Gunnar Heinsohn
(*
21. November
1943
in
Gotenhafen
; †
16. Februar
2023
in
Danzig
,
Polen
) war ein deutscher
Wirtschaftswissenschaftler
und
Soziologe
, Professor fur
Sozialpadagogik
an der
Universitat Bremen
und freier
Publizist
. Einer breiteren Offentlichkeit wurde er durch
Chronologiekritik
und umstrittene Thesen zu
Bevolkerungspolitik
und
Demographie
bekannt.
Heinsohn war der dritte Sohn des
U-Boot
-Kommandanten Heinrich ?Henry“ Heinsohn (1910?1943) und der Roswitha Heinsohn, geb. Maurer (1917?1992). Heinrich Heinsohn war in
Gdingen
(damals eingedeutscht ?Gotenhafen“) stationiert und kam noch vor der Geburt des Sohnes bei der Versenkung seines U-Bootes
U 438
ums Leben.
[1]
Im Juni 1944 kam die Familie nach
Blankenhagen in Pommern
. Im Januar 1945 folgte die
Flucht
nach
Schashagen
, 1950 zog die Familie dann nach
Putzchen
bei
Bonn
.
Heinsohn studierte ab 1964 an der
Freien Universitat Berlin
einige Semester
Jura
, danach
Publizistik
,
Soziologie
,
Psychologie
,
Geschichte
,
Wirtschaftswissenschaft
und
Religionswissenschaft
. 1971 erlangte er sein
Diplom
in Soziologie mit einer Arbeit uber
Vorschulerziehung und Kapitalismus
und wurde 1974 mit
summa cum laude
mit einer Dissertation uber
Vorschulerziehung in der burgerlichen Gesellschaft: Geschichte, Funktion, aktuelle Lage
promoviert.
Von 1973 bis 2009 lehrte er an der
Universitat Bremen
Sozialpadagogik. Von Oktober 1976 bis Marz 1978 ließ er sich fur einen Forschungsaufenthalt in den israelischen
Kibbuzim
(
Adamit
,
Hasorea
und
Yahel
) beurlauben.
1982 wurde Heinsohn zum zweiten Mal mit dem besten Pradikat promoviert, diesmal in Wirtschaftswissenschaften, seine Dissertation befasst sich mit dem
Kibbutz-Modell: Bestandsaufnahme einer alternativen Wirtschafts- und Lebensform nach 7 Jahrzehnten.
Von 1982 bis 1993 verbrachte er jahrlich mehrere Monate in
Toronto
, um dort im Lesesaal der
Robarts Research Library
an seinen Projekten zu arbeiten.
1984 wurde Heinsohn als Professor fur
Sozialpadagogik
an die Universitat Bremen berufen.
Ab 1993 war er Sprecher des von ihm gegrundeten Instituts fur
vergleichende Volkermordforschung
(Raphael-Lemkin-Institut fur Xenophobie- und Genozidforschung).
[2]
Heinsohn lehrte
Eigentumsokonomie
in den Masterkursen am Managementzentrum St. Gallen und am Institut fur Finanzdienstleistungen Zug, einem der funf Institute der
Hochschule Luzern
, sowie Kriegsdemographie an der
Bundesakademie fur Sicherheitspolitik
und am
NATO Defense College
.
Er publizierte Beitrage in verschiedenen Zeitungen wie der
Frankfurter Allgemeinen Zeitung
, der
Zeit
und dem
Schweizer Monat
, ferner in
Onlinemedien
wie der
Achse des Guten
.
[3]
Mehrere Monografien Heinsohns stießen in den Medien auf starke Resonanz. So wurde
Warum Auschwitz?
im Februar 1995 unter den
Sachbuchern des Monats
von der
Suddeutschen Zeitung
und dem
NDR
auf den dritten Platz gewahlt;
Die Erschaffung der Gotter
kam 1997 auf den ersten Platz der Bestenliste der Gegenwart.
[4]
Von den Fachwissenschaften wurden Heinsohns Publikationen teilweise positiv rezipiert, teilweise auch kritisch. Letzteres galt besonders fur seine Untersuchung zum Verhaltnis von
Hexenverfolgung
und Demographie (
Die Vernichtung der weisen Frauen
,
1985, insgesamt 14 Auflagen) oder sein Infragestellen verschiedener
Chronologien
(
Wann lebten die Pharaonen?
1990).
Die Werke zur Okonomie publizierte Heinsohn meist gemeinsam mit
Otto Steiger
. In ihrem Werk
Privateigentum, Patriarchat, Geldwirtschaft. Eine sozialtheoretische Rekonstruktion zur Antike
(1984) kritisieren die Autoren die ?
herrschende Lehre
“ (nach
Carl Mengers
Osterreichischer Schule
), dass es sich schon in den antiken Wirtschaften um
arbeitsteilige
Marktwirtschaften
gehandelt habe, in denen Geld als
universelles Tauschmittel
fur den Austausch von Gutern eingesetzt wurde. Dieses Geld sei dann auch fur den Landkauf eingesetzt worden, wodurch das
Privateigentum
entstanden sei.
Nach Heinsohns und Steigers
debitistischer
Auffassung war im Gegensatz dazu das Privateigentum an Land Grundlage der Geldwirtschaft der Antike. Dieses neue rechtliche Eigentum, unterschieden vom tatsachlichen Besitz, sei historisch erstmals im Zuge der Sklavenaufstande der Antike beim Untergang von
Mykene
entstanden. Durch Eigentumstitel lasst sich Grundeigentum belasten, verpfanden und verkaufen. Die Vertragsverhaltnisse zwischen Glaubigern und Schuldnern benotigen Geld und Zins als Mittel. Geld in Form von ubertragbaren
Schuldscheinen
sei nicht durch Tauschakte, sondern durch Verpfandung von Eigentum gegen Zins entstanden.
Geld
im Sinne von
Schuldscheinen
wird demnach nicht als
Tauschmittel
gesehen, sondern als Ausdruck eines
Eigentumsanspruchs
: Der Besitz von Geld stelle auch heute noch eine Forderung nach der Ruckgabe oder den Erhalt von Gutern dar, obwohl der Anspruch selbst nicht durch Werthaltigkeit des Geldes oder ein bestehendes Gut
gedeckt
sein muss, sondern lediglich aus dem abstrakten, gedachten und geglaubten Eigentumstitel im Vermogen der
Emissionsbank
entstehen kann. Dieser Anspruch auf Eigentum werde von der emittierenden Bank vergeben, ohne dass die Bank selbst einen Gegenwert dazu besitzen noch weitergeben musse. Diese vergebenen Anspruche wurden zum Vermogen der Bank gerechnet, das sie fur weitere
Kreditschopfung
nutzt.
[5]
1996 legte Heinsohn gemeinsam mit
Otto Steiger
(1938?2008) den Band
Eigentum, Zins und Geld
vor, der zuletzt in achter Auflage 2018 herauskam. (Erganzungsband 2002). Darin vertreten sie die These, Geld entstehe, ?sobald ein Eigentumer Anspruche gegen sein Eigentum einem anderen Eigentumer kreditiert, wofur dieser Zins und Tilgung verspricht sowie einen Teil seines Eigentums verpfandet.“
Geldschopfung aus dem Nichts
bezeichneten die Autoren als ?Willkurgeld“. Nur belast- und verpfandbares Eigentum stelle eine verlassliche Basis fur die Geld- wie fur die Kreditschopfung dar.
[6]
Der Okonom
Bernd Senf
kritisierte 1999, damit sei die Moglichkeit gegeben, von der Forderung nach Anbindung an Bodenbesitz abzuweichen, wenn auch mit gravierenden Folgen. ?Man konnte diese Sicherung allenfalls als eine notwendige Bedingung fur die Stabilitat des Geldes formulieren, aber doch nicht als eine Beschreibung der Wirklichkeit.“
[7]
12 Jahre nach der Erstausgabe ihres Buches
Eigentum, Zins und Geld
erschien eine Neudarstellung ihrer Theorie der
Eigentumsokonomik
. Dieses Werk berucksichtigt die Debatten seit der Erstausgabe, an denen die Autoren mit vielen Aufsatzen teilgenommen hatten, die in zwei Sammelbanden erschienen waren.
Der Okonom
Christoph Deutschmann
lobte Heinsohn und Steiger 1998 dafur, dass sie
Geld
als Thema ernst nehmen, das in der
neoklassischen Theorie
als bloßes Tauschmittel angesehen werde und daher keiner eigenen okonomischen Betrachtung bedurfe. Gleichzeitig kritisiert er die
zirkulare Struktur
des Arguments von Heinsohn und Steiger, der Zins sei eine Pramie auf das Eigentum, Eigentum sei gegen Zinsen belastbar und verpfandbar. Dies sei eine
Tautologie
.
[8]
Der Finanzwissenschaftler
Jurgen Backhaus
bezeichnete 1999 Heinsohns und Steigers Annahmen als zutreffend und außerte, dass sie in wirtschaftswissenschaftlichen Seminaren eine Rolle spielen konnten. Gleichzeitig zeigte er sich durch ihren Anspruch irritiert, etwas Neues entdeckt zu haben: Ihre Eigentumstheorie finde sich bereits in den Werken mehrerer anderer Wissenschaftler, so bei Svetozar Pejovic und
Harold Demsetz
.
[9]
Weitere kritische Auseinandersetzungen mit Heinsohns und Steigers Thesen finden sich 1998 bei Nikolaus K. A. Laufer,
[10]
in dem 1999 von Karl Betz und Tobias Roy herausgegebenen Sammelband,
[11]
in Veroffentlichungen des Geldmuseum der
Deutschen Bundesbank
[12]
und 2012 bei Axel Paul.
[13]
Im angelsachsischen Raum ist die Rezeption positiver: Ingo Sauer vermerkte 2015, dass angelsachsische Autoren, zuweilen ohne Kenntlichmachung der deutschsprachigen Diskussionen, die Betrachtungsweise von Heinsohn und Steiger adaptierten, wie etwa
David Graeber
, der die beiden Autoren in einer Fußnote nenne,
[14]
oder Felix Martin, der die beiden Autoren nicht zu kennen scheine.
[15]
Fredmund Malik
lobte 2016 in einer Festschrift fur Heinsohn, dass sein Ansatz ?der praktischen Sichtweise der Unternehmen und insbesondere jener der Finanzchefs von Wirtschaftsunternehmen“ entspreche. Das Werk sei damit von ?unschatzbar
praktischem
Wert fur eine wirksame Fuhrung, Steuerung und Gestaltung der Organisationen unserer Komplexitatsgesellschaft“.
[16]
Nach Auffassung von Rolf Steppacher, Genf, hat die neoklassische Okonomie ?not even understood the logic of private property, the money logic, and its difference to possession logic. Understanding this was the contribution of Heinsohn and Steiger“.
[17]
Zwischen 1997 und 2003 kritisierten Heinsohn und Steiger in etwa dreißig Aufsatzen die Einfuhrung des
Euro
, weil eine Einheitswahrung nur bei gleicher Qualitat der
Eigenkapitale
der nationalen
Zentralbanken
und bei identischen Sicherheitsanforderungen an das von ihnen akzeptierte Kollateral der
Geschaftsbanken
funktionieren konne. Beide Bedingungen seien unerfullt geblieben.
[18]
1993 grundete Heinsohn auf Empfehlung des franzosischen Historikers
Leon Poliakov
an der
Universitat Bremen
Europas erstes Institut fur vergleichende Volkermordanalyse. Dieses
Raphael Lemkin Institut fur Xenophobie- und Genozidforschung
erlosch mit Heinsohns Pensionierung im Jahr 2009. 1997 setzte Klaus von Munchhausen am Lemkin-Institut die Entschadigung der unter dem Hitlerregime ausgebeuteten
Zwangsarbeiter
durch.
[19]
1995 publizierte Heinsohn
Warum Auschwitz? Hitlers Plan und die Ratlosigkeit der Nachwelt.
Darin wandte er sich gegen die allgemein akzeptierte Unerklarbarkeit der Motive
Adolf Hitlers
bei der
Judenvernichtung
. Angesichts der von Hitler betriebenen Wiederherstellung eines ?archaischen Rechts auf Infantizid“ (innenpolitisch) und der ?Ausmordung von Lebensraum“ (außenpolitisch) identifizierte Heinsohn die ? auch vom Christentum angenommene ? judische Ethik der Lebensheiligkeit als entscheidendes Hindernis fur Hitlers Weltmachtspolitik. Durch Ausloschung der Juden sollte diese Ethik ihren Trager verlieren, wahrend Nichtjuden als ?heilbar“ galten. 2013 begrundete er diese These erneut in einem Band zu einer 2010 abgehaltenen Konferenz in Dresden.
[20]
Der Politikwissenschaftler
Lothar Fritze
kritisierte diese Erklarung, weil das Totungsverbot des
Dekalogs
auf den Bereich des
Volkes Israel
begrenzt gewesen sei. Zum anderen sei die physische Ausrottung einer Gruppe ein ungeeignetes Mittel, um eine Idee zu bekampfen, die auch außerhalb dieser Gruppe weite Verbreitung fand. Heinsohns Deutung, die Fritze jedoch auf Fakten und nicht auf das weltanschauliche Selbstverstandnis des Nationalsozialismus bezieht, sei daher ?fur das Verstandnis des Handelns der Tater nicht wirklich aufschlussreich“.
[21]
1998 brachte Heinsohn das erste
Lexikon der Volkermorde
heraus.
1999 wurde er auf funf Jahre in den Vorstand des neu gegrundeten und bei
Routledge
erscheinenden
Journal of Genocide Research
berufen. Dort publizierte er den Essay
What Makes the Holocaust a Uniquely Unique Genocide?
[22]
In einer Zusammenfassung am Ende des
Routledge History of the Holocaust
erwahnte
Saul Friedlander
2010 Heinsohns Zeitschriftenaufsatz in einer Bemerkung so, ?perhaps a more accessible explanation, at least of the guiding ideology“.
[23]
Ermutigt vom Staatsminister fur Kultur und Medien
Michael Naumann
entwarf Heinsohn 1999 ein
Institut fur Volkermordfruhwarnung
(
Genocide Watch
). Naumann prasentierte das Konzept im Januar 2000 auf dem
Stockholm International Forum on the Holocaust.
[24]
Nach Naumanns Ausscheiden aus dem Amt wurde die Initiative von der Bundesregierung allerdings nicht mehr lange verfolgt.
Neil J. Smelser
und
Paul B. Baltes
luden Heinsohn ein, fur die
International Encyclopedia of the Social and Behavioral Sciences
den Eintrag
Genocide: Historical Aspects
zu verfassen, der 2001 erschien.
[25]
An der Freien Universitat setzte sich Heinsohn in den 1970er Jahren fur die Verwissenschaftlichung der
fruhkindlichen Erziehung
durch ihre Verankerung in der Universitat ein.
[26]
Seinen anfanglichen Optimismus, uber fruhkindliche Erziehung die Lebenslage ganzer Bevolkerungsgruppen verbessern zu konnen, formulierte er 1974 in seiner Studie
Vorschulerziehung in der burgerlichen Gesellschaft.
[27]
Doch eine Bestandsaufnahme der
Sozialisationsforschung
fuhrte ihn zur Skepsis gegenuber der padagogischen Potenz von Kinderkollektiven mit Erziehern, die seiner Auffassung nach ihre Krafte fur das eigene Familienleben schonen mussten.
[28]
1979 wurde Heinsohn in den Beirat der neu gegrundeten Zeitschrift
Kindheit
berufen. Dort publizierte er eine kurze ?Weltgeschichte des Nachwuchses“ unter dem Titel
Das ?a priori’ von Kindheit ? Die Herbeifuhrung der Generationsbeziehungen von den Stammesgesellschaften bis zum Kibbutz.
[29]
In Artikeln in der
Zeit
und der
FAZ
stellte Heinsohn in den 2000er Jahren die These auf, die ?Bevolkerungsqualitat“ in Deutschland nehme ab. Daher pladiert er fur eine zeitliche Begrenzung der
Sozialhilfe
fur
alleinerziehende
Mutter, diese Familienform sollte nicht weiter gefordert werde. Das Schulversagen der Kinder alleinerziehender Elternteile durfe nicht durch Absenkung der schulischen Leistungsmaßstabe kaschiert werden. Ebenso durfe die uberproportional hohe
Kriminalitat
dieser Kinder nicht dem angeblichen Versagen der Gesellschaft angelastet werden, eine solche Begrundung wurde die Deliktzahl weiter steigern. Diese von ihm dargestellten Entwicklungen tragen nach Heinsohns Meinung dazu bei, ?leistungsfahige
Deutsche
“ aus dem Land zu treiben und die gewunschten
Immigranten
der ?jungeren Elite“ aus dem ?implodierenden Osteuropa“ abzuschrecken: ?Warum sollte sie in ein bereits
islamisch absinkendes
Westeuropa streben?“
[30]
Diese Thesen wurden unter anderem von
Thilo Sarrazin
in
Deutschland schafft sich ab
aufgegriffen.
[31]
Außerhalb rechtskonservativer Kreise war das Echo negativ: So wurde sein ?Ton“ von
Hans Endl
als ?absolut menschenverachtend und
biologistisch
“ bewertet. Als Beispiel nannte er Heinsohns Behauptung, dass
bildungsferne
Mutter bildungsferne Kinder gebaren wurden, woran auch keine Schule etwas andern konne. Mit seiner
Diffamierung
von
Hartz-IV
-Empfangerinnen durch die Aussage, dass die
Sozialhilfe
Karrieren nur fur Madchen eroffne, ?die beizeiten schwanger werden, um selbst Anspruche aufbauen zu konnen“, mache Heinsohn die Hetze in der FAZ salonfahig.
[32]
Die Politologin
Naika Foroutan
warf Heinsohn einen ?entwurdigenden
Utilitarismus
“ vor, aber auch
demagogische
Berechnungen, wie die der angeblichen Steigerung der Sozialhilfequote bei
Turken in Deutschland
um 5000 Prozent.
[33]
1977 stellte Heinsohn die These auf, das universelle Totungsverbot, wie es das
monotheistische
Judentum
auf den Weg gebracht hatte, sei eine Kompromissbildung zwischen Anhangern und Verwerfern der
blutopferbestimmten
?Himmelskorperreligionen“
Vorderasiens
der
Bronzezeit
. Ahnliche Thesen vertrat
Immanuel Velikovsky
1978 in einem Artikel in der Zeitschrift
Freibeuter
.
1982 grundete er mit Christoph Marx die kurzlebige
Gesellschaft zur Rekonstruktion der Menschheits- und Naturgeschichte
.
Fur Heinsohn eroffnete das Ende der Bronzezeitkatastrophen die
Achsenzeit
(
Karl Jaspers
) mit ihren geistesgeschichtlichen Umbruchen und Neuerungen, zu denen auch der judische
Monotheismus
gehore.
[34]
Außerdem legte er Analysen des
Judenhasses
vor.
[35]
1979 legten Heinsohn, Steiger und
Rolf Knieper
eine Theorie zur demografischen Entwicklung in der Neuzeit vor, in der sie die europaische Bevolkerungsexplosion ab dem spaten 15. Jahrhundert zu erklaren suchten.
[36]
Die Konstanz der Bevolkerungszahlen im
Mittelalter
lag demnach nicht, wie die
herrschende Meinung
in der
Demografie
annimmt, in sehr hohen Geburten- und Sterbeziffern, sondern in bewusster
Familienplanung
der Frauen. Seit dem
Spatmittelalter
seien aber die bis dahin ublichen Methoden wie
Empfangnisverhutung
und
Abtreibung
kriminalisiert worden. Das
gynakologische
Wissen uber Geburtenkontrolle sei verloren gegangen. Dies sei durch die physische Vernichtung der
Hebammen
und anderen ?weisen Frauen“ geschehen, die Heinsohn, Steiger und Knieper als Trager dieses Wissens annahmen: Eine zentrale Ursache der
Hexenverfolgung
im Spatmittelalter und in der
Fruhen Neuzeit
sei also die Absicht der Kirchen und der
Territorialstaaten
gewesen, die Bevolkerungszahl zu heben.
[37]
Zu diesen These legten Heinsohn und Steiger weitere Veroffentlichungen vor.
[38]
Die Vernichtung der weisen Frauen
wurde ein Bestseller. Im
Spiegel
erschien eine Titelgeschichte daruber,
[39]
Heinsohns Grundnahmen stoßen im breiten Publikum bis heute auf Interesse.
[40]
In der Fachwissenschaft stieß die These einhellig auf Ablehnung.
[41]
Einzig der amerikanische Medizinhistoriker
John M. Riddle
schloss sich im Anhang der Ausgabe von 2005 Heinsohns Thesen an. Eingewandt wurde unter anderem, dass in den zahlreichen
Quellen
zu den Hexenprozessen von Geburtenkontrolle kaum die Rede ist ? Heinsohn und Steiger stutzten ihre These einzig auf Quellen wie den
Hexenhammer
, mit dem die Verfolgung legitimiert wurde. Die Akten der einzelnen Prozesse ließen sie unberucksichtigt. Auch ihre demografische Grundannahme sei irrig: Spatestens seit dem Ende des 16. Jahrhunderts hatten die europaischen Gesellschaften nicht an Menschenmangel, sondern an Uberbevolkerung gelitten.
[42]
Der bei Hexenprozessen praktisch regelmaßig auftauchende Aspekt der
Promiskuitat
lasse auch ein Aufgreifen der Punkte Empfangnisverhutung und Abtreibung plausibel erscheinen, ohne dass diese jedoch im Zentrum der Anklagen oder auch nur des
Hexenhammers
gestanden seien.
[43]
Die Annahme einer Zentralsteuerung der Hexenverfolgung werde dem komplexen und diskontinuierlichen Geschehen nicht gerecht, in dem eben nicht nur Obrigkeit und Kirche Akteure waren, sondern auch die Bevolkerung. Insofern sei Heinsohns These eine
Verschworungstheorie
.
[44]
Die von Heinsohn behauptete Zahl von 20000 Todesurteilen des sachsischen Juristen
Benedikt Carpzov
wurde von
Gunter Jerouschek
als unhaltbar bezeichnet, da Carpzov lediglich mit zwei (mit Freispruchen endenden) Hexenprozessen befasst war.
[45]
Der Historiker
Gerd Schwerhoff
forderte Heinsohn und Steiger zu einer offentlichen Debatte mit Fachwissenschaftlern auf. Sie stellten sich dieser Herausforderung jedoch nicht.
[46]
2003 stellte Heinsohn in seinem Buch ?Sohne und Weltmacht“ die These auf, dass es bei einem starken Ungleichgewicht zwischen karrieresuchenden jungen Mannern und verfugbaren gesellschaftlichen Positionen, dem so genannten
Youth Bulge
(Jugenduberschuss), notwendig zu Konflikten komme. Vor allem fur den arabischen Raum umriss er gefahrliche Potentiale.
[47]
Um die Thesen des Buches entstand eine ausgedehnte Debatte. Der Demograph
Steffen Krohnert
monierte, dass sich Heinsohn nur auf einige plausible Beispiele stutze statt auf breite statistische Empirie. Angesichts der Zunahme der Weltbevolkerung hatte es, wurde Heinsohns These zutreffen, in den Jahren von 1950 bis 2000 eine uberproportionale Zunahme an militarischen Konflikten geben mussen. Tatsachlich sei ihre Zahl in den 1990er Jahren aber zuruckgegangen. Krohnert konzedierte 2004, dass ein
Youth Bulge
durchaus ein Stressfaktor sein konne, der zur Verursachung von Kriegen beitrage, doch lasse sich nicht sagen, ob er nicht nur ?Ausdruck des gesellschaftlichen Entwicklungsstandes ist, welcher Kriege begunstigt“. Wichtiger seien die Faktoren
Bildungsmangel
und die uberlange Herrschaft verkrusteter
Diktaturen
sowie die ?Entstaatlichung von Kriegen“ (
Herfried Munkler
).
[48]
Auch
Reiner Klingholz
kritisierte 2004 in der
Zeit
die fehlende statistische Grundlage fur Heinsohns Theorie. Er verwies auf Lander wie
Brasilien
oder
Botswana
, die einen
Youth Bulge
aufwiesen, von denen aber keine Kriegsgefahr ausgehe. Heinsohns Thesen und seine martialische Sprache stunden ?dem
Stammtisch
naher … als der Wissenschaft“.
[49]
Soziologen um
Uwe Wagschal
schlossen sich 2008 Heinsohns Thesen mit eigenen Untersuchungen an.
[50]
Der Philosoph
Peter Sloterdijk
nannte Heinsohns Buch im Jahr 2006 ?Pflichtlekture fur Politiker und
Feuilletonisten
“.
[51]
Mehrfach war Heinsohn zu Gast in dessen ZDF-Sendung ?Das Philosophische Quartett“.
Heinsohn entwickelte 2011 fur die Abschatzung von Opferzahlen und die Dauer von nach Heinsohn durch ?Jungmanneruberschuss“ getriebenen Konflikten einen ?Kriegsindex“.
[52]
[53]
[54]
[55]
Der Okonom
Mohssen Massarrat
schrieb 2007 in der
Frankfurter Rundschau
,
dass etwa die Bevolkerungsentwicklung in
Bangladesch
,
China
und Brasilien zu Heinsohns Theorie nicht passe. Massarrat bezeichnete Heinsohns
Postulat
, dass internationale
Hilfsorganisationen
aufhoren mussten, durch ihren Einsatz die ?Kinderproduktion“ in Krisengebieten und
Entwicklungslandern
zu fordern, als ?
zynisch
“.
[56]
Heinsohn vertrat ab 1987
chronologiekritische
Thesen. Bis 2011 arbeitete er in der Redaktion von
Heribert Illigs
Zeitschrift
Zeitensprunge
mit. Aufgrund
stratigraphischer
Analysen, denen er gegenuber anderen chronologischen Methoden den Vorzug gab, bestritt er unter anderem die Existenz der
Sumerer
, die nach herrschender Lehre der
Altorientalistik
im 3. Jahrtausend in
Mesopotamien
lebten. Heinsohn glaubte, dass es sich bei ihnen in Wahrheit um
Chaldaer
handelt, eine Kultur des 1. Jahrtausends v. Chr.
[57]
Auch nahm Heinsohn an, dass die etablierte
agyptische Chronologie
zwei Jahrtausende zu viel umfasse und die
ersten Pharaonen
somit nicht um 3200 v. Chr., sondern um 1200 v. Chr. zu datieren waren.
[58]
Die
Hyksos
identifizierte er mit den Alt-
Akkadern
, die gemeinhin 600 Jahre vor jenen um 2300 v. Chr. datiert werden.
[59]
Gegen
Israel Finkelstein
und
Neil A. Silberman
, die die Existenz eines
Davidisch-salomonischen Großreichs
um das Jahr 1000 v. Chr. herum bestreiten und die Existenz Konig
Davids
in Zweifel ziehen, beharrte Heinsohn auf dessen Historizitat, verlegte ihn aber in das 7. und 6. Jahrhundert v. Chr.
[60]
Heinsohns chronologiekritische Thesen werden in den
Altertumswissenschaften
nicht rezipiert.
Die 2010 von
Margaret Thatcher
initiierte Stiftung
New Direction: The Foundation for European Reform
verlieh am 15. Juni 2016 in der Brusseler
Fondation Universitaire
Heinsohn den ?Liberty Award“ fur seine ?contribution to an open-minded and honest political debate“.
[61]
Dabei standen neben seinen Verdiensten um Demokratie und Okonomie auch seine Verdienste um das deutsch-polnische Verhaltnis im Mittelpunkt.
[62]
Im September 2021 erhielt er die Medaille
Odwaga i Wiarygodno??
(etwa: Courage und Glaubwurdigkeit) fur seine Verdienste um das Bild Polens in der Welt, die vom polnischen Ministerprasidenten
Mateusz Morawiecki
uberreicht wurde.
[63]
[64]
- Vorschulerziehung und Kapitalismus. Eine soziologische Untersuchung der Ursachen, systemverandernden Moglichkeiten und Verwirklichungsschwierigkeiten von Reformbestrebungen in der Vorschulerziehung des kapitalistischen Deutschland,
Frankfurt am Main 1971.
- mit Barbara M. C. Knieper:
Theorie des Kindergartens und der Spielpadagogik.
Suhrkamp, Frankfurt am Main 1975 (
es
809).
ISBN 3-518-00809-9
.
- mit
Rolf Knieper
:
Theorie des Familienrechts. Geschlechtsrollenaufhebung, Kindesvernachlassigung, Geburtenruckgang.
Suhrkamp, Frankfurt am Main 1976 (
edition suhrkamp
747).
ISBN 3-518-00747-5
.
- mit Rolf Knieper und
Otto Steiger
:
Menschenproduktion. Allgemeine Bevolkerungstheorie der Neuzeit.
Suhrkamp, Frankfurt am Main 1979.
ISBN 3-518-10914-6
.
- als Herausgeber:
Das Kibbutz-Modell. Bestandsaufnahme einer alternativen Wirtschafts- und Lebensform nach sieben Jahrzehnten.
Suhrkamp, Frankfurt am Main 1982 (es 998).
ISBN 3-518-10998-7
.
- Privateigentum, Patriarchat, Geldwirtschaft, sozialtheoretische Rekonstruktion zur Antike.
Suhrkamp, Frankfurt am Main 1984 (suhrkamp taschenbuch wissenschaft 455).
ISBN 3-518-28055-4
.
- mit
Otto Steiger
:
Die Vernichtung der weisen Frauen. Beitrage zur Theorie und Geschichte von Bevolkerung und Kindheit.
Marz, Herbstein 1985.
ISBN 3-88880-057-9
(14. Auflage, mit einem ausfuhrlichen, aktualisierten Nachwort zur vierten, erweiterten Neuausgabe: Marz?Area, Erftstadt 2005.
ISBN 3-89996-340-7
.)
- Was ist Antisemitismus? Der Ursprung von Monotheismus und Judenhaß.
Eichborn, Frankfurt am Main, 1988.
ISBN 3-8218-0418-1
.
- Die Sumerer gab es nicht. Von den Phantom-Imperien der Lehrbucher zur wirklichen Epochenabfolge in der ?Zivilisationswiege“ Sudmesopotamien; Darstellung der Probleme und Vorschlage fur ihre Losung in einem chronologischen Uberblick.
Eichborn, Frankfurt am Main 1988.
ISBN 3-8218-0411-4
.
- mit
Heribert Illig
:
Wann lebten die Pharaonen? Archaologische und technologische Grundlagen fur eine Neuschreibung der Geschichte Agyptens und der ubrigen Welt.
Eichborn, Frankfurt am Main, 1990.
ISBN 3-8218-0422-X
. (Dritte, korrigierte Auflage: Mantis, Grafelfing 1999.
ISBN 3-928852-20-5
.)
- Wie alt ist das Menschengeschlecht? Stratigraphische Grundlegung der Palaoanthropologie und der Vorzeit.
Mantis, Grafelfing, 1991.
ISBN 3-928852-25-6
. (Vierte, korrigierte Auflage: Mantis, Grafelfing 2004, 6. Auflage 2009.
ISBN 3-928852-25-6
.)
- Wer herrschte im Industal? Die wiedergefundenen Imperien der Meder und Perser.
Mantis, Grafelfing, 1993.
ISBN 3-928852-07-8
(2. Aufl. 1997).
- Warum Auschwitz? Hitlers Plan und die Ratlosigkeit der Nachwelt.
Rowohlt, Reinbek bei Hamburg, 1995.
ISBN 3-499-13626-0
.
- Eigentum, Zins und Geld. Ungeloste Ratsel der Wirtschaftswissenschaft.
Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 1996.
ISBN 3-89518-494-2
. (Siebente Auflage: Metropolis, Marburg 2010.
ISBN 978-3-89518-844-2
.)
[65]
- Anfang und Ende des Klimawahns.
Management Zentrum St. Gallen, St. Gallen 1996, zweite erweiterte Ausgabe 1997, sowie auch in: Leviathan 4 (1996) 445?455.
- Die Erschaffung der Gotter. Das Opfer als Ursprung der Religion.
Rowohlt, Reinbek bei Hamburg, 1997.
ISBN 3-498-02937-1
, 2.,uberarbeitete Auflage, 2012.
- Lexikon der Volkermorde.
Rowohlt, Reinbek bei Hamburg, 1998.
ISBN 3-499-22338-4
.
- Sohne und Weltmacht. Terror im Aufstieg und Fall der Nationen.
Orell Fussli, Zurich 2003.
ISBN 3-280-06008-7
. (Zweite, erweiterte Auflage 2006; als Taschenbuch bei Piper, Munchen?Zurich 2008.
ISBN 978-3-492-25124-2
,
online
, PDF, 3,6 MB)
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Rezension
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:
10.2139/ssrn.2338198
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