Gnaeus Iulius Agricola
(*
13. Juni
40
in Forum Iulii (heute
Frejus
); †
23. August
93
) war ein
gallo-romischer
Senator
und Feldherr. Er war im Jahr 77
Suffektkonsul
und anschließend ungewohnlich lange (bis 84) Statthalter
Britanniens
. Agricola hatte seine militarische Laufbahn zwischen 58 und 62 n. Chr. in
Britannia
als Militartribun im Stab des Statthalters
Gaius Suetonius Paulinus
begonnen. Nach seiner Ruckkehr nach
Rom
diente Agricola 66 als
Volkstribun
, zwei Jahre spater dann als
Praetor
. Im Jahre 71 wurde er zum
Legatus
beim Gouverneur von Britannien,
Quintus Petillius Cerialis
und Befehlshaber der
Legio XX Valeria Victrix
. Als Cerialis die Provinz verließ, wurde Agricola zum Statthalter der Provinz Gallia Aquitania ernannt.
In der Zeit seines Aufenthaltes in Britannia konnte er den romischen Herrschaftsbereich vorubergehend bis uber die
Forth-Clyde-Linie
(die Landenge zwischen den heutigen Stadten
Glasgow
und
Edinburgh
) ausdehnen. Nach seiner Abberufung durch Kaiser
Domitian
zog er sich ins Privatleben zuruck. Der Historiker
Tacitus
, Agricolas Schwiegersohn, schilderte dessen Leben in der erhaltenen,
enkomiastisch
abgefassten Biographie
De vita et moribus Iulii Agricolae
. Durch dieses Werk, die Hauptquelle fur die Taten Agricolas, wurden auch dessen Karriere und Feldzuge in Britannien uberliefert.
Der von bedeutenden gallo-romischen Familien abstammende Gnaeus Iulius Agricola wurde am 13. Juni 40 in Forum Iulii in der
romischen Provinz
Gallia Narbonensis
als Sohn des Senators
Lucius Iulius Graecinus
und dessen Gattin
Iulia Procilla
geboren. Seine beiden Großvater waren
ritterlichen
Ranges und kaiserliche
Prokuratoren
.
[1]
Aus Agricolas Gentilnamen
Iulius
durfte zu schließen sein, dass einer seiner Vorfahren, der entweder unter
Gaius Iulius Caesar
oder
Augustus
als Offizier gedient hatte oder als vermogender und angesehener einheimischer Burger von Forum Iulii hervorgetreten war, das
romische Burgerrecht
erhalten hatte. Graecinus verfasste ein Werk uber den Weinbau und gab vermutlich aufgrund seiner Neigung fur die Landwirtschaft seinem Sohn das Cognomen
Agricola
. Er wurde Ende 39 oder im Jahr 40 auf Befehl des Kaisers
Caligula
hingerichtet.
[2]
Der auf diese Weise zum Halbwaisen gewordene Agricola wuchs seit fruhester Kindheit in Massilia (dem heutigen
Marseille
) auf. Dort ließ ihm seine Mutter eine sorgfaltige und angemessene Erziehung angedeihen. Wie fur einen vornehmen Jugendlichen ublich, studierte er u. a. eifrig
Philosophie
, doch erlegte ihm seine Mutter hierbei Schranken auf.
[3]
Agricola begann seine soldatische Laufbahn in Britannien von 58 bis 62 als
Militartribun
im Stab des Statthalters
Gaius Suetonius Paulinus
und half in dieser Stellung hochstwahrscheinlich bei der Unterdruckung des
Boudicca-Aufstandes
von 60/61 mit. Nach Paulinus’ Abberufung im Jahr 62 durfte er mit dem Statthalter nach
Rom
gereist sein. Damals feierte er seine Hochzeit mit
Domitia Decidiana
, der Tochter eines ebenfalls aus
Gallia Narbonensis
stammenden Senators.
[4]
Bald nach seiner Vermahlung, also etwa im Jahr 63, erhielt er aus seiner glucklich verlaufenden Ehe mannlichen Nachwuchs und durfte sich daher gemaß der
Lex Papia Poppaea
vorzeitig um Amter des
cursus honorum
bewerben. Das erwahnte Gesetz erlaubte namlich beim Vorhandensein von Kindern einen Amtsantritt vor dem ansonsten notwendigen Mindestalter, und zwar um je ein Jahr pro Kind.
[5]
Aus den Angaben des Tacitus im 6. Kapitel der Lebensbeschreibung seines Schwiegervaters kann gefolgert werden, dass Agricola zunachst, wie die
Lex Papia Poppaea
ihm gewahrte, im Jahr 64 das Amt eines
Quastors
bereits als 24-Jahriger (und nicht erst im dafur eigentlich vorgesehenen Lebensalter von 25 Jahren) innehatte. In dieser Funktion diente er in
Asia
unter dem Prokonsul
Lucius Salvius Otho Titianus
, dem Bruder des spateren Kaisers
Otho
. Laut Tacitus versah er im Gegensatz zu seinem Vorgesetzten sein Amt mit großer Rechtschaffenheit. Domitia Decidiana war mit ihrem Gatten nach Asia gereist und gebar ihm wahrend seiner Quastur eine Tochter, die nachmalige Gemahlin des Tacitus. So durfte Agricola nun, obwohl damals sein altester Sohn im Kleinkindalter verstarb, die staatlichen Amter zwei Jahre vor dem gesetzlichen Termin bekleiden. Im Jahr 65 und im Folgejahr 66, in dem er als
Volkstribun
amtierte, setzte er keine großeren offentlichen Akzente, um sich unter
Neros
Regierung nicht in Gefahr zu bringen. 68 wurde er
Prator
und brauchte, da er keine gerichtliche Zustandigkeiten erhielt, weiterhin nicht besonders hervorzutreten. Er veranstaltete u. a. nicht allzu aufwendige Spiele. Nach Neros Tod (Juni 68) wurde er vom neuen Kaiser
Galba
mit einer Bestandsaufnahme der Tempelschatze und Wiederbeschaffung geraubten sakralen Eigentums beauftragt, welche Aufgabe er getreulich erledigte; allerdings konnte er die auf Befehl Neros gestohlenen und eingeschmolzenen Tempelschatze nicht mehr herbeischaffen.
[6]
Anfang des
Vierkaiserjahres
(69) wurde Agricolas Mutter auf ihrem Landgut in Intimilium an der Kuste
Liguriens
von plundernden Soldaten
Othos
erschlagen. Ihr Landsitz und ein betrachtlicher Teil von Agricolas vaterlichem Erbgut wurden ausgeraubt.
[7]
Der schwer getroffene Agricola sorgte fur das Begrabnis seiner Mutter und schloss sich sofort
Vespasian
an, als dieser in den Kampf um den Kaiserthron eintrat. Auf Anweisung des seit Ende Dezember 69 vorubergehend die Verwaltung in Rom fuhrenden
Gaius Licinius Mucianus
hob er im folgenden Jahr Truppen aus. Von Mucianus wurde er noch im Jahr 70 zum
Legaten
der
Legio XX Valeria Victrix
in Britannien befordert, wo er zunachst unter dem Statthalter
Marcus Vettius Bolanus
diente. In dieser Legatenfunktion folgte er
Marcus Roscius Coelius
nach, der mit Bolanus’ Vorganger
Marcus Trebellius Maximus
in Streit geraten und dabei im Jahr 69 von vielen Soldaten unterstutzt worden war, bis Trebellius schließlich hatte fluchten mussen und durch Vettius Bolanus ersetzt worden war. Das infolgedessen abhanden gekommene Autoritatsgefuhl der Truppen konnte Agricola rasch wiederherstellen, wobei er sehr maßvoll vorging.
[8]
Aber erst unter Bolanus’ Nachfolger, dem offensiver eingestellten, Britannien seit 71 verwaltenden Statthalter
Quintus Petillius Cerialis
, fand Agricola die Moglichkeit, großere Taten zu vollbringen. Er durfte relativ große Heereseinheiten selbstandig befehligen und zeichnete sich vermutlich in Kampfen gegen die
Briganten
in Nordengland aus.
[9]
Nach seiner Ruckkehr aus Britannien im Jahr 73 wurde Agricola von Vespasian unter die
Patrizier
aufgenommen und 74 zum pratorischen kaiserlichen Statthalter der Aussicht auf das
Konsulat
verheißenden Provinz
Aquitanien
bestimmt. Nach nicht ganz dreijahriger Amtstatigkeit, die er sehr bedachtsam angelegt hatte, verließ Agricola die Provinz wieder und wurde wohl im Jahr 77 fur einige Monate
Suffektkonsul
. Wahrend der Bekleidung dieser Funktion verlobte er seine etwa 13-jahrige Tochter mit Tacitus, mit dem er sie nach dem Ende seines Konsulats auch verheiratete. Bald nach dem Ablauf seines Konsulats wurde er zum
Pontifex
sowie als Nachfolger von
Sextus Iulius Frontinus
zum neuen Statthalter Britanniens ernannt, welches letztere Amt er wahrscheinlich noch in der zweiten Halfte des Jahres 77 (spatestens im Jahr 78) antrat und insgesamt sieben Jahre lang versah.
[10]
Der britische Historiker
Malcolm Todd
vertrat die Meinung, dass Tacitus in der Biographie seines Schwiegervaters dessen Leistungen in Britannien im Wesentlichen nicht ubertrieben dargestellt oder etwas hinzuerfunden habe und dass sein Bericht uber Agricolas Feldzuge in Nordbritannien sowie dessen Stadteentwicklungsprogramm auf der Insel durch archaologische Zeugnisse gestutzt werde. Todd sah also Tacitus’ Schilderung von Agricolas britannischer Statthalterschaft als relativ glaubwurdig an.
[11]
Bereits der 71-74 amtierende Statthalter Quintus Petillius Cerialis hatte offensichtlich die im Nordosten Englands siedelnden
Briganten
endgultig unterworfen, womit das von den Romern kontrollierte Territorium das ganze Flachland nordlich bis etwa zur Linie
Solway Firth
?
Tyne
umfasste. Sextus Iulius Frontinus hatte dann die
Silurer
im Suden von
Wales
bezwingen konnen.
[12]
Kurz vor der Landung Agricolas hatten allerdings die
Ordovicer
eine in ihr Stammesgebiet, das heutige Nordwales, vorgeschobene
Ala
fast vollstandig vernichtet. Obwohl Agricola erst im Spatsommer 77
[13]
in Britannien ankam, gelang es ihm unverzuglich, die Ordovicer entscheidend zu besiegen und anschließend mit ausgesuchten berittenen
Auxiliartruppen
die bereits zu Neros Zeiten umkampfte Insel Mona (heute
Anglesey
), das religiose und nationale Widerstandszentrum der
Kelten
, zu erobern. Die Einnahme der Insel erreichte er dadurch, dass die Hilfstruppen ihre schwere Ausrustung ablegten und zur Insel schwammen, was die dortigen Kelten nach
Tacitus
so beeindruckt haben soll, dass sie sich kampflos ergaben.
[14]
Im Winter 77/78 suchte Agricola dem Ausbruch kunftiger Kriege zwischen Romern und einheimischen Stammen vorzubeugen und erwies sich dabei als fahiger Organisator, indem er u. a. den Aufwand fur seinen eigenen Haushalt begrenzte, Positionen unparteiisch mit geeigneten Kandidaten besetzte, die Lasten der Getreide- und Steuerforderungen gerechter verteilte und bisher geubten Schikanen ein Ende bereitete. Im Sommer 78 konnte er mittels haufiger Truppendemonstrationen, ohne eine großere Schlacht ausfechten zu mussen, viele im neu eroberten Gebiet gelegene, aber noch unabhangige
civitates
zur Stellung von Geiseln und Anerkennung der romischen Herrschaft bringen. Zur Sicherung seiner Erfolge ließ er dort außerst zweckmaßige Festungen mit Garnisonen errichten. Er trieb sodann im Winter 78/79 die Romanisierung der neu unterworfenen Bevolkerung effektiv voran, sorgte fur eine Erziehung der Sohne britannischer Adliger nach romischem Vorbild, regte den Bau von Tempeln sowie komfortablen Wohnhausern an und rief eine neue Gerichtsordnung ins Leben; sogar das Tragen der romischen
Toga
wurde nun als modisch empfunden.
[15]
In der Folge stieß Agricola weiter nach Norden vor als jemals ein Romer vor ihm. Im Jahr 79 griff er bis zum
Tanaus
(oder
Taus
; unbekannter Lage, vielleicht der
Firth of Tay
) aus und erbaute dabei erneut einige feste Kastelle, die strategisch besonders gunstig lagen. Diese Forts konnten, da in ihnen Vorrate fur ein ganzes Jahr lagerten, langen Belagerungen, auch im Winter, standhalten. Agricola schritt im folgenden Sommer des Jahres 80 an die Absicherung seiner Eroberungen und legte an einer Landenge, wo die von Tacitus als
Clota
(
Firth of Clyde
) und
Bodotria
(
Firth of Forth
) bezeichneten Meeresarme tief in die Insel einschneiden, eine Reihe von Kastellen als Verteidigungswerke an (
Gask Ridge
).
[16]
Der weitere Vormarsch nach Norden erfolgte im Jahr 81, als Agricola anscheinend an der Westkuste Britanniens uber den Firth of Clyde siegreich gegen bisher unbekannte Stamme vordrang. Er dachte damals sogar an die Eroberung von
Hibernia
(
Irland
) und zog zu diesem Zweck Truppen an der dieser Insel gerade gegenubergelegenen Kuste zusammen. Die Erreichung seines Ziels erschien ihm relativ leicht machbar, wobei er die internen Zwistigkeiten der Adligen Irlands ausnutzen wollte. Daher hatte er auch einen Hauptling, der aus Irland hatte fluchten mussen, freundlich empfangen, um sich bei Gelegenheit seiner bedienen zu konnen.
[17]
Er durfte dann mangels erforderlicher Truppen doch nicht nach Irland ubergesetzt sein,
[18]
was indessen manche Historiker dennoch annehmen und dabei an eine in kleinem Maßstab durchgefuhrte Probe- oder Strafexpedition denken. Tacitus erwahnt aber nichts davon und die Insel blieb jedenfalls auch weiterhin außerhalb des romischen Einflussbereiches.
Im Jahr 82 zog Agricola mit seinen Truppen an der Ostkuste des heutigen
Schottlands
in die nordlich des Firth of Forth gelegenen Regionen und wurde dabei von seiner Flotte begleitet. Der schottische Stamm der
Kaledonier
griff zu den Waffen und drohte mit numerisch uberlegenen Heeren in Flanke und Rucken der vorruckenden romischen Armee einzufallen sowie deren Stutzpunkte anzugreifen. Als Gegenstrategie teilte Agricola seine Soldaten nun in drei Kolonnen auf, um auf diese Weise weiter nach Norden zu marschieren. Daraufhin attackierten die Kaledonier mit ihrer gesamten Militarmacht des Nachts das Marschlager der von Tacitus als schwachste britannische Legion charakterisierte
Legio VIIII Hispana
, die eine
Vexillation
fur den Kampf gegen die
Chatten
hatte abgeben mussen. Die bedrangten romischen Soldaten erlitten schwere Verluste, wurden aber vom mit weiteren Streitkraften herbeigeeilten Agricola gerade noch rechtzeitig gerettet und die Feinde in die Flucht geschlagen. Die Kaledonier brachten ihre Frauen und Kinder an sichere Orte und bewaffneten noch mehr Manner, meist Jugendliche, fur die bevorstehende Konfrontation mit den Romern.
[19]
Unter anderem wurde das
Legionslager Inchtuthil
, 15 km nordlich von
Perth
, als Standort eines von Agricola wahrend seines Feldzugs gegen die Kaledonier errichteten festen Legionslagers festgestellt.
[20]
Ein zweiter Sohn, der Agricola in diesem Jahr (82) geboren wurde, starb zum Kummer des Vaters bereits im darauffolgenden Jahr.
[21]
Im Sommer 82 meuterte eine in Germanien ausgehobene und nach Britannien verlegte Kohorte
Usipeter
, bemachtigte sich mehrerer Kahne und wollte auf diesen in ihre Heimat entkommen. Die Fluchtigen umsegelten Britannien, erlitten aber Schiffbruch und fielen
Sueben
und
Friesen
in die Hande, die sie teilweise als Sklaven verkauften.
[22]
Beim erneuten Vormarsch nach Norden, den Agricola im Jahr 83 wieder mit Flottenunterstutzung unternahm, fand er die Hauptstreitkrafte der Kaledonier unter ihrem Feldherrn
Calgacus
beim
Mons Graupius
versammelt vor. Die genaue Position dieses wohl im Nordosten Schottlands gelegenen Berges ist unbekannt. Die Romer gewannen die nun folgende
Schlacht
[23]
laut der Darstellung des Tacitus ohne Beteiligung der Legionen am Kampfgeschehen nur durch den Einsatz ihrer 8000 Mann Hilfstruppen sowie 3000 Reiter und vier Alae Reserven gegen die angeblich 30.000 Soldaten starke kaledonische Armee, von denen 10.000 Mann gefallen sein sollen, wahrend dem Rest die Flucht gelang. Die romischen Verluste gibt Tacitus mit nur 360 Gefallenen an.
[24]
Nach der siegreichen Schlacht beendete Agricola aufgrund des Nahens des Herbstes seinen Feldzug und begab sich mit seiner Armee auf das Territorium der ansonsten in den antiken Quellen nicht erwahnten Volkerschaft der
Boresti
, die ihm Geiseln auslieferten. Wahrend er sich dann absichtlich langsam mit seinen Landtruppen auf den Weg in die Winterquartiere machte, ließ er seine Flotte zuerst noch den Norden Britanniens umsegeln, sodass nun endgultig belegt war, dass es sich wirklich um eine Insel handelte.
[25]
Kaiser
Domitian
ließ dem erfolgreichen Statthalter eine Ehrenstatue und die
ornamenta triumphalia
durch den Senat dekretieren,
[26]
beorderte ihn aber bald danach, wahrscheinlich zu Beginn des Jahres 84, nach Rom zuruck. Tacitus behauptet, dass der große Erfolg seines Schwiegervaters Domitian heimlich geangstigt habe. Der Kaiser habe Agricola seine Abberufung durch die Aussicht auf die Ubertragung der bedeutenden Provinz
Syria
schmackhaft machen wollen.
[27]
Wahrscheinlichere Grunde fur die Abberufung des Statthalters als der von Tacitus angegebene durften u. a. sein, dass Agricola schon ungewohnlich lange (sieben Jahre) sein Amt versehen hatte, dass die Ausgaben fur die militarischen Aktivitaten und die in diesen Kriegen erlittenen Verluste vermutlich in keinem Verhaltnis zum Gewinn standen und dass vor allem ein Teil der in Britannien stationierten Truppen durch die zunehmenden germanischen und
dakischen
Angriffe an
Rhein
und
Donau
an diesen Schauplatzen dringender benotigt wurden. In der Folge konnten die nordlichsten Eroberungen Agricolas nicht behauptet werden und wurden wieder geraumt, so etwa das Legionslager Inchtuthil. Dass aber Domitian den siegreichen Feldherrn nicht aus personlichen, sondern sachlichen Grunden zuruckbeordert hatte, ist auch daran zu erkennen, dass der militarisch sehr expansiv eingestellte
Trajan
Domitians Entscheidung, die nordlichsten romischen Festungen in Britannien aufzugeben, nicht revidierte.
[28]
Agricola fuhrte nach dem Ende seiner britannischen Statthalterschaft ein ziemlich zuruckgezogenes Leben. Von seinem Lebensabend bietet Tacitus folgende Version: Obwohl er von Domitian mit den
Triumphalinsignien
geehrt worden war, verlor Agricola angeblich aufgrund seiner Popularitat, Erfolge und Integritat das Vertrauen des als tyrannisch charakterisierten Kaisers, ohne dass sich dieser dies habe anmerken lassen. Wahrend die Romer 86-88 gegen die von
Decebalus
angefuhrten
Daker
sowie gegen die
Quaden
und
Markomannen
unglucklich kampften, sei Agricola vom Volk ? sehr zum Arger Domitians ? als geeigneter Feldherr zur Wendung dieser unerfreulichen Situation angesehen worden. Als er dann um den Prokonsulat der Provinzen
Africa
oder
Asia
losen sollte,
[29]
habe er auf eine solche Kandidatur auf heimlichen Druck des Kaisers verzichtet. Durch diese kluge Zuruckhaltung hatten Domitians Neid und Misstrauen ihm gegenuber nachgelassen.
[30]
Als Agricola am 23. August 93 im Alter von 53 Jahren starb, machten Geruchte uber seine angebliche Vergiftung, die Tacitus wahrscheinlich selbst nicht glaubte, die Runde. Aufgrund einer mehrjahrigen Abwesenheit war es Tacitus und seiner Gattin nicht vergonnt gewesen, am Sterbebett ihres wohl doch eines naturlichen Todes verschiedenen Schwiegervaters bzw. Vaters personlich anwesend zu sein. Der Verstorbene wurde vom Volk sehr betrauert und auch der testamentarisch neben Agricolas Gattin und Tochter zum Miterben bestimmte Kaiser habe Kummer geheuchelt, sei aber in Wahrheit erfreut uber das Ableben des verdienten ehemaligen Statthalters und Feldherrn gewesen.
[31]
Die neuere Forschung hat gegenuber Tacitus’ Version von dem Verhaltnis zwischen Agricola und Domitian darauf hingewiesen, dass auch der romische Historiker nicht ganz verhehlen kann, dass Agricola Domitian stets beflissen diente und dafur beim Kaiser in hochster Gunst stand. Die Behauptung, Domitian habe ihn zwar außerlich geehrt und belohnt, heimlich aber gefurchtet und gehasst, dient offensichtlich als eine Apologie, um in der kritischen Situation der Jahre 97/98, als der
Agricola
des Tacitus wahrscheinlich entstand, zu rechtfertigen, dass Agricola und sein Schwiegersohn Tacitus unter dem postum zum Tyrannen erklarten Domitian so glanzende Karrieren absolviert hatten.
Tacitus charakterisiert im
Agricola
seinen Schwiegervater als einen lauteren, respektabnotigenden Mann altromischer Tugend. Er habe als philosophisch gebildeter Mensch meist weise und maßvoll gehandelt, sich notigenfalls politisch klug zuruckgehalten, als Richter gerechte Urteile gesprochen und seine Autoritat als Amtsperson durch Ernst, Dienstfertigkeit sowie, falls erforderlich, auch durch eine gewisse Strenge gewahrt.
[32]
- Werner Eck
:
Iulius [II 2].
In:
Der Neue Pauly
(DNP). Band 6, Metzler, Stuttgart 1999,
ISBN 3-476-01476-2
, Sp. 23?24.
- Alexander Gaheis
:
Iulius 49)
.
In:
Paulys Realencyclopadie der classischen Altertumswissenschaft
(RE). Band X,1, Stuttgart 1918, Sp. 125?143.
- Rudolf Hanslik
:
Agricola.
In:
Der Kleine Pauly
(KlP). Band 1, Stuttgart 1964, Sp. 144.
- Marie-Therese Raepsaet-Charlier
:
Cn. Iulius Agricola: mise au point prosopographique.
In:
Wolfgang Haase
(Hrsg.):
Aufstieg und Niedergang der romischen Welt
.
Band II 33,3:
Allgemeines zur Literatur des 2. Jahrhunderts und einzelne Autoren der trajanischen und fruhhadrianischen Zeit [Forts.].
Walter de Gruyter, Berlin/New York 1991, S. 1807?1857.
- Ronald Syme
:
Tacitus
. Bd. 1 (von 2). Oxford 1958, S. 19ff; 121ff.
- Malcolm Todd
:
Julius Agricola, Gnaeus
. In:
Oxford Dictionary of National Biography
(ODNB). Bd. 30 (2004), S. 822ff.
- ↑
Tacitus,
Agricola
4 und 44.
- ↑
Tacitus,
Agricola
4;
Seneca
,
de beneficiis
2, 21, 5.
- ↑
Tacitus,
Agricola
4.
- ↑
Tacitus,
Agricola
5f.
- ↑
Digesten
4, 4, 2.
- ↑
Tacitus,
Agricola
6.
- ↑
Tacitus,
Agricola
7; vgl.
Historien
2, 13f.
- ↑
Tacitus,
Agricola
7; vgl.
Historien
1, 60.
- ↑
Tacitus,
Agricola
8.
- ↑
Tacitus,
Agricola
9.
- ↑
Malcolm Todd, ODNB Bd. 30, S. 823.
- ↑
Karl Christ
,
Geschichte der romischen Kaiserzeit
, 3. Auflage Munchen 1995,
ISBN 3-406-36316-4
, S. 264f.
- ↑
Die hier angegebene Chronologie von Agricolas Feldzugen folgt der Darstellung von
Alexander Gaheis
(RE X,1, Sp. 130?138).
- ↑
Tacitus,
Agricola
18.
- ↑
Tacitus,
Agricola
19ff.
- ↑
Tacitus,
Agricola
22f.
- ↑
Tacitus,
Agricola
24.
- ↑
Diesen Standpunkt vertritt etwa Alexander Gaheis (RE X,1, Sp. 135).
- ↑
Tacitus,
Agricola
25ff.
- ↑
Malcolm Todd, ODNB Bd. 30, S. 824; Alexander Gaheis, RE X,1, Sp. 136.
- ↑
Tacitus,
Agricola
29.
- ↑
Tacitus,
Agricola
28;
Cassius Dio
66, 20, 1f.
- ↑
Wird Agricolas Antritt seiner britannischen Statthalterschaft auf das Jahr 78 datiert, so hatte die Schlacht am Mons Graupius erst 84 stattgefunden.
- ↑
Tacitus,
Agricola
29-38.
- ↑
Tacitus,
Agricola
38; Cassius Dio 66, 20, 2.
- ↑
Tacitus,
Agricola
40, 1; Cassius Dio 66, 20, 3 (der die Verleihung der Agricola zugestandenen Ehren falschlicherweise dem schon lange verstorbenen
Titus
zuschreibt).
- ↑
Tacitus,
Agricola
39f.
- ↑
Karl Christ,
Geschichte der romischen Kaiserzeit
, S. 265; Alexander Gaheis, RE X, 1, Sp. 137f.
- ↑
Der Vorsitz von Asia war nach der damals (um das Jahr 88) erfolgten Hinrichtung des Statthalters
Gaius Vettulenus Civica Cerialis
vakant geworden.
- ↑
Tacitus,
Agricola
41f.; vgl. Cassius Dio 66, 20, 3.
- ↑
Tacitus,
Agricola
43ff.; Cassius Dio 66, 20, 3 (der es als sicher hinstellt, dass Agricola auf Befehl Domitians ermordet worden sei).
- ↑
Alexander Gaheis:
Iulius 49).
In:
Paulys Realencyclopadie der classischen Altertumswissenschaft
(RE). Band X,1, Stuttgart 1918, Sp. 141 f.