Humanokologie

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Die Humanokologie ist ein interdisziplinares Forschungsfeld, das die Beziehungen zwischen Menschen und ihrer (naturlichen) Umwelt behandelt. Untersucht wird dabei, wie Menschen und Gesellschaften mit der Natur oder Umwelt in Wechselwirkung treten und interagieren. Entsprechend sind soziookologische Systeme Gegenstand der Humanokologie.

Entwicklung der Humanokologie [ Bearbeiten | Quelltext bearbeiten ]

Die Humanokologie geht zuruck auf Vorarbeiten in den fruhen Jahren des 20. Jahrhunderts durch die Chemikerin Ellen Swallow Richards (1842?1911) und den Geographen J. Paul Goode (1862?1932); weitere Traditionslinien lassen sich benennen. [1] Als eigenes Forschungsfeld entstand die Humanokologie seit den 1920er Jahren zunachst in den USA aufbauend auf den Arbeiten von Soziologen der Chicagoer Schule , wie Louis Wirth , Robert Ezra Park , Ernest Burgess und Roderick McKenzie . Weitere wichtige Autoren dieser Zeit waren Howard Washington Odum und der indische Soziologe Radhakamal Mukerjee (1889?1968). [2] In bewusster Abgrenzung zu anderen Fachern versuchte der Geograph Harlan H. Barrows (1877?1960), Humanokologie als das ureigene Betatigungsfeld geographischer Forschung zu definieren; [3] er verstand unter Humanokologie die Analyse der gegenseitigen Beziehungen zwischen dem Menschen und seiner naturlichen Umwelt. [4]

Seit den 1930er Jahren war anerkannt, dass der Mensch als tierisches Lebewesen okologischen Gesetzmaßigkeiten unterliegt. G. P. Wells, Julian Huxley und H.G. Wells diskutierten in ihrem Buch Science of Life auch die Beziehungen zwischen Allgemeiner und Humanokologie; der Blick richtete sich insbesondere auf Anpassungsvorgange. [5]

Nachdem in den 1950er-Jahren humanokologisches Gedankengut innerhalb der Soziologie eher selten vertreten wurde (Ausnahme beispielsweise Amos Hawley ), wurden in den 1970er-Jahren humanokologische Themen in der Soziologie insbesondere von William R. Catton (1926?2015) und Riley E. Dunlap wieder prominenter aufgegriffen. Die Kernidee von Catton und Dunlap war es, sich von dem Durkheimschen Paradigma wegzubewegen, soziale Tatsachen nur durch andere soziale Tatsachen zu erklaren. Stattdessen wollten sie physikalische und biologische Faktoren als unabhangige, die Sozialstruktur und andere soziale Phanomene beeinflussende Variablen in die Soziologie einbringen. Dieser Paradigmenwechsel kann als Wechsel weg vom klassisch-soziologischen human exemptionalism paradigm (HEP) hin zu einem new ecological paradigm oder new environmental paradigm (NEP) beschrieben werden. Gemeint ist damit, dass Menschen nicht langer als Ausnahmespezies betrachtet werden, die kulturfahig und damit auch außerhalb genetischer Evolution anpassungsfahig ist und starker durch soziale als durch biologische Vorgaben beeinflusst wird. Stattdessen werden Menschen im Rahmen der Humanokologie als eine von vielen Spezies betrachtet, die mit der begrenzten naturlichen Umgebung in einem Wechselverhaltnis steht. Eine Konfliktlinie zwischen diesem neuen Paradigma und dem klassischen soziologischen Ansatz lag in den Augen vieler Kritiker darin, dass damit Gesellschaft und Kultur abgewertet werden. [6]

Seit den 1970er Jahren entwickelte sich die zunachst eher soziologische und geographische Humanokologie zu einem multidisziplinaren Ansatz weiter. In den meisten Landern Europas entstand eine Humanokologie erst seit den 1970er Jahren. [7]

Naturwissenschaftliche Fundierung [ Bearbeiten | Quelltext bearbeiten ]

Auch im deutschsprachigen Raum wird Humanokologie oft naturwissenschaftlich interpretiert, als Gegenstromung zu einer soziologischen Interpretation. Dies grundet unter anderem auf dem Einfluss von Eugene P. Odum , der 1959 in den USA mit einem der ersten umfassenden Lehrbucher fur (naturwissenschaftliche) Okologie ? Fundamentals of Ecology  ? auch den Menschen ausdrucklich einbezog. Zwar kommt dem Menschen auf Grund seiner großen Anzahl und seiner besonderen Moglichkeiten eine besondere Rolle fur das Okosystem Erde zu, jedoch gehen Informations-, Energie- und Stoffflusse durch die menschliche Gesellschaft in durchaus vergleichbarer Weise wie durch die Populationen anderer Arten, so dass eine naturwissenschaftliche Sichtweise berechtigt ist. Im naturwissenschaftlichen Zugang zu den Wirtschaftswissenschaften folgen diesem Ansatz deshalb auch Warenlehre und Biookonomik . Ein modernes Lehrbuch der Humanokologie hat beispielsweise Wolfgang Nentwig verfasst. [8]

Einordnung der Humanokologie [ Bearbeiten | Quelltext bearbeiten ]

Die Humanokologie befindet sich an der Schnittstelle zwischen Sozial- und Naturwissenschaften . Entsprechend werden humanokologische Ansatze von Vertretern vieler verschiedener Fachbereiche betrieben, im Wesentlichen beteiligen sich:

Je nach Fragestellung beteiligen sich auch Nachbardisziplinen wie Agrarsoziologie , Stadt- und Landschaftsplanung , Wirtschafts- und Geschichtswissenschaften .

Vor allem in der Geographie (Erdkunde), welche sich ja selbst an der Schnittstelle zwischen Sozial- und Naturwissenschaft befindet, ist der humanokologische Ansatz von Bedeutung: Er hilft, die Polaritat von Humangeographie und Physischer Geographie zu uberwinden, und leistet damit einen grundlegenden Beitrag zu einer ganzheitlichen Mensch-Umwelt-Forschung.

Ein immer wichtigeres Forschungsthema im Bereich der Humanokologie ist die nachhaltige Entwicklung .

Definition von der Deutschen Gesellschaft fur Humanokologie [ Bearbeiten | Quelltext bearbeiten ]

Die Deutsche Gesellschaft fur Humanokologie wurde 1975 gegrundet. Sie war zunachst sozialmedizinisch ausgerichtet. Heute definiert sie die Humanokologie wie folgt: [9]

?Die Humanokologie ist eine neuartige wissenschaftliche Disziplin, deren Forschungsgegenstand die Wirkungszusammenhange und Interaktionen zwischen Gesellschaft, Mensch und Umwelt sind. Ihr Kern ist eine ganzheitliche Betrachtungsweise, die physische, kulturelle, wirtschaftliche und politische Aspekte einbezieht. Der Begriff Humanokologie stammt ursprunglich von den soziologischen Arbeiten der Chicago-Schule um 1920 und verbreitet sich seitdem als Forschungsperspektive in den Natur-, Sozial- und Planungswissenschaften sowie in der Medizin.“

?Neue Humanokologie“ [ Bearbeiten | Quelltext bearbeiten ]

Der deutsche katholische Theologe und Politikphilosoph Jurgen Manemann pladiert angesichts des globalen Klimawandels fur eine ?neue Humanokologie“. In ihrem Zentrum stehe die Uberzeugung, dass eine weitere Homininisierung der Welt, ihre vorangetriebene Aneignung durch den Menschen, wie sie von den Vertretern der Idee des Anthropozans gefordert wird, die Welt in ein Desaster fuhren werde. Manemann zielt deshalb auf ein neues Verstandnis der Humanokologie jenseits von Anthropozentrismus und Biozentrismus . Die neue Humanokologie stehe fur das Projekt einer tieferen Humanisierung (vergleiche Humanismus ).

Im Angesicht von Klimakatastrophen sei intensiver daruber nachzudenken, was das Humanum auszeichne und was es heiße, ein humanes Leben zu fuhren. Wesentlich fur das Humanum sei Humanitat . Darunter versteht Manemann die Fahigkeit, Leid zu empfinden und sich betreffen zu lassen vom Leid des Anderen, also der anderen Menschen, der Tiere und der ubrigen Natur. Diese Humanitat sei die Voraussetzung fur ?Mitleidenschaft“ ( Johann Baptist Metz ), die sich nicht in einem passiven Mitleiden erschopfe, sondern befahige, aktiv gegen die Ursachen des Leidens der Anderen Widerstand zu leisten. Wichtig sei nicht eine weitere Hominisierung der Welt, sondern eine tiefere Humanisierung des Menschen. Manemann entwirft eine neue Humanokologie, die auf eine Transformation der Zivilgesellschaft zu einer ?Kulturgesellschaft“ ( Adrienne Goehler ) zielt. [10]

Siehe auch [ Bearbeiten | Quelltext bearbeiten ]

Literatur [ Bearbeiten | Quelltext bearbeiten ]

Weblinks [ Bearbeiten | Quelltext bearbeiten ]

Einzelnachweise [ Bearbeiten | Quelltext bearbeiten ]

  1. Karl Bruckmeier Die unbekannte Geschichte der Humanokologie . In: Wolfgang Serbser Humanokologie Munster 2003, S. 45?120.
  2. Eugene Cittadino The Failed Promise of Human Ecology in: Michael Shortland (Hg.) Science and Nature: Essays in the History of the Environmental Sciences London 1993, S. 252f.
  3. Harlan H. Barrows: Geography as Human Ecology . In: Annals of the Association of American Geographers . Band   13 , Nr.   1 , 1923, S.   1?14 , doi : 10.1080/00045602309356882 .
  4. Karl Bruckmeier Die unbekannte Geschichte der Humanokologie . In: Wolfgang Serbser Humanokologie , hier S. 47.
  5. Charles C. Adams The Relation of General Ecology to Human Ecology, Ecology 16 (1935): 316-35.
  6. Dies wurde von manchen Soziologen als Angriff betrachtet, hat sich aber heute als Selbstverstandlichkeit durchgesetzt, auch in anderen Unterdisziplinen wie der Akteur-Netzwerk-Theorie innerhalb der Wissenschaftssoziologie.
  7. Karl Bruckmeier Die unbekannte Geschichte der Humanokologie . In: Wolfgang Serbser Humanokologie , hier S. 46.
  8. Wolfgang Nentwig : Humanokologie. Fakten ? Argumente ? Ausblicke. 2. Auflage. Springer, Berlin 2005, ISBN 3-540-21160-8 .
  9. Deutsche Gesellschaft fur Humanokologie: Organisation. ( Memento vom 11. Dezember 2009 im Internet Archive ) Berlin, abgerufen am 24. September 2014.
  10. Jurgen Manemann: Kritik des Anthropozans. Pladoyer fur eine neue Humanokologie. transcript, Bielefeld 2014.