James Harold Wilson, Baron Wilson of Rievaulx
K.G.
(*
11. Marz
1916
in
Huddersfield
,
Yorkshire
; †
24. Mai
1995
in
London
) war ein
britischer
Politiker der
Labour Party
. Von Oktober 1964 bis Juni 1970 sowie von Marz 1974 bis Marz 1976 war er
Premierminister
des Vereinigten Konigreichs.
Wilson ist der einzige Labour-Parteichef, der nach vier Unterhauswahlen eine Labour-Regierung bilden konnte. Weil die Regierung, die aus der Unterhauswahl Ende Februar 1974 hervorging, nur eine Minderheitsregierung war (Labour gewann zwar mehr Parlamentssitze als alle anderen Parteien, es reichte aber nicht fur eine absolute Mehrheit), ist er zusammen mit
Tony Blair
auch der einzige Labour-Parteichef, der nach drei Unterhauswahlen Labour-Mehrheitsregierungen bilden konnte.
Harold Wilson wurde im Jahre 1916 geboren, im gleichen Jahr wie sein Gegenspieler
Edward Heath
. Er studierte
Wirtschaftswissenschaften
in
Oxford
, wo er sein Interesse fur
Politik
entdeckte. Nachdem er wahrend des
Zweiten Weltkriegs
als Beamter gedient hatte, wurde er 1945 als Abgeordneter des Wahlkreises
Ormskirk
ins
britische Unterhaus
gewahlt. Nach einer Wahlkreisreform im Jahre 1950 reprasentierte er den Wahlkreis Huyton bei
Liverpool
.
Gleich nach seiner Wahl wurde er ins
Kabinett
Clement Attlees
berufen und war damit jungster Minister aller Zeiten. Er trat 1951 zuruck, aus Protest uber die Einfuhrung von Gebuhren im ansonsten kostenlosen britischen
Gesundheitssystem
, dem 1948 geschaffenen
National Health Service
.
Der Rucktritt wurde ihm nicht nachgetragen; er wurde kurz darauf als potentieller Finanzminister ins
Schattenkabinett
berufen, aber Churchill gewann die
Unterhauswahl im Oktober 1951
und eine 13-jahrige Ara konservativer Regierungen begann. 1956 pragte Wilson den Begriff der
Gnomen von
Zurich
und meinte damit gewisse
Schweizer Bankiers
, welche mit Spekulationen den Kurs des
britischen Pfunds
druckten ? das Vereinigte Konigreich hatte damals ein großes Zahlungsbilanzdefizit.
[1]
1960 versuchte er erfolglos, den Parteivorsitz zu ubernehmen. Als
Hugh Gaitskell
, der Vorsitzende der
Labour Party
, am 18. Januar 1963 uberraschend starb, wurde Wilson zu seinem Nachfolger gewahlt, obwohl Teile der Partei ihn als Opportunisten und Trickser betrachteten und ihn daher ablehnten. Der hochrangige Labour-Politiker
Anthony Crosland
bezeichnet die interne Entscheidung zwischen Wilson und
George Brown
als Wahl ?zwischen einem Gauner und einem Saufer“ (Brown wurde ein Alkoholproblem nachgesagt).
[2]
Die Labour Party gewann am 16. Oktober
1964 die Parlamentswahlen
mit einer Mehrheit von nur 5 Sitzen und Wilson wurde Premierminister. Nach einer kurzen, aber erfolgreichen Amtsperiode gewann Labour die
Unterhauswahlen am 31. Marz 1966
mit einer komfortablen Mehrheit von 99 Sitzen (Wilson hatte vorgezogene Wahlen herbeigefuhrt; ein im
politischen System des Vereinigten Konigreichs
ubliches Procedere). Wilson war bald bekannt dafur, in der Offentlichkeit
Pfeife
zu rauchen und seine Ferien stets auf den
Scilly-Inseln
zu verbringen. Seine Gegner warfen ihm Verschlagenheit vor. Er stemmte sich jahrelang gegen die
Abwertung
des Pfunds (damals gab es das
Bretton-Woods-System
, ein System mit
Wechselkursbandbreiten
). Als er dann schließlich gezwungen war, diese Maßnahme zu treffen, prasentierte er dies in den Medien als Erfolg.
In Wilsons erster Amtszeit grundete die Regierung eine Reihe neuer Universitaten, nach dem damals modernen Architekturstil
plate-glass universities
(?Flachglas-Universitaten“) genannt, darunter z. B. die
University of Kent
,
University of Warwick
und
University of Bath
. Wilson selbst nannte diese scherzhaft “the
Baedeker
universities”, weil sie uberwiegend in (bzw. in der Nahe von) historischen Stadten in vergleichsweise wohlhabenden Gegenden errichtet wurden.
[3]
In der
University of Bradford
, die 1966 von einer Technischen Hochschule zur Universitat erhoben wurde, fungierte Wilson von 1966 bis 1985 als
Kanzler
. Zudem grundete die Regierung Wilson 1969 die
Open University
, eine zulassungsfreie Fernuniversitat. Im Sekundarschulwesen trieb Wilson die
Comprehensive School
(Gesamtschule) voran. Der Anteil der Kinder, die diesen Schultypus besuchten, stieg zwischen 1966 und 1970 von 10 auf 30 Prozent. Allerdings wollte Wilson nach eigener Aussage die gehobenen
Grammar Schools
nicht abschaffen, sondern bewarb die Comprehensive Schools als ?Grammar Schools fur alle“.
[4]
Ein weiteres wichtiges Thema in Wilsons erster Amtszeit war der Wohnungsbau. Von 1965 bis 1970 wurden 1,3 Millionen neue Wohnungen gebaut, der Anteil an
Gemeindebauten
(council housing)
stieg von 42 auf 50 Prozent. 1968 fuhrte Wilsons Regierung das
Option Mortgage Scheme
ein, eine Subvention auf Hypothekenzinsen, um Geringverdienern den Erwerb eines Eigenheims zu ermoglichen. Zudem legte die Regierung Wilson ganze neue Stadte auf der ?grunen Wiese“ an, die
New towns
. Die großte darunter,
Milton Keynes
, hat inzwischen uber 200.000 Einwohner.
Die
Außenpolitik
wurde durch Krisen in zahlreichen ehemaligen
britischen Kolonien
gepragt, besonders in
Rhodesien
und
Sudafrika
. Wilson widersetzte sich dem Druck, zur Unterstutzung der
USA
Truppen nach
Vietnam
zu schicken. Als Großbritannien mit wirtschaftlichen Problemen zu kampfen hatte, sank die Zustimmung der Wahler.
Als die Umfragewerte wieder gunstiger zu sein schienen, setzte Wilson Neuwahlen an. Zur Uberraschung fast aller politischen Beobachter verlor Labour die
Wahlen vom 19. Juni 1970
, und Wilson musste sein Amt an
Edward Heath
abgeben.
Trotz dieser Niederlage behauptete sich Wilson als Parteivorsitzender und kehrte nach den
Parlamentswahlen im Februar 1974
in
No. 10 Downing Street
zuruck. Heath war es nicht gelungen, die Probleme zu losen, mit denen bereits Wilson zu kampfen gehabt hatte.
Weil die Wahl vom Februar 1974
keiner der beiden großen Parteien eine absolute Mehrheit
im Unterhaus beschert hatte (die Konservativen errangen die meisten Stimmen, wahrend Labour die meisten Sitze im Unterhaus erreichte), bewirkte Wilson im September 1974 Neuwahlen, diese ergaben
am 16. Oktober 1974
eine absolute Mehrheit der Unterhaussitze fur Labour. Einige Monate spater loste Wilson ein Wahlversprechen ein und ließ
am 5. Juni 1975 eine Volksabstimmung
uber die Mitgliedschaft des Landes in der
Europaischen Wirtschaftsgemeinschaft
abhalten. Die Befurworter, zu denen auch Wilson selbst gehorte, gewannen mit 67 % der Stimmen.
Wilsons Grab auf
St Mary’s
Am 16. Marz 1976 erklarte Wilson uberraschend seinen Rucktritt als Premierminister und erklarte, er wolle sich ganz aus der Politik zuruckziehen. Er gab an, er habe schon immer vorgehabt, mit 60 in Pension zu gehen und er sei korperlich und geistig erschopft, und er litt auch am Fruhstadium der
Alzheimerschen Krankheit
. Sein Gedachtnis und seine Konzentrationsfahigkeit zeigten immer mehr Schwachen.
Außenminister
James Callaghan
wurde als sein Nachfolger an der Parteispitze gewahlt und ubernahm in der Folge am 5. April 1976 von Wilson das Amt des Premierministers. Wilson blieb bis 1983 Parlamentsabgeordneter und wurde nach seinem Rucktritt als Baron Wilson of Rievaulx, of Kirklees im
County of West Yorkshire
zum
Life Peer
erhoben. Wilson war immer mehr von der Krankheit gezeichnet und wurde nach 1985 kaum mehr in der Offentlichkeit gesehen. Er starb schließlich am 24. Mai 1995 in London an
Darmkrebs
.
1940 heiratete er die Buroangestellte Mary Baldwin (
Gladys Mary Wilson, Baroness Wilson of Rievaulx
; 12. Januar 1916 bis 6. Juni 2018). Sie veroffentlichte in den 1970er Jahren zwei Bande mit Gedichten und war 1975 in der Jury fur den
Man-Booker-Preis
. Politisch war sie nicht immer auf der Seite ihres Mannes; sie stimmte in der
Volksabstimmung von 1975 gegen den EWG-Beitritt Großbritanniens
und unterstutzte die
Aktion gegen die atomare Bewaffnung
des Landes. Aus der Ehe gingen die Sohne Giles, der Lehrer wurde, und der 1943 geborene Mathematiker
Robin Wilson
hervor.
Die Regierungszeit von Harold Wilson ist als Reform-Ara in die Geschichte Großbritanniens eingegangen. Wilsons Versuche, den Haushalt in Ordnung zu bringen und neue Arbeitsgesetze durchzusetzen, brachten ihn teilweise in starken Gegensatz zu den Gewerkschaften, die um ihren Einfluss furchteten. Außenpolitisch fallen die Unabhangigkeit ehemaliger Kolonien (
Barbados
,
Mauritius
,
Swasiland
), die Aufgabe von Stutzpunkten ostlich von
Sues
(Ausnahme:
Hongkong
), die Unterzeichnung des
Atomwaffensperrvertrages
und verschiedene Bemuhungen um die Aufnahme und die Bedingungen Großbritanniens in der Europaischen Wirtschaftsgemeinschaft in seine Amtszeit.
- ↑
Alle sind so glucklich.
In:
Der Spiegel
.
25. April 1956.
- ↑
Andrew Marr:
A History of Modern Britain
. Macmillan, London 2007,
ISBN 978-1-4050-0538-8
, S. 236 Original:
a choice between a crook and a drunk
.
- ↑
Michael Shattock:
Making Policy in British Higher Education 1945-2011.
Open University Press, Maidenhead (Berks) 2012, S. 46.
- ↑
Jane Martin:
Education Policy.
In: Andrew S. Crines, Kevin Hickson:
Harold Wilson. The Unprincipled Prime Minister?
Biteback Publishing, London 2016, S. 131?148.