armeen 246.000 Mann; lediglich 14.000 dieser Manner waren Europaer. Gleichzeitig waren in Indien verschiedene Regimenter der britischen Armee stationiert, so dass weitere 31.000 britische Soldaten auf dem indischen Halbkontinent Dienst taten. In Bengalen, einem der Zentren des Aufstands, waren zum Zeitpunkt des Ausbruchs des Aufstands insgesamt 23.000 britische und 136.000 indische Soldaten stationiert. Die britischen Soldaten absolvierten ihren Dienst jedoch uberwiegend in der Region von Punjab, die kurze Zeit zuvor militarisch erobert worden war. [12]

Britischer Offizier (5. von rechts) mit Gurkha-Soldaten, Foto von 1857

Ausgangspunkt des Aufstands waren die Infanterie -Einheiten der Armee von Bengalen. [13] Die Infanterie-Einheiten dieser Armee setzten sich ? anders als bei den Armeen von Madras und Bombay ? zum großten Teil aus Mitgliedern der hoheren Hindu - Kasten ( Brahmanen und Kshatriya ) zusammen. [14] Kavallerie und Artillerie hatten einen deutlich hoheren Muslim -Anteil. Da die Briten befurchteten, dass die Hindu-Soldaten Kastenbelange wichtiger nahmen als ihre Dienstpflicht, sah die Handelskompanie in dieser Konzentration eine Bedrohung der militarischen Disziplin. [15] Um sicherzustellen, dass sie uber moderne, schlagkraftige Truppen verfugte, die sie uberall in Asien einsetzen konnte, nahm die Britische Ostindien-Kompanie zunehmend weniger Rucksicht auf Kastenbelange und erweiterte die Rekrutierungsbasis um Gurkhas und Sikhs . Letzteres traf insbesondere bei brahmanischen Sepoys auf starke Ablehnung. [16] Im Jahr 1856 gebot der General Service Enlistment Act neuen indischen Rekruten den Dienst auch außerhalb Indiens. Mit Rucksicht auf Sepoys der hoheren Hindu-Kasten war der Dienst im Ausland bis zu diesem Zeitpunkt freiwillig, da sie nach herkommlicher Auffassung ihre Kastenzugehorigkeit verloren, wenn sie offenes Meer uberquerten. [15]

Sowohl fur Brahmanen als auch Kshatriyas war der Militardienst eine der wenigen verbliebenen Verdienstmoglichkeiten, die als ehrenhaft galten. Viele der Sepoys entstammten Familien, die ihren Lebensunterhalt nicht mehr aus dem Ertrag ihres Landbesitzes bestreiten konnten. Die verschlechterte wirtschaftliche Situation der Brahmanen und Kshatriyasa hatte der Britischen Ostindien-Kompanie die Moglichkeit gegeben, den Sold, der etwa sieben bis neun Rupien pro Monat betrug, seit der Jahrhundertwende nicht mehr anzupassen. [17] Seitdem hatten sich die Lebenshaltungskosten fast verdoppelt. Wahrend der Eroberungsfeldzuge konnten Sepoys ihr Gehalt noch durch Plunderungen aufbessern. Die militarische Eroberung war jedoch in den 1850er Jahren weitgehend abgeschlossen. [18] Gleichzeitig standen den Sepoys nur sehr wenige Aufstiegsmoglichkeiten in der Armee von Bengalen offen und diese wurden nach Senioritat und nicht nach Leistung vergeben. [19] Der Historiker Saul David weist darauf hin, dass Unzufriedenheit mit Sold und Beforderungsmoglichkeiten fur viele Armeen charakteristisch sind. Bei der Armee von Bengalen handelte es sich jedoch um eine Berufsarmee , die von Mannern befehligt wurden, die einer anderen Kultur und einer anderen Religion angehorten. Loyalitat zwischen Untergebenen und Befehlshabern besteht in solchen Armeen nur, solange die Vorteile eines loyalen Dienstes die Nachteile uberwiegen. Fur die Sepoys war dies nach Ansicht von Saul David im Jahre 1857 nicht langer gegeben. [20] Trotzdem dienten rund 30.000 Sepoys wahrend des Aufstands loyal in den britischen Streitkraften. [21]

Versuchte Christianisierung

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Bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts hatte die Britische Ostindien-Kompanie Christianisierungsversuche in ihrem indischen Einflussbereich weitgehend unterbinden konnen. Dies geschah primar, weil sich die Britische Ostindien-Kompanie bewusst war, dass eine versuchte Christianisierung in Indien ihre wirtschaftlichen Interessen beeintrachtigen konnte. [22] [23] Eine grundsatzliche Toleranz in religiosen Fragen und Offenheit gegenuber der anderen Kultur zeigten sich auch daran, dass gegen Ende des 18. und Beginn des 19. Jahrhunderts zahlreiche Briten einen von ihren indischen Nachbarn inspirierten Lebensstil und gelegentlich auch deren Glauben annahmen. Eheliche Verbindungen zwischen Briten und Indern waren verbreitet.

Die Witwenverbrennung war eines der Rituale, gegen das die Briten im Verlaufe des 19. Jahrhunderts energisch vorgingen.

In christlichen Kreisen entwickelte sich Kritik an bestimmten Auspragungen des Hinduismus (Kastenwesen, Witwenverbrennung). In insgesamt 837 Petitionen, unterzeichnet von knapp einer halben Million Briten, forderten christliche Gruppen unter Fuhrung von William Wilberforce vom britischen Parlament, die Missionierung in Indien zu ermoglichen. [24] :

?Die Einwohner der bevolkerungsreichen Regionen Indiens, die einen großen Teil des Britischen Imperiums darstellen, befinden sich in einem außerst beklagenswerten Zustand moralischer Verwerfnis und sind dem Einfluss abscheulichen und erniedrigenden Aberglaubens ausgesetzt. Sie haben einen Anspruch auf das Mitgefuhl und den mildtatigen Dienst britischer Christen.“ [25]

So lautete einer der Petitionstexte. Das britische Parlament verabschiedete 1813 einen neuen East India Act , der grundsatzlich Missionierung in Indien gestattete und erstmals einen Bischof fur Indien ernannte. Die Christianisierungskampagne in Indien begann nur langsam. 1832 befanden sich erst 58 Missionare in Indien. [26] Erst in den 1840er und 1850er Jahren kam neben den Missionaren eine zunehmende Anzahl von Briten nach Indien, die das Land nicht nur verwalten, sondern den indischen Lebensstil reformieren und die indische Bevolkerung zum christlichen Glauben bekehren wollte. Nach Ansicht der Historiker Hermann Kulke und Dietmar Rothermund war fur diese Briten neben christlichem Sendungsbewusstsein enorme Selbstgerechtigkeit und Uberheblichkeit gegenuber der indischen Kultur charakteristisch. [27] : Der als Justizminister nach Indien entsandte Lord Macaulay war uberzeugt, dass die ganze Literatur des Orients nicht so viel wert sei wie das, was ?in den Buchern stehe, die in einem einzigen Regal einer europaischen Bibliothek zu finden seien“. [27] Der in Delhi seit 1852 missionierende Reverend Midgley John Jennings predigte unter anderem wahrend des großten Hindufestes Kumbh Mela zu den am Gangesufer versammelten Hindupilgern und bezeichnete deren Glauben als ?satanisches Heidentum“. Sein ungeschickter Missionseifer loste nicht nur in der indischen Presse Kritik aus, sondern stieß auch bei vielen Europaern auf Unwillen. [28] Reverend Jennings fand jedoch sowohl unter britischen Zivilisten wie unter Militars zahlreiche Nachahmer. Der britische Bezirksrichter von Fatehpur ließ Steinsaulen errichten, auf denen die Zehn Gebote in Englisch, Urdu , Hindi und Persisch eingemeißelt waren, und nahm sich die Zeit, zwei oder drei Mal wochentlich den Einheimischen auf Hindi aus der Bibel vorzulesen. [29] Einzelne britische Offiziere nutzten ihre Befehlsgewalt und erteilten den ihnen Unterstellten in ahnlicher Weise Religionsunterricht, um sie zum christlichen Glauben zu bekehren. [30] Es gab Reformversuche gegen das Kastenwesen , und indischen Familien wurde untersagt, zum christlichen Glauben ubergetretene Angehorige von der Erbfolge auszuschließen. Die rituelle Witwenverbrennung wurde 1829 per Gesetz verboten; zu Beginn der 1850er Jahre wurde es Witwen gesetzlich erlaubt, sich wieder zu verheiraten. [31] Die britische Verwaltung machte Landschenkungen an Tempel und Moscheen ruckgangig, wenn sich dafur ein Anlass bot, obwohl eine große Anzahl der Moscheen, Koranschulen und Sufischreine auf die Pachtzahlungen aus diesen Landschenkungen angewiesen waren, um sich zu finanzieren. Allein in Delhi enteigneten die Briten insgesamt neun Moscheen. [32] Einen besonderen Affront fur glaubige Inder stellten die Einzelfalle dar, in denen Tempel oder Moscheen zerstort wurden, weil sie Straßenprojekten im Wege standen, enteignetes Land Missionaren ubergeben wurde, damit sie dort Kirchen errichten konnten, oder christlichen Gruppen konfiszierte Moscheen ubergeben wurden, um sie in Kirchen umzuwandeln. [32]

Der Reformeifer der Briten storte das labile Gleichgewicht zwischen Oberherrschaft und Nichteinmischung empfindlich und schuf ein Umfeld, in dem Indern zunehmend Geruchte glaubwurdig erscheinen mussten, dass Briten auf eine vollstandige Christianisierung des indischen Halbkontinents abzielten. Auch das Gerucht, dass die Papierpatronen des neuen Enfield-Gewehr gezielt mit Rindertalg impragniert waren, damit Soldaten ihrer Zugehorigkeit zur Hindugemeinschaft verlustig gehen wurden, musste vor diesem Hintergrund als glaubwurdig erscheinen.

Indische Soldaten hatten vor 1857 mehrfach gemeutert, wenn britische Befehle zur Folge hatten, dass sie gegen ihre religiosen Verpflichtungen verstießen: Vor der Meuterei in Velur im Jahre 1806 befahlen britische Offiziere indischen Soldaten unter anderem das Tragen einer Uniform, bei der einzelne Bestandteile aus Leder gefertigt waren. Das Tragen von Rinderleder war jedoch fur Hindus ein Sakrileg. Sie sollten außerdem im Dienst auf den Stirnpunkt verzichten. In der nachfolgenden Meuterei starben auf britischer Seite 129 Personen. Von den meuternden Soldaten kamen 350 ums Leben. Weitere 19 wurden nach der Niederschlagung des Aufstands hingerichtet . [33] [34] 1824 fuhrte ein ahnliches Ignorieren der religiosen Verpflichtungen indischer Soldaten zu einer Meuterei, in deren Folge erneut britische Soldaten ums Leben kamen, indische Soldaten zum Tode verurteilt wurden und ein indisches Regiment aufgelost wurde. [34] Neben diesen beiden weithin bekannten Befehlsverweigerungen hatten sich mehrfach Meutereien in kleinerem Maßstab ereignet, die zu einem Teil der Offentlichkeit unbekannt blieben.

Schloss der 3-Band-Enfield von 1853

Der Beginn des Aufstands steht in einem engen zeitlichen Zusammenhang mit der Abschaffung der Brown-Bess - Muskete , die durch das moderne Enfield-Gewehr ersetzt werden sollte. Diese Vorderlader - Buchse verschoss Papierpatronen, deren gefalztes Ende gemaß britischem Exerzierreglement vor dem Laden mit den Zahnen abgebissen werden musste. Um die Patronen mit dem Schwarzpulver vor Feuchtigkeit zu schutzen und eine geringere Verschmutzung der Waffe beim Schießen zu erreichen, mussten Papierpatronen mit Fett impragniert werden. [35] Innerhalb der britisch-indischen Streitkrafte war spatestens ab Januar 1857 weitlaufig das Gerucht verbreitet, die Patronen seien mit einer Mischung aus Rindertalg und Schweineschmalz behandelt worden. Glaubigen Hindus und Moslems musste dies gleichermaßen als schwerer Affront erscheinen. Tatsachlich scheint es zu Beginn vereinzelt eine Verwendung von Schweineschmalz und Rindertalg gegeben zu haben. Dieser Fehler wurde von der Britischen Ostindien-Kompanie aber durchgangig abgestellt, sobald man sich seiner bewusst wurde. Fur die Patronen wurde danach eine Mischung aus Bienenwachs und Butterschmalz ( Ghee ) oder Hammelfett verwendet und den Sepoys wurde erlaubt, die Patronen selber einzufetten. [36] [37] Alle vertrauensbildenden Maßnahmen blieben ohne Wirkung. Wie die Befragung von befehlsverweigernden indischen Soldaten in Barakpur im Februar 1857 zeigte, misstrauten die indischen Soldaten mittlerweile auch der papierenen Patronenummantelung, deren ungewohnte Glatte und Schimmer sie ebenfalls auf eine Behandlung mit Fett zuruckfuhrten. [38]

Bereits im Januar, als das Gerucht erstmals auftrat, war es in diversen Garnisonen in Nord- und Ostindien vereinzelt zu kleineren Brandstiftungen gegen britische Einrichtungen gekommen. Im Februar verweigerten die Sepoys des 19. Regiments der Bengal Native Infantry (BNI) in Baharampur den Befehl, die neuen Patronen zu benutzen. Zu ersten Gewalttatigkeiten kam es am 29. Marz 1857, als in Barrackpur nordlich von Kolkata der Sepoy Mangal Pandey des 34. Regiments der BNI einen Adjutanten und den britischen Feldwebel seines Regiments angriff und schwer verwundete. Die beiden britischen Soldaten uberlebten vermutlich nur, weil ein indischer Soldat muslimischen Glaubens eingriff und Mangal Pandey zeitweilig außer Gefecht setzte. Indische Soldaten hinduistischen Glaubens dagegen waren wahrend des Ubergriffs ihres Kameraden gegenuber den britischen Vorgesetzten inaktiv geblieben. Pandey wurde zum Tode verurteilt und am 8. April gehangt. Am 30. Marz wurde das 19. und am 6. Mai das 34. Regiment entwaffnet. [39]

Meuterei der Garnison in Merath

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Am 7. Mai 1857 verweigerten 85 von 90 zu einer Schießubung beorderte Sepoys der 3rd Bengal Light Cavalry der Garnison in Merath die Nutzung der neu ausgegebenen Enfield-Gewehre. Sie begrundeten dies damit, dass sie sonst ihre Kastenzugehorigkeit verloren und nicht mehr zu ihren Familien zuruckkehren konnten. Die Befehlsverweigerer wurden bereits am nachsten Tag zu 10 Jahren Zwangsarbeit verurteilt. Am 9. Mai ließ der befehlshabende Offizier alle in Merath anwesenden indischen und europaischen Truppenteile auf dem Paradefeld antreten. In Anwesenheit ihrer Kameraden wurden die 85 verurteilten indischen Soldaten ihrer Uniformen entledigt und in Fußfesseln gelegt. [40] Sowohl das Urteil als auch die offentliche Degradierung wurde auch von einigen britischen Offizieren als unnotig harsch eingestuft. [41]

Zum offenen Aufstand kam es am Spatnachmittag des 10. Mai. Bereits bei diesen ersten Gewaltakten, in deren Verlauf funfzig europaische Soldaten, Zivilbeamte, Frauen und Kinder massakriert wurden, waren neben indischen Soldaten auch indische Zivilisten beteiligt. [41] Die in Merath stationierten europaischen Truppen konnten weder verhindern, dass die verurteilten Sepoys von den Aufstandischen befreit wurden, noch dass die meuternden Truppen in Richtung des 60 Kilometer entfernt liegenden Delhi abzogen.

Ausbruch des Aufstands in Delhi

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Bahadur Shah II. auf einem Gemalde um 1854

Der Einflussbereich des 82-jahrigen Bahadur Shah Zafar II. , des letzten der Großmogule, beschrankte sich auf seinen Palast, das Rote Fort in Delhi . Trotz dieses geringen Einflusses galt er sowohl der indischen Bevolkerung als auch den indischen Provinzen und Staaten als nomineller Souveran. Delhi war daher der Ort, an dem sich die aufstandischen Truppen sammelten.

Etwa 20 indische Kavalleristen trafen am 11. Mai gegen 7 Uhr morgens vor dem Palast ein und forderten den Großmogul auf, den Aufstand zu unterstutzen. Der Großmogul ließ ihre Forderung unbeantwortet und sandte nach dem britischen Befehlshaber seiner Leibwache, der die aufstandischen Soldaten aufforderte, sich außerhalb der Stadtmauern zu versammeln, wahrend man ihr Anliegen untersuchen werde. [42] Wenig spater kam es an den Stadttoren zu ersten Kampfen, die sich schnell auf das ganze Stadtgebiet ausdehnten. Ein Vorkommnis am Kaschmirtor zeigt exemplarisch, wie rasch sich der Aufstand ausweitete. Als Reaktion auf die Meldung, dass Kavalleristen aus Merath in Delhi fur Unruhe sorgten, war das 54. indische Regiment am Morgen des 11. Mai von dem etwa 3 Kilometer nordlich liegenden Militarcamp nach Delhi kommandiert worden. Beim Einmarsch des Regiments durch das Kaschmirtor in die Stadt erschossen aufstandische Kavalleristen vier der britischen Offiziere. Als die uberlebenden Offiziere den ihnen unterstellten indischen Soldaten befahlen, das Feuer zu erwidern, schossen diese lediglich in die Luft und attackierten anschließend gemeinsam mit den Sawars die Offiziere. [43]

Im Verlauf des Nachmittags stellte sich der Großmogul an die Spitze des Aufstands. Nach den spateren Schilderungen von Hofbeamten und anwesenden indischen Adeligen geschah dies, um die mehreren Hundert bewaffneten und erregten Soldaten zu beruhigen, die sich im Roten Fort vor den Privatgemachern des Großmoguls versammelt hatten. [44] Die Unterstutzung der Aufstandischen wurde nicht von allen Angehorigen des Hofes des Großmoguls geteilt. Die britische Seite wurde unter anderem von Zafars Lieblingsfrau Zinat Mahal unterstutzt, die damit auch die Hoffnung verbunden haben mag, dass die Briten die Thronfolge ihres Sohnes Jawan Bakht sichern wurden. Jawan Bakht ubernahm im Gegensatz zu seinem alteren Halbbruder Mirza Mughal wahrend des Aufstands niemals eine aktive Rolle. [45]

Am Abend des 11. Mai war Delhi vollstandig in den Handen der Aufstandischen. Indische Soldaten und Zivilisten hatten den gesamten Tag uber gezielt die Hauser der in Delhi lebenden Europaer, Eurasier und christianisierten Inder aufgesucht, geplundert und gebrandschatzt und die Einwohner erschlagen. Diejenigen, die die ersten Ubergriffe uberlebten, flohen in kleinen isolierten Gruppen aus der aufstandischen Stadt. Die meisten von ihnen versuchten, britische Militarstutzpunkte in der Umgebung von Delhi zu erreichen. Auf ihrer Flucht fanden sie gelegentlich Schutz und Hilfe durch Inder, haufig waren sie sowohl den Ubergriffen indischer Zivilbevolkerung als auch herumstreifender Truppenteile ausgesetzt. [46] Die Brutalitat der Ubergriffe diente den Briten spater als Rechtfertigung ihrer nicht weniger grausamen Vergeltungsmaßnahmen. In einem haufig angefuhrten Vorfall fand eine Gruppe von etwa 52 unbewaffneten Mannern, Frauen und Kinder zunachst fur einige Tage Schutz im Roten Fort. Am 16. Mai jedoch wurden sie trotz der Proteste des Großmoguls in einem Hof des Roten Forts von muslimischen Bediensteten des Hofes mit dem Schwert hingerichtet. [47]

Ausweitung des Aufstands

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Der Aufstand dehnte sich ausgehend von Delhi auf den großten Teil Nord- und weite Teile Zentralindiens aus. Zu den aufstandischen Zentren zahlten neben Delhi Lakhnau , Kanpur , Jhansi , Bareli , Arrah und Jagdishpur . Die Aufstandischen fanden haufig Unterstutzung bei indischen Fursten; viele der indischen Fursten unterstutzten allerdings in den Auseinandersetzungen die Briten, da eine Umwalzung der sozialen Ordnung ihre Machtbasis gefahrdete. [48]

In dem Machtvakuum, das nach dem Zusammenbruch britischer Oberherrschaft entstand, kam es auch innerhalb der indischen Bevolkerung zu Unruhen und Ubergriffen. Betroffen waren vor allem Geldverleiher und Kaufleute, denen vorgeworfen wurde, bislang von der britischen Herrschaft profitiert zu haben. Bei den Zivilisten, die sich den aufstandischen Soldaten anschlossen, handelte es sich nach zeitgenossischen britischen Berichten um ?badmashes“ oder Kleinkriminelle; haufig durfte es sich jedoch bei den Beteiligten um Angehorige der armsten indischen Schichten gehandelt haben, die mit den Plunderungen einen relativen Wohlstand zu erreichen versuchten. [49]

Die jeweiligen britischen Krafte vor Ort waren in den ersten Wochen des Aufstands haufig nur unzureichend uber die Ereignisse in Delhi und anderen Garnisonsorten informiert: Telegraphenverbindungen waren teilweise unterbrochen und Boten erreichten die anderen Garnisonsstadte haufig nicht. Viele der britischen Offiziere waren von der Loyalitat der ihnen unterstellten indischen Truppen uberzeugt und bezweifelten, dass diese sich dem Aufstand anschließen wurden, oder waren davon uberzeugt, durch entschiedenes Handeln jegliche Meuterei im Keim ersticken zu konnen. [50] Andere gingen davon aus, dass meuternde Truppen sehr schnell nach Delhi, dem Zentrum des Aufstands, abziehen wurden. Trotz Unterschieden in den Details gleicht der jeweilige Aufstandsverlauf dem in Delhi: Indische Soldaten wandten sich zunachst gegen ihre eigenen Offiziere, indische Zivilisten schlossen sich den aufstandischen Soldaten an und in der Folge kam es zur Ermordung britischer Militarangehoriger und europaischer und eurasischer Zivilisten.

Drei Ereignisse sind fur die britische und indische Geschichtsschreibung besonders signifikant. Das Massaker in Kanpur an wehrlosen britischen Frauen und Kindern galt Zeitgenossen wie dem angesehenen Historiker Sir George Trevelyan als ?die schrecklichste Tragodie unseres Zeitalters“ oder ?das großte Desaster fur unsere Rasse“. [51] Der Widerstand der Belagerten in Lakhnau wird bis heute in der britischen Geschichtsschreibung als heldenhaft verehrt. In Indien verehrt man dagegen die Rani von Jhansi, die sich an die Spitze aufstandischer Truppen stellte, als Volksheldin. Der jeweilige Ablauf dieser drei Ereignisse ist wegen ihrer Signifikanz im Folgenden detaillierter dargestellt.

Massaker in Kanpur

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Nana Sahib zieht mit seiner Eskorte den aufstandischen indischen Truppen entgegen.

Den Aufstand in Kanpur fuhrte der etwa 35-jahrige Brahmane Nana Sahib an, ein Adoptivsohn von Baji Rao II. , dem letzten Peshwa von Pune . Pune zahlte zu den bedeutenderen Marathen -Furstentumern, sein Herrscher Baji Rao war von den Briten entthront und in Bithur exiliert worden. Er erhielt von den Briten bis zu seinem Tode 1851 eine großzugige jahrliche Pensionszahlung, die seinem Adoptivsohn und Erben Nana Sahib verweigert wurde. [52] [53] Nach dem Ausbruch des Aufstands baten Aufstandische Nana Sahib, eine fuhrende Rolle im Aufstand zu ubernehmen. Nach anfanglichem Zogern wollte er zunachst die Sepoy-Truppen auf ihrem Weg nach Delhi anfuhren. Mitglieder seines Hofes brachten ihn jedoch davon ab, sich als hochrangiger Hindu dem muslimischen Großmogul in Delhi zu unterstellen. [54] Nach der Beendigung des Aufstands gefundene Papiere legen nahe, dass Nana Sahib in Erwagung zog, nicht nur den Thron seines Adoptivvaters zuruckzuerobern, sondern auch angrenzende Furstentumer zu seinen Vasallen zu machen. [55] [56] Die Eroberung der an der Grand Trunk Road zwischen Delhi und Benares liegenden Stadt Kanpur sollte dazu der erste Schritt sein.

Die in Kanpur stationierten indischen Truppen umfassten 1857 drei Infanterieregimenter und eine Kavallerie sowie eine Kompanie Artillerie und damit etwa 3.000 Mann. Etwa 300 britische Soldaten taten in Kanpur Dienst. Uberzeugt davon, dass aufstandische Truppen sehr schnell nach Delhi abziehen wurden, hatte der befehlshabende Generalmajor Hugh Wheeler wenige Anstrengungen unternommen, seine Garnison fur eine mogliche Belagerung herzurichten. Als sich die Anzeichen fur einen Aufstand mehrten, zogen sich die in der Stadt lebenden Europaer und Eurasier hinter die Schanzeinrichtungen der Garnison zuruck. In der Nacht des 5. Juni kam es dann zum Aufstand; er erfasste sehr schnell alle indischen Truppen in Kanpur. [57] In der Garnison waren zu diesem Zeitpunkt knapp 1000 Menschen versammelt. Neben den 300 europaischen Soldaten zahlten dazu etwa weitere 100 europaische Manner, 80 loyal gebliebene Sepoys, 400 Frauen und Kinder und eine Reihe indischer Bediensteter. Die Verteidiger verfugten uber ausreichend Musketen und Munition, aber nur wenig Artillerie. [58]

Der Brunnen in Kanpur, in den die Korperteile der erschlagenen britischen Frauen und Kinder geworfen wurden

Der Beschuss der Garnison durch die aufstandischen Truppen fuhrte sehr schnell zu hohen Verlusten unter den dort Verbarrikadierten. Keines der Garnisonsgebaude war ausreichend stabil gebaut, um gegen Artilleriebeschuss zu bestehen, so dass die Belagerten nirgendwo Schutz vor dem Bombardement fanden. Es fehlte an Wasser und Nahrungsmitteln. In der Hoffnung auf Verstarkung aus Lakhnau hielten die Belagerten bis zum 25. Juni durch. Danach nahmen sie das Kapitulationsangebot von Nana Sahib an, das ihnen einen ungehinderten Abzug mit Booten nach Allahabad in Aussicht stellte. Wahrend die Briten am Gangeshafen Sati Chowra die Boote bestiegen, eroffneten indische Truppen das Feuer. Die britischen Manner, die das Feuergefecht uberlebten, wurden nahezu alle an Ort und Stelle umgebracht. Es uberlebten dagegen etwa 125 Frauen und Kinder. [59] Sie wurden nach Kanpur als Gefangene zuruckgebracht, wo sie gemeinsam mit anderen Frauen und Kindern, uberwiegend Fluchtlinge der Belagerung von Fatehgarh , im Bibighar eingesperrt wurden.

Als sich britische Truppen unter Befehl von Henry Havelock Kanpur naherten, ließ Nana Sahib am 16. Juli die nach Kanpur gebrachten Frauen und Kinder hinrichten. Da sich seine Truppen dieser Tat verweigerten, wurden im Basar von Kanpur Metzger requiriert, die die noch lebenden 73 Frauen und 124 Kinder mit Schwertern, Axten und Beilen erschlugen. Die Korperteile wurden zum großten Teil in einen Brunnen geworfen. [60] Die britischen Truppen trafen einen Tag nach diesem Vorfall in Kanpur ein und fanden an der Stelle der Massenexekution noch Kleiderreste, Haare und einzelne Korperteile. [61] Der Vorfall war fur die britischen Truppen der Anlass, den bislang schon sehr grausam gefuhrten Vergeltungsfeldzug mit noch großerer Harte zu fuhren. [62]

Belagerung von Lakhnau

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Anders als in Kanpur war der Oberbefehlshabende von Lakhnau, Sir Henry Lawrence , sehr fruh davon ausgegangen, dass auch diese Stadt vom Aufstand betroffen sein werde. In Lakhnau waren das 32. Regiment der britischen Armee sowie vier Regimenter der britischen Ostindien-Kompanie stationiert [57] ; Lawrence wagte es jedoch nicht, diese vier Regimenter zu entwaffnen, weil er befurchtete, dass dies der zundende Funken fur den Ausbruch des Aufstands wurde. Bereits ab dem 23. Mai ließ er Nahrungsmittel einlagern. Seine eigene Residenz und 16 daran angrenzende Gebaude boten bessere Verteidigungsmoglichkeiten als die eigentliche Garnison, so dass er sie fur eine Belagerung vorbereiten ließ, indem Bastionen errichtet und Verteidigungsgraben gezogen wurden. [63] [64] Dort verschanzten sich 855 britische und 712 indische Offiziere und Soldaten sowie insgesamt 1.433 britische Zivilisten. Unter den Zivilisten befanden sich Hunderte von Frauen und Kindern.

Soldaten aus Madras, die unter Colin Campbell im November 1857 Lakhnau zuruckeroberten

Die meisten der in Lakhnau stationierten indischen Truppen meuterten ab dem 30. Mai, dem muslimischen Fest des Fastenbrechens . Die intensive Belagerung der Residenz durch etwa 8.000 Sepoys und mehrere Hundert indische Zivilisten begann jedoch erst am 30. Juni 1857. Henry Lawrence hatte zuvor noch versucht, die aufstandischen Truppen in einer offenen Schlacht zu stellen. Diese Entscheidung erwies sich als Fehler. Auf Seiten der Briten fielen 172 Europaer und 193 Inder, bevor sie sich wieder in die Garnison zuruckziehen konnten. [65] Auf Grund der schlechten hygienischen Bedingungen brachen in der Residenz sehr bald Cholera und Ruhr aus, die ahnlich viele Opfer forderten wie der Beschuss durch die aufstandischen indischen Truppen. Durchschnittlich starben taglich mehr als 20 der Belagerten; viele der Opfer waren Kinder. [66] Henry Lawrence erlag bereits zu Beginn der Belagerung einer Schussverletzung. Ende August verteidigten nur noch 650 Mann die Garnison; weitere 120 waren zu krank oder zu verletzt, um sich an der Verteidigung zu beteiligen. Von den Frauen und Kindern lebten nur noch 450. [66]

Am 25. September konnten von Sir Henry Havelock und Sir James Outram gefuhrte Truppen die belagerte Residenz verstarken. Ursprungliches Ziel von Havelock und Outram war ein Entsatz der belagerten Residenz. Die Truppen erlitten aber bei der Annaherung an die belagerte Residenz so hohe Verluste, dass dieses Vorhaben aufgegeben werden musste. Aus Sicht von Sir Colin Campbell , dem neuen Oberbefehlshaber in Indien, war die Befreiung von Lakhnau von so hohem strategischen und symbolischen Wert, dass er seine Militarkrafte darauf konzentrierte. Dem britischen Zivilbeamten Thomas Henry Kavanagh gelang es in der Nacht vom 9. November, sich durch die indischen Linien zu schleichen und Campbell einen Plan zu uberbringen, auf dem die Positionen der indischen Truppen eingezeichnet waren. Auf Grund dieser Informationen umging Campbell Lakhnau zunachst in weitem Bogen und griff dann von Osten aus an, wo die aufstandischen Truppen weniger stark konzentriert waren. Die Einnahme von Lakhnau gelang, so dass am 18. November die Belagerten aus Lakhnau evakuiert werden konnten. Die britischen Krafte waren jedoch zu schwach, um die Stadt zu halten, und Lakhnau wurde erneut den Aufstandischen uberlassen. [67]

Die Verteidigung der Residenz, an der sowohl britische Soldaten als auch Zivilisten gleichermaßen Anteil hatten, wird in der britischen Geschichtsschreibung als beispielhaft couragiert und heldenhaft in Ehren gehalten. Zur Legendenbildung trug bei, dass wahrend der gesamten Belagerung ununterbrochen ein Union Jack uber der Residenz flatterte. [68] Mehreren der Verteidiger wurde spater das Victoria-Kreuz , die hochste britische Tapferkeitsauszeichnung verliehen, weil sie in verschiedenen Ausfallen versuchten, Teile der Artillerie der Belagerer auszuschalten.

Denkmal zu Ehren der Rani von Jhansi, Lakshmibai in Agra
Die Festung von Jhansi, Foto aus dem Jahre 1882

Lakshmibai war als Vierzehnjahrige mit dem deutlich alteren Raja von Jhansi Gangadhar Rao verheiratet worden. Aus der Verbindung ging ein Sohn hervor, der sehr jung starb. Kurz vor seinem Tode adoptierte Gangadhar Rao einen Sohn, der ihm auf den Thron nachfolgen sollte. Bis zu seiner Volljahrigkeit sollte Lakshmibai fur ihn die Regentschaft ausuben. Entsprechend der Doctrine of Lapse annektierte jedoch Lord Dalhousie nach dem Tode des Raja auch diesen Furstenstaat . Die entthronte Rani durfte weiterhin im Palast residieren und erhielt eine großzugig bemessene Pension . Die Rani protestierte gegen diese Behandlung in London; ihrem Einspruch wurde jedoch nicht stattgegeben. Unter den in Jhansi lebenden Briten stand die Rani in hohem Ansehen. Als sich die vor Jhansi stationierten indischen Soldaten im Juni 1857 dem Aufstand anschlossen, stellten sich die dort lebenden Europaer und Eurasier unter ihren Schutz. Die Rani konnte jedoch nicht verhindern, dass die meisten von ihnen im Juni 1857 von aufstandischen indischen Soldaten ermordet wurden. Gegenuber den Briten leugnete die Rani jegliche Rolle in dem Massaker und betonte ihre Loyalitat.

In den folgenden Monaten drangen Truppen benachbarter Furstenstaaten in ihr Gebiet ein. Nachdem ihre Appelle um britische Hilfe vergeblich geblieben waren, verteidigte sie ihren Furstenstaat erfolgreich mit Hilfe aufstandischer Truppen gegen die Invasoren. Als im Marz 1858 britische Truppen auf Jhansi zumarschierten, um auch dort fur die an Europaern und Eurasiern begangenen Massaker Rache zu nehmen, entschied sie sich, die Festung Jhansi an der Spitze der Aufstandischen zu verteidigen. [69] Der indische Rebellenfuhrer Tantya Tope kam ihr mit einer Truppe von 22.000 Mann zu Hilfe. Auf Grund taktischer Fehler wurden am 1. April die Truppen unter Fuhrung von Tantya Tope in der Schlacht am Betwa von einer zahlenmaßig deutlich unterlegenen britischen Truppe unter Hugh Rose, 1. Baron Strathnairn geschlagen. [70] Jhansi wurde am 3. Oktober von den Briten eingenommen. Dabei kamen mehr als 3.000 Inder ums Leben. Bei den meisten der Opfer handelte es sich um unbewaffnete Zivilisten. [71] Der Rani von Jhansi gelang es, gemeinsam mit ihrem Adoptivsohn und funfzig Anhangern die Stadt zu verlassen, bevor die Briten sie festsetzen konnten. Am 22. Mai griffen britische Truppen die Festung Kalpi an. Die Rani von Jhansi fuhrte personlich den Gegenangriff indischer Truppen, die auch in dieser Schlacht unterlagen. Erneut gelang der Rani gemeinsam mit anderen Anfuhrern des Aufstands wie Tantya Tope, dem Nawab von Banda und Rao Sahib, dem Neffen von Nana Sahib, die Flucht. In Gwalior konnten sie die dort stationierten indischen Truppen uberreden, sich dem Aufstand anzuschließen. Der den Briten loyal gebliebene Maharaja Sindhia floh aus dem Distrikt. Sir Hugh Rose war mit seinen Truppen den Fliehenden gefolgt. Am 16. Juni erreichte er die Außenbezirke der Stadt Gwalior. Am 17. Juni kam die Rani von Jhansi bei einem Kavalleriegefecht ums Leben. Nach einem Augenzeugenbericht trug sie die Uniform eines Sowars und griff einen der britischen Reiter an. Dabei wurde sie selber vom Pferd geworfen und verletzt, vermutlich durch einen Sabelhieb des britischen Kavalleristen. Sie schoss noch mit einer Pistole auf ihren Angreifer. Dieser totete sie jedoch mit einem Gewehrschuss. [72]

Gegenangriff der Briten

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Truppenstarke der Briten

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Viele Inder verhielten sich in den ersten Wochen des Aufstands neutral, weil sie eine schnelle und aggressive britische Militarreaktion erwarteten. Diese blieb aus, weil in den ersten Wochen nach dem Ausbruch des Aufstands die gesamte zur Verfugung stehende britische Militarstarke aus funf Regimentern bestand, die alle benotigt wurden, um die wichtigsten britischen Militarstandorte zu schutzen. [73] Eine Ruckeroberung Delhis durch die Briten unterblieb zunachst, weil es an Truppen und Artillerie fehlte. [74] Die wenigen mobilen Einsatztruppen, die die Briten bilden konnten, bestanden neben regularen britischen Truppen zum Teil aus Freiwilligen aus Benares und Allahabad, einigen Sikh-Regimentern, jungen Eurasiern aus den Militarwaisenhausern in Madras sowie strafversetzten Soldaten aus Kalkutta. [75] Sie wurden durch Krankheiten und die Hitze in ihrer Kampffahigkeit erheblich beeintrachtigt. Wahrend der Schlacht um Kanpur am 16. Juli, bei der die britischen Soldaten Gewaltmarsche in der großten Mittagshitze absolvieren mussten, fielen mehr als 100 von ihnen allein auf Grund der unertraglichen Hitze in Ohnmacht. [76] Der erste Versuch, Lakhnau zuruckzuerobern, musste abgebrochen werden, weil Henry Havelock kurz vor Lakhnau nur noch uber 700 einsatzfahige Manner verfugte. [74]

Den ersten Sieg der Briten seit Beginn des Aufstands errang Henry Havelock beim Vormarsch auf Kanpur am 12. Juli 1857. [77] Im August 1857, als der neue Oberbefehlshaber Canning in Kalkutta eintraf, hatten die Briten mehrere wichtige taktische Siege errungen. Andere Schlachten wie in Chinug und Sasia hatten die aufstandischen Truppen fur sich entscheiden konnen. Delhi, Agra und Lakhnau wurden nach wie vor von aufstandischen Truppen belagert. Aufstande hatte es in Jhansi , Nowgong , Banda , Gwalior , Indore , Mhow , Sagar und Sehore gegeben. Weite Teile von Bundelkhand , Bhopal und Sagar sowie Nerbudda waren in der Hand von Aufstandischen. In Teilen von Zentralindien behielten die Briten nur dank eines schnellen Abzugs von aufstandischen Truppen nach Delhi die Oberhand. [78] Auf indischer Seite fehlte es wahrend der ersten Monate, als sie den Aufstand fur sich hatten entscheiden konnen, an einem konzertierten und abgestimmten Vorgehen gegen die Briten. [74] Negativ wirkte sich fur die indische Seite aus, dass sie uber keine Offiziere verfugte, die Erfahrung im Fuhren großerer Truppen hatten oder in Schlachttaktik ausgebildet waren. [79] [80] Den Briten gelang es daher haufig, zahlenmaßig weit uberlegene aufstandische Truppen zu schlagen. Die britischen Truppen waren außerdem besser ausgerustet. Auf britischer Seite kam uberwiegend das Enfield-Gewehr zum Einsatz, das der alteren Bess-Brown-Muskete in Reichweite und Treffgenauigkeit deutlich uberlegen war. [79] Die Briten benotigten mehrere Monate, um ausreichend Truppen zusammenzuziehen, um den Aufstand wirksam niederschlagen zu konnen. Mehrere schottische Regimenter, eigentlich auf eine Militarmission nach China entsendet, wurden nach Kalkutta umgeleitet. [81] Andere Truppen wurden aus Birma und den loyalen Provinzen in die aufstandischen Regionen Indiens versetzt. Nepal schickte Gurkha -Soldaten, um die Briten zu unterstutzen, und insbesondere im Panjab wurden Sikhs angeworben. Auch etliche Fursten blieben entweder neutral oder wurden Verbundete der Briten im Kampf gegen die Rebellen, da sie sich keine Ruckkehr der Mogulen wunschten. Die so genannten Bombay- und Madras-Armeen der Britischen Ostindien-Kompanie blieben letztlich loyal. Im Jahr 1858 verfugten die Briten in Bengalen insgesamt uber 46.400 britische und 58.000 indische Soldaten und damit uber ausreichend Krafte. [82]

Form der britischen Kriegsfuhrung

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Zeichnung aus der Illustrated London News des gleichen Jahres. Hinrichtung durch Kanonen und Hangen
Gehangte indische Rebellen

Der Umstand, dass es im Zuge der Erhebung zu Morden an britischen Zivilisten gekommen war, ließ die britischen Militaraktionen zu einem Rachefeldzug werden. Als ? sei die Ermordung von britischen Frauen und Kindern nicht genug [83] , hatten zeitgenossische Berichte detailliert von Vergewaltigungen und Folter an britischen Frauen und Kindern wahrend des indischen Aufstands berichtet. Sie ergingen sich dabei in so blutrunstigen Details, dass Christopher Herbert die Darstellungsform als fur viktorianische Verhaltnisse ungewohnlich explizit und halb pornographisch beschreibt. [84] Die zugeschriebenen Folterungen und Vergewaltigungen erwiesen sich bei den anschließenden Untersuchungen nach der Niederschlagung des Aufstands zwar als nahezu vollstandig haltlos [83] , die vorgeblichen Vorfalle waren jedoch der Anlass fur brutale Vergeltungsmaßnahmen. Die Lowenherzen unserer Soldaten gieren nach Rache an diesen blutdurstigen Verbrechern ist einer der charakteristischen Satze, die britische Soldaten an ihre Familie nach Hause schrieben. [85] ? Bestraft “ wurden Inder unabhangig von Geschlecht und Alter und ihrer Beteiligung an dem Aufstand. Britische Offiziere ließen es zu, dass die von ihnen gefuhrten britischen und indischen Truppen vergewaltigten und folterten, forderten teilweise dieses Vorgehen und nutzten dabei Rivalitaten zwischen einzelnen indischen Ethnien aus. Insbesondere Sikhs nahmen haufig grausame Rache an aufstandischen Sepoys, die wenige Jahre zuvor wahrend des Sikh-Krieges noch fur die Briten gegen sie gekampft hatten. [86] Die meisten der Kriegsverbrechen wurden jedoch entweder direkt von Briten oder auf ihren Befehl begangen. Typisch ist das Beispiel von Kanpur, wo am Morgen nach der Ruckeroberung der Stadt die Disziplin innerhalb der britischen Truppen weitgehend zusammenbrach. Angestachelt von Alkohol, dem Anblick des blutverschmierten Bibighars und den Geruchten uber die Schandung britischer Frauen fielen britische Soldaten uber den indischen Teil der Stadt her, um dort zu plundern und zu vergewaltigen. [87] Der uber die Untaten entsetzte Henry Havelock ließ daraufhin samtlichen Alkohol in Kanpur aufkaufen und das Lager seiner Truppen etwas weiter außerhalb der Stadt errichten. Britischen Soldaten, die sich an Plunderungen beteiligten, drohte er mit der Erhangung. Allerdings wurde diese Strafe nur uber einen einzigen britischen Soldaten verhangt. [88]

Wahrend der Ruckeroberung wurden Dorfer niedergebrannt, wobei die britischen Truppen den Tod von Alten und Kindern in Kauf nahmen, und es kam zu Massenerhangungen und -erschießungen . Viele Briten berichteten in ihren Briefen nach Hause von der stoischen Ruhe, mit der Sepoys zu ihrer Hinrichtung gingen, und schrieben diese der Gewissheit der Sepoys zu, dass sie als Moslems nach dem Tode ins Paradies aufgenommen werden wurden beziehungsweise als Hindu mit ihrer Wiedergeburt rechneten. [89] Zunehmend legten britische Soldaten Wert darauf, dass die Verurteilten vor ihrer Hinrichtung gedemutigt und zu Handlungen gezwungen wurden, die den religiosen Pflichten ihrer jeweiligen Religion widersprachen. Moslems wurden gezwungen, vor ihrer Hinrichtung Schweinefleisch zu essen oder wurden mit Schweinefett eingeschmiert. [60] Hindus wurden begraben statt verbrannt , wie es ihre Religion forderte, und mussten vor ihrer Hinrichtung ihr Grab selbst schaufeln. Auch die Anwendung einer traditionellen Hinrichtungsweise der Mogule, bei der die zum Tode verurteilten vor Kanonen gebunden und mit einem Schuss zerrissen wurden, hatte zum Ziel, die religiosen Gefuhle der Verurteilten zu verletzen. Offiziere wie James Neill , den der zeitgenossische Politiker George Trevelyan als ein ?Monster“ bezeichnete, das verantwortlich fur morderische Vergeltungsmaßnahmen sei, [90] zwangen Hindus, Teile des blutverschmierten Bibighars mit ihrer Zunge rein zu lecken. Als Sir Colin Campbell am 3. November 1857 Kanpur erreichte, war eine seiner ersten Handlungen, diese Form der Strafen als ? unwurdig eines englischen Namens und einer christlichen Regierung “ zu verbieten. [91]

Ruckeroberung von Delhi

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Die Gefangennahme des Großmoghuls am 19. September 1857

Die Niederschlagung der Aufstandischen durch die Briten konzentrierte sich im Wesentlichen auf drei Schauplatze: Die Hauptverbindungsstraße, die durch Kanpur und Lakhnau in den Suden von Oudh fuhrte, Zentralindien sowie die Region um Delhi. Delhi hatte als Zentrum des Aufstands eine besondere symbolische Bedeutung, da hier mit Bahadur Shah Zafar II. das nominelle Oberhaupt des Aufstands residierte und sich hier die meisten der aufstandischen Truppen versammelt hatten. Anfang August 1857 befanden sich zwischen 30.000 und 40.000 aufstandische Sepoys in der Stadt. [92] Auf dem Hohenkamm gegenuber der nordwestlichen Stadtmauer hatte sich die britische Delhi Field Force verschanzt. Obwohl sie nur uber 7.000 Mann verfugte, von denen uber ein Viertel wegen Krankheit, Verwundung und Erschopfung nicht einsatzfahig war, gelang es den Briten, ihre Position zu halten. Die aufstandischen Sepoys hatten ihre Gegner mit Artilleriebeschuss und einer Serie couragierter Angriffe zermurbt und ihnen hohe Verluste zugefugt. Es kam jedoch nie zur Eroberung der britischen Position ? nach Ansicht vieler moderner Historiker lediglich, weil es den indischen Aufstandischen an geeigneten und allseits akzeptierten militarischen Fuhrern mangelte. [93] Die Ausdauer der Briten sorgte im aufstandischen Delhi zunehmend fur Unruhe, da absehbar war, dass britische Truppen bald die auf dem Hohenkamm Verschanzten verstarken wurden. Mehr als 10.000 der aufstandischen Truppen verließen zwischen dem 21. und 25. August die Stadt. [94] Britische Verstarkung traf am 4. September ein und am 14. September begann die Ruckeroberung von Delhi, die sich bis zum 20. September hinzog. Das Versteck von Bahadur Shah Zafar II. auf dem Areal des Humayun-Mausoleums wurde von seinem Schwiegersohn verraten und der Großmogul von dem britischen Offizier William Hodson gefangen genommen. Zwei seiner Sohne sowie einer seiner Enkel wurden unmittelbar nach der Gefangennahme von William Hodson erschossen. [95] In Delhi wiederholten sich die brutalen Vergeltungsmaßnahmen der britischen Seite. Die Stadt wurde außerdem systematisch geplundert.

Ende des Aufstands

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Sikandar Bagh in Lakhnau nach der Ersturmung durch britische Truppen, Aufnahme von Felice Beato , Marz 1858 ? Im Innenhof liegen die verwesten Leichen indischer Aufstandischer.

Es gibt keinen Konsens, welche militarische Auseinandersetzung den Wendepunkt darstellt, ab dem die Briten sich einer vollstandigen Niederschlagung des Aufstands sicher sein konnten. Die Ruckeroberung Delhis durch die Briten war aus britischer Sicht ein wesentlicher Meilenstein zur Befriedung Indiens. Die aufstandischen Truppen waren danach weitgehend segmentiert und das sudostlich von Delhi gelegene Oudh wurde zum neuen Zentrum des Aufstands. Nach der erfolgreichen Befreiung der belagerten Residenz Lakhnau in dieser Region im November 1857 zog sich Colin Campbell mit seinen Truppen nach Unao zuruck. Er zog dort uber die nachsten Wochen die starkste britische Armee zusammen, die bis zu diesem Zeitpunkt in Indien versammelt war, und verfugte schließlich uber 164 Kanonen und 31.000 Mann. [96] [97]

Trotz dieser großen Truppenstarke und der britischen Siege kam es im November 1857 zu einer erneuten Belagerung Kanpurs. In Kanpur war seit der Ruckeroberung ein neues Fort angelegt worden, um gegebenenfalls einer erneuten Belagerung standhalten zu konnen. Das Oberkommando uber die Truppen in Kanpur oblag seit dem 9. November 1857 General Charles Ash Windham, der Mitte November uber 1.700 Soldaten verfugte. [98] Tantya Tope, der als einer der fahigsten indischen Militarfuhrer des Aufstands gilt, obwohl er uber keine militarische Ausbildung verfugte, [86] hielt sich unweit Kanpurs auf und hatte dort mehr als 15.000 aufstandische Soldaten versammelt. Durch ein sehr dichtes Netz an Informanten war er uber die britischen Truppenbewegungen und -starken genau informiert und naherte sich Kanpur, sobald er sicher war, dass Colin Campbells Truppen zu weit von Kanpur entfernt waren, um schnell eingreifen zu konnen. General Windham versuchte am 26. November, Tantya Tope in einer offenen Schlacht zu stellen, und erlitt dabei eine deutliche Niederlage. [99] Die fliehenden Truppen verschanzten sich im Fort. Im Unterschied zur ersten Belagerung verfugten sie diesmal uber ausreichend Proviant. Die neuen Schanzanlagen boten einen besseren Schutz gegen Angriffe. Erneut kam es zu Massakern, als aufstandische indische Soldaten die Stadt Kanpur durchsuchten, um die aufzugreifen, die es nicht schnell genug hinter die Verschanzungen geschafft hatten. Mehrere Sikh-Frauen, deren Manner in den Truppen Colin Campbells kampften, wurden ermordet. Zwei verwundete britische Offiziere, die in indische Gefangenschaft gerieten, wurden demonstrativ an dem Baum in der Nahe des Bibighar erhangt, an dem zuvor James Neill seine indischen Gefangenen hangen ließ. [100] Indern, die Tantya Tope der Kollaboration mit den Briten verdachtigte, wurden die Nasen abgeschnitten und die Hande abgehackt. [101] Der aus Lakhnau herangeeilte Sir Colin Campbell griff am 6. Dezember mit 5.000 Infanterie- und 600 Kavalleriesoldaten die zahlenmaßig uberlegenen indischen Truppen an und konnte sie vernichtend schlagen. [97] Tantya Tope konnte entkommen.

Lakhnau war nach dem Abzug der britischen Truppen am 18. November 1857 wieder in indische Hand ubergegangen. Ende Februar 1858 fuhrte Colin Campbell erneut britische Truppen zum Angriff auf Lakhnau. Nach mehrtagigem Straßenkampf fiel Lakhnau am 15. Marz wieder an die Briten. Spatestens mit diesem Sieg konnten sich die Briten einer endgultigen Niederschlagung des Aufstands sicher sein. Indische Truppen kampften noch wahrend des gesamten Jahres 1858 gegen britische Truppen; die britische Seite war sich des Sieges jedoch so sicher, dass das britische Parlament im August 1858 den Government of India Act verabschiedete, der die großten Teile Indiens in eine Kronkolonie umwandelte. Das Ende des Aufstands wird haufig mit dem Todestag von Tantya Tope gleichgesetzt. Er hatte wahrend des gesamten Jahres 1858 vor allem durch Guerilla-Angriffe den Briten empfindliche Niederlagen zugefugt. Er wurde am 7. April 1859 von seinen eigenen Leuten verraten und am 18. April von den Briten erhangt. [102]

In der in den letzten Jahren veroffentlichten Sekundarliteratur finden sich keine Angaben zur Anzahl der Opfer auf britischer und indischer Seite. Relativ sicher ist lediglich, dass in den Kampfen 2.757 britische Soldaten fielen. [82] Auf tausend Mannschaftsgrade kamen 27 gefallene Soldaten (2,7 %). Unter den Offizieren starben vier Prozent. Dies ist verglichen mit dem Amerikanischen Burgerkrieg 1861 bis 1865 und dem Deutsch-Franzosischen Krieg 1870/71 eine verhaltnismaßig geringe Zahl. [82] Viele weitere britische Soldaten fanden allerdings durch Krankheiten den Tod. Allein wahrend eines dreitagigen Marsches im Juli 1858 starben 22 britische Soldaten durch Hitzschlag. [103] Auch die Anzahl der Zivilopfer auf britischer Seite ist trotz zahlreich vorhandener Primarquellen nicht bekannt. William Jonah Shepherd, der durch Zufall die Massaker in Kanpur uberlebte, wahrend seine Frau und Kinder den Tod fanden, gelang es selbst unmittelbar nach der Ruckeroberung von Kanpur nicht, eine Liste all der Briten und Eurasier aufzustellen, die in Kanpur den Tod fanden. [104] Seine Liste hatte jedoch kein vollstandiges Bild der Opfer der britischen Seite gegeben, da dieser Seite auch die indischen Bediensteten zuzurechnen waren, die loyal bei ihren Dienstherren ausharrten und dabei den Tod fanden. Offizielle Dokumente, auf deren Basis sich die Zahl der Opfer abschatzen ließe, wurden zum großten Teil wahrend der Belagerungen und bei den anschließenden Plunderungen zerstort.

Einigkeit besteht daruber, dass die Zahl der Toten auf indischer Seite die auf britischer Seite um ein Vielfaches ubertrifft. Hier ist die Quellenlage jedoch nochmals deutlich durftiger als fur die britische Seite. Es gibt einige Primarquellen, die die Ereignisse aus indischer Sicht schildern. Sie entstanden uberwiegend zu der Zeit, als sich die britische Seite unmittelbar nach oder gar wahrend des Aufstands von 1857 um eine Aufklarung einzelner Ereignisse bemuhte. Saul Ward schreibt zu diesen Quellen, dass die Neigung einiger Inder, den Briten nur zu erzahlen, was diese horen wollten, gewohnlich der Neigung der Briten entsprach, nur das wahrzunehmen, was sie fur zutreffend hielten . [105] Dies erschwert eine beiden Seiten gerecht werdende Beschreibung der Ereignisse und macht eine Bestimmung indischer Opferzahlen unmoglich.

Reaktionen in Großbritannien

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Gerechtigkeit ? zeitgenossische Karikatur im Magazin Punch

Nach dem Urteil des 1811 in Indien geborenen William Thackeray waren die Kenntnisse seiner britischen Zeitgenossen uber Indien sehr gering. Nach seiner Ansicht war es fur viele seiner Mitburger vor dem Ausbruch von 1857 ein Land mit marchenhaften Zugen und großem Reichtum. Die meisten hielten seine Einwohner fur schwache, friedliebende Anhanger aberglaubischer Religionen. Fur die britische Mittel- und Oberschicht war Indien nach wie vor das Land, in dem nicht erbberechtigte jungere Sohne Karriere machen konnten. Nur eine sehr geringe Anzahl von Briten hatten eine Vorstellung von indischen Sprachen, der Literatur und Philosophie oder genauere Kenntnisse der indischen Geschichte. [106] Als die ersten Nachrichten uber den Aufstand in Merath und Delhi Großbritannien am 27. Juni 1857 erreichten [107] , traf es die britische Bevolkerung mit traumatischer Wucht. Viele nahmen den Aufstand in Indien als Zeitenbruch und große nationale Krise wahr, forderten Rache fur die ermordeten Briten und verehrten Offiziere wie James Neill, John Nicholson , Henry Havelock, Colin Campbell und William Hodson als Heroen. [108] Charles John Canning , der sich darum bemuhte, den Aufstand mit Augenmaß zu beenden, wurde in der Presse als ? Timid Canning “ oder ? Clemency Canning “ verspottet. Unterstutzung fand er bei Queen Victoria , die sich besorgt uber die unchristlichen Rachegeluste ihrer Landsleute zeigte und ? mit Vehemenz eine undifferenzierte Verurteilung der Sepoys ablehnte “. [109]

Eine große Anzahl gebildeter Briten erkannte desillusioniert eine große Kluft zwischen dem eigenen nationalen Selbstbild und der Fremdwahrnehmung ihrer vermeintlich dankbaren imperialen Subjekte. [110] Große Teile der Presse pragten zwar ein stereotypes Bild vom vergewaltigenden, folternden und verraterischen Sepoy; sehr bald setzte aber eine differenzierte Berichterstattung ein. William Howard Russell , ein Kriegskorrespondent der Times, war ab Herbst 1857 in Indien und berichtete kritisch uber die Niederschlagung des Aufstands. Er prophezeite einen Zusammenbruch des Britischen Empires aufgrund eines politischen und moralischen Versagens des Imperialismus [111] und konfrontierte seine Leser mit den Kriegsverbrechen, die die britische Seite beging. In seinen spater veroffentlichten indischen Tagebuchern [112] hielt er fest, dass die Aufstandischen in Oudh in einem patriotischen Krieg ihr Vaterland verteidigten und deshalb als ehrenhafte Feinde zu behandeln seien. [113] Ahnlich differenziert setzte sich die britische Historiographie mit den Ereignissen auseinander. [114] Charles Ball zitierte in seiner ca. 1860/1861 erschienenen Geschichte des indischen Aufstands [115] noch unkritisch und undifferenziert auch fragwurdige Augenzeugenberichte. Er konfrontierte seine Leser aber auch mit der Brutalitat der britischen Vergeltungsmaßnahmen. [116] Sehr viel kritischer analysierte Montgomery Martin den Aufstand in Indien. [117] Christopher Herbert bezeichnet dieses Werk als das, was am weitesten von der im 19. Jahrhundert weit verbreiteten eurozentrischen Sichtweise des indischen Aufstands entfernt war, die den Aufstand vor allem als ein Drama mit diabolischen Sepoys und heroischen britischen Helden und Martyrern darstellte. [118] Ein bezeichnender Wandel in der britischen Historiographie erfolgte allerdings erst im Jahre 1924 mit Edward John Thompsons The other Side of the Medal , der seine kritische Darstellung des Aufstandes als Ausgangspunkt einer Kritik des britischen Imperialismus in Indien nutzte. [119]

Die britische Offentlichkeit setzte sich mit den Ereignissen starker auseinander als mit dem Krimkrieg , obwohl die Zahl der britischen Opfer im Krimkrieg deutlich hoher gewesen war. Die intensive Auseinandersetzung zeigt sich in einer sehr hohen Zahl an Erinnerungen, Biografien und bildlichen Darstellungen. [120] Bis 1947 erschienen in Großbritannien nicht weniger als achtzig Romane, deren Handlung vor dem Hintergrund des indischen Aufstands von 1857 spielte. [121]

Reorganisation Indiens

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Dieses Foto zeigt Bahadur Shah II. im Alter von 82 Jahren kurz vor seiner Verurteilung in Delhi 1858. Es ist moglicherweise die einzige Fotografie, die je von einem Mogulkaiser gemacht wurde.

Nach der Niederwerfung des Aufstands wurde die Britische Ostindien-Kompanie aufgelost, da die britische Regierung in deren Praktiken bei der Behandlung der indischen Bevolkerung die Hauptursache fur den Aufstand sah. Britisch-Indien wurde zu einer formellen Kronkolonie. Der letzte nur noch nominell regierende 80-jahrige Großmogul Bahadur Shah Zafar II. wurde abgesetzt und nach Birma verbannt, wo er 1863 starb.

Im Verlauf der kommenden Jahrzehnte sollte die Kluft zwischen Briten und Indern, also Kolonialherren und imperialen Subjekten, noch weiter auseinanderbrechen. In der von der britischen Presse gepragten Vorstellungswelt der Briten manifestierten sich jene Stereotype vergewaltigender, folternder und verraterischer Sepoys. [122] Die Briten waren in den folgenden Jahren um eine enge Bindung der indischen Aristokratie an die britische Administration bemuht und sahen von extensiven gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Reformen ab. Jegliche religiose Intervention wurde unterbunden, was zu einem Aufbluhen der orthodoxen Stromungen des Hinduismus fuhrte. [123] Wahrend Großbritannien unter der Politik der Nichteinmischung die agrarwirtschaftlichen Gewinne Indiens fur sich zu sichern versuchte, erlebte die indische Gesellschaft eine lange Phase des Stillstands oder, wie Klein es formuliert, ?the development of underdevelopment“. [124]

Der am 8. April gehangte Mangal Pandey wird gemeinhin als erster Unabhangigkeitskampfer Indiens verehrt. Die jugendliche Rani von Jhansi Lakshmibai wurde hier durch ihren standhaften Widerstand bei der Verteidigung der Festung Jhansi sowie in den nachfolgenden Gefechten und ihren fruhen Tod zur Volksheldin Indiens (die ?Jeanne d’Arc von Indien“).

Orte der Erinnerung an den Aufstand von 1857

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Steintafel am Kaschmirgate zur Erinnerung an die Ruckeroberung am 14. September 1857
Gedenktafel fur die gefallenen Britischen Soldaten des York and Lancaster reg. im York Minster

Eine Reihe von Gebauden und Orten, die wahrend des Aufstands von 1857 eine Rolle spielten, erinnern heute mit Denk- und Grabmalern sowie Hinweistafeln an die Geschehnisse der Jahre 1857 bis 1859. Das Rote Fort in Delhi zahlt seit 2007 zum Weltkulturerbe der Unesco . Dort ist unter anderem die private Audienzhalle (Diwan-i-Khas) offentlich zuganglich, vor der sich am 11. Mai 1857 die aufstandischen Sepoys versammelten. Das Kaschmirtor in Delhi, das zu Beginn des Aufstands und wahrend der Ruckeroberung Ort heftiger Kampfe war, ist heute ein Nationalmonument. In der in seiner Nahe befindlichen St. James Church erinnern in zahlreiche Tafeln an britische Regimenter sowie Einzelpersonen, die wahrend des indischen Aufstands eine Rolle spielten. In Merath finden sich auf dem Friedhof der ehemaligen britischen Garnison die Graber der britischen Opfer, die am Abend und in der Nacht des 10. Mai 1857 ums Leben kamen. [125] Sikandar Bagh , in dem wahrend der Ruckeroberung von Lakhnau zahlreiche Inder ums Leben kamen, ist wieder aufgebaut worden und beherbergt heute das National Botanical Research Institute von Indien. An der Stelle, an der sich die Garnison von Kanpur uber Wochen verteidigte, wurde von den Briten kurz nach Beendigung des Aufstands eine große Kirche errichtet, die heute noch erhalten ist und in der auf Steintafeln die Namen der britischen Personen festgehalten sind, die wahrend der Belagerung ums Leben kamen. Im Boden rund um die Kirche markieren Steine den Verlauf des Verteidigungswalls. Um den Brunnen, in den die Opfer des Massakers im Bibighar geworfen wurden, wurde von den Briten ein Park gestaltet, der bis zur Unabhangigkeit Indiens nur Europaern und indischen Christen zuganglich war. Der Park wurde nach der Unabhangigkeit Indiens umgestaltet. Denkmaler im Park erinnern an Nana Sahib und Tantya Tope . Der Baum, an dem die Briten 1857 Hunderte Inder erhangten , auch wenn nur ein geringfugiger Anlass zu dem Verdacht bestand, dass sie an den Massakern beteiligt waren, befindet sich gleichfalls in dem Park. Der Baum ist mittlerweile umgesturzt. [126]

  • Harold E. Raugh jr.: The Raugh bibliography of the Indian Mutiny, 1857-1859 . Helion, Solihull 2015. 903 S. ? ?Quite a definitive bibliography“ (Raugh).
  • Sashi Bhusan Chaudhuri: English Historical Writings on The Indian Mutiny 1857?1859. World Press, Calcutta 1979.
  • William Dalrymple : The Last Mughal. The Fall of a Dynasty, Delhi, 1857. Bloomsbury Publishing, London 2006, ISBN 0-7475-8726-4 .
  • Saul David : The Indian Mutiny. 1857. Penguin Books, London 2003, ISBN 0-14-100554-8 .
  • Saul David: Victoria’s Wars. Penguin Books, London 2006, ISBN 0-14-100555-6 .
  • Don Randall: Autumn 1857. The Making of the Indian Mutiny. In: Victorian Literature and Culture. Bd. 31 (2003), ISSN   0092-4725 , S. 3?17.
  • Astrid Erll: Pramediation ? Remediation. Reprasentationen des indischen Aufstands in imperialen und post-kolonialen Medienkulturen (von 1857 bis zur Gegenwart). WVT, Trier 2007, ISBN 978-3-88476-862-4 (zugl. Habilitationsschrift, Universitat Gießen).
  • Niall Ferguson : Empire. The Rise and Demise of the British World Order. Basic Books, New York NY 2003, ISBN 0-465-02328-2 .
  • Christopher Herbert: War of no Pity. The Indian Mutiny and Victorian Trauma. Princeton University Press, Princeton NJ 2008, ISBN 978-0-691-13332-4 .
  • Christopher Hibbert: The great mutiny. India 1857. Allan Lane, London 1978. ? Nachdrucke bei Penguin, Harmondsworth 1980, 1988 und 2002. ? ?By far the best single-volume description of the mutiny yet written“ ( The Economist ).
  • Lawrence James: Raj. The Making of British India. Abacus, London 1997, ISBN 0-349-11012-3 .
  • Dennis Judd: The Lion and the Tiger. The Rise and Fall of the British Raj, 1600?1947. University Press, Oxford 2004, ISBN 0-19-280579-7 .
  • John William Kaye: History of the Sepoy War in India. Drei Bande. Allen, London 1864?76.
  • Ira Klein: Materialism, Mutiny and Modernization in British India. In: Modern Asian Studies. 34, 3 (2000), ISSN   0026-749X , S. 545?580.
  • Thomas R. Metcalf: The Aftermath of Revolt. India 1857?1870. Princeton University Press, Princeton NJ 1964 (Paperback-Neuauflage: Manohar, New Delhi 1990, ISBN 81-85054-99-1 ).
  • Tapti Roy: The politics of a popular uprising. Bundelkhand in 1857. Oxford University Press, Delhi 1994, ISBN 0-19-563612-0 .
  • Surendra Nath Sen: Eighteen fifty-seven. Min. of Information & Broadcasting, Delhi 1957 (mit einem Vorwort von Maulana Abul Kalam Azad ).
  • Julian Spilsbury: The Indian Mutiny. Weidenfeld & Nicolson, London 2007, ISBN 978-0-297-84651-2 .
  • P. J. O. Taylor: What really happened during the mutiny. A day-by-day account of the major events of 1857?1859 in India. Oxford University Press, New Delhi 1999, ISBN 0-19-565113-8 .
  • Andrew Ward: Our Bones are Scattered: Cawnpore Massacres and the Indian Mutiny of 1857. John Murray Publishers, London 2004, ISBN 0-7195-6410-7 .
  • Andrew N. Wilson: The Victorians . Hutchinson Books, London 2007, ISBN 978-0-09-179622-8 .
  • Peers, Douglas M. (2013): India under Colonial Rule: 1700?1885. Routledge, ISBN 978-1-317-88286-2 .
Commons : Indischer Aufstand von 1857  ? Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Einzelnachweise

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  1. Vgl. beispielsweise Niall Ferguson : Empire. The Rise and Demise of the British World Order . Basic Books, New York 2003, ISBN 0-465-02328-2 , S. 145?153, und William Dalrymple : The Last Mughal. The Fall of a Dynasty, Delhi, 1857 . Bloomsbury Publishing, London 2006, ISBN 978-0-7475-8726-2 , S. 58?84, sowie Christopher Herbert: War of no Pity. The Indian Mutiny and Victorian Trauma . Princeton University Press, Princeton 2008, ISBN 978-0-691-13332-4 , fur die Wertung des Aufstands im 19. Jahrhundert.
  2. Chaudhuri, S. 13.
  3. Vinayak Damodar Savarkar: The Indian war of independence. National rising of 1857 , London 1909. Das Wort first erscheint nicht im Titel; Savarkar verwendete diese Bezeichnung im Text.
  4. Erll, S. 21.
  5. Ward, S. 6.
  6. Ward, S. 448.
  7. Spilsbury, S. 7f.
  8. Dalrymple, S. 38f.
  9. Dalrymple, S. 39.
  10. Dalrymple, S. 37.
  11. Spilsbury, S. 35f.
  12. David (2006), S. 307.
  13. Dalrymple, S. 10.
  14. Hibbert, S. 47.
  15. a b David (2006), S. 295.
  16. Wilson, S. 203.
  17. Wilson, S. 203 und 207.
  18. David (2006), S. 297.
  19. David (2006), S. 298.
  20. David (2006), S. 296.
  21. Piers Brendon: The Decline and Fall of the British Empire. 1781?1997 . Jonathan Cape, London 2007, S. 130f.
  22. Christopher Herbert: War of no Pity. The Indian Mutiny and Victorian Trauma , Princeton University Press, Princeton 2008, ISBN 978-0-691-13332-4 , S. 42.
  23. James, S. 223.
  24. Ferguson, S. 136.
  25. Ferguson, S. 136. Das Zitat lautet im englischen Original: ?The inhabitants of the populous regions in India which form an important portion of the British Empire, being involved in the most deplorable state of moral darkness, and under the influence of the most abominable and degrading superstitions, have a pre-eminent claim on the most compassionate feelings and benevolent services of British Christians.“
  26. Ferguson, S. 157.
  27. a b Kulke et al., S. 313.
  28. Dalrymple, S. 59ff.
  29. Dalrymple, S. 60f.
  30. Dalrymple, S. 62 und James, S. 235.
  31. David (2006), S. 294.
  32. a b Dalrymple, S. 69.
  33. Ward, S. 11.
  34. a b Hibbert, S. 62.
  35. David (2006), S. 291f.
  36. A. N. Wilson: The Victorians . Arrow Books, London 2003. ISBN 0-09-945186-7 , S. 201.
  37. David (2006), S. 292ff.
  38. David (2006), S. 293.
  39. Hibbert, S. 68?72.
  40. Eine sehr detaillierte Schilderung der Vorkommnisse in Merath findet sich bei Hibbert, S. 75?90
  41. a b Wilson, S. 204.
  42. Hibbert, S. 92f.
  43. Hibbert, S. 97f.
  44. Dalrymple, S. 171?174.
  45. Dalrymple, S. 221f.
  46. Eine detaillierte Schilderung der Flucht der Europaer aus Delhi findet sich u. a. bei Dalrymple, S. 143?193 und Spilsbury, S. 35?69.
  47. Dalrymple, S. 222ff., und James, S. 240f.
  48. James, S. 243.
  49. James, S. 244f.
  50. James, S. 241ff.
  51. Beide Zitate stammen aus George Trevelyan: Cawnpore , 1865, zitiert nach Herbert, S. 183.
  52. James, S. 234.
  53. Ward, S. 34?40.
  54. Ward, S. 168ff.
  55. Ward, S. 170.
  56. Eine ausfuhrlichere Charakterisierung von Nana Sahib findet sich bei Hibbert, S. 172?177.
  57. a b James, S. 248.
  58. Hibbert, S. 177.
  59. James, S. 251.
  60. a b James, S. 252.
  61. David (2006), S. 315.
  62. Herbert, S. 4.
  63. Wilson, S. 216.
  64. Ward, S. 243.
  65. David (2006), S. 317.
  66. a b David (2006), S. 334.
  67. David (2006), S. 334?341.
  68. Wilson, S. 217.
  69. David (2006), S. 350.
  70. David (2006), S. 350f.
  71. David (2006), S. 351.
  72. David (2006), S. 351f.
  73. James, S. 245f.
  74. a b c James, S. 253.
  75. Ward, S. 392: Die strafversetzten Soldaten aus Kalkutta bezeichnet Ward als ?the usual crapulous und semisuicidal deserters and derelicts dragged out of the grog shops and flophouses of Calcutta“.
  76. Ward, S. 402.
  77. Ward, S. 396.
  78. David (2006), S. 324f.
  79. a b David (2006), S. 325.
  80. Ward, S. 403.
  81. James, S. 246.
  82. a b c James, S. 254.
  83. a b A. N. Wilson: The Victorians , London 2002, ISBN 0-09-945186-7 , S. 209.
  84. Herbert, S. 183.
  85. Brief des Private Potiphar der 9th Lancers, zitiert nach James, S. 256.
  86. a b James, S. 256.
  87. Ward, S. 439.
  88. Ward, S. 443.
  89. Ward, S. 441f.
  90. Herbert, S. 192.
  91. Ward, S. 477.
  92. James, S. 258.
  93. Siehe beispielsweise James, S. 258f., sowie fur eine sehr detaillierte Schilderung der Ereignisse in Delhi: Dalrymple, S. 264?364.
  94. James, S. 259.
  95. James, S. 260.
  96. Ward, S. 500.
  97. a b James, S. 261.
  98. Ward, S. 478.
  99. Ward, S. 480f.
  100. Ward, S. 483.
  101. Ward, S. 484.
  102. James, S. 262.
  103. James, S. 255.
  104. Ward, S. 542.
  105. Ward, S. 555. Im Original lautet das Zitat: ?The disposition of some Indians of the time to tell the British only what they wanted to hear was usually matched by the British inclination to hear only what they wanted to believe.“
  106. William Thackeray zitiert nach James, S. 279ff.
  107. James, S. 278.
  108. Herbert, S. 2.
  109. Wilson, S. 219.
  110. Herbert, S. 16f.
  111. Herbert, S. 65.
  112. William Henry Russel: My Diary in India, in the Year 1858-9 .
  113. Herbert, S. 79.
  114. Fur eine detaillierte Bewertung zeitgenossischer Geschichtsschreibung siehe Herbert, S. 134?204.
  115. Charles Ball: History of the Indian Mutiny , 1860/1861.
  116. Herbert, S. 155.
  117. R. Montgomery Martin: The Mutiny of the Bengal Army , Band 2 des dreibandigen Werkes The Indian Empire , erschienen 1861.
  118. Herbert, S. 164.
  119. Edward John Thompson: The other Side of the Medal , erschienen 1924.
  120. Herbert, S. 3.
  121. Nancy L. Paxton: Writing under the Raj: Gender, Race and Rape in the British Colonial Imagination . Rutgers University Press, New Brunswick 1999, ISBN 0-8135-2601-9 , S. 118.
  122. Herbert, S. 16f.
  123. Judd, S. 90.
  124. Klein, S. 545?548.
  125. Spilsbury, S. 352.
  126. Spilsbury, S. 354.