Giovanni Giolitti
Giovanni Giolitti
(*
27. Oktober
1842
in
Mondovi
,
Piemont
; †
17. Juli
1928
in
Cavour
, Piemont) war ein
italienischer
Politiker und mehrfacher
Prasident des Ministerrats
(Ministerprasident).
Giolitti entstammte einer burgerlichen Familie. Er wurde 1861 in Rechtswissenschaft an der
Universitat Turin
promoviert und machte schnell Karriere als Beamter in der Verwaltung seiner Heimatprovinz
Cuneo
und spater als Staatssekretar im Finanzministerium. 1877 wurde er in den Rechnungshof berufen, 1882 zum
Staatsrat
ernannt. Im selben Jahr trat er als Liberaler ins
italienische Parlament
ein, wo er durch Angriffe auf Finanzminister
Magliani
auf sich aufmerksam machen konnte.
Im September 1890 wurde er als Finanzminister in das
Kabinett Crispi II
berufen. Nach dem Sturz von Ministerprasident
Rudini
trat er im Mai 1892 dessen Nachfolge an. Fur die Probleme Italiens dieser Zeit (Nord-Sud-Konflikt,
Fasci siciliani
, schwelender Konflikt mit Frankreich) fand er keine Losungen. Im Skandal um die Staatsbank
Banca Romana
wurde ihm Amtsmissbrauch vorgeworfen; er trat im Dezember 1893 zuruck und floh vor einer Verhaftung nach
Berlin-Charlottenburg
.
Seine angeschlagene Reputation konnte er nur allmahlich wieder aufbauen, teilweise indem er sich die folgenden Auseinandersetzungen der konservativen Regierungen mit den Sozialisten zunutze machte. Nach dem Sturz der Regierungen
Pelloux
1900 und ? nach dem Mord an Konig
Umberto I.
?
Saracco
wurde er 1901 vom neuen Ministerprasidenten
Zanardelli
als Innenminister ins Kabinett zuruckgeholt, wo er gegenuber den Streiks und Ausschreitungen dieser Zeit den reformerischen und revolutionaren Bewegungen gegenuber zu Zugestandnissen bereit war. Nach dem Ruckzug des gesundheitlich angeschlagenen Zanardelli aus der Politik beerbte Giolitti diesen im November 1903 als Ministerprasident. Mit zwei langeren Unterbrechungen 1905/06 und 1909?11 hatte er das Amt danach bis Marz 1914 inne.
Sein Einfluss auf die italienische Politik war so erheblich, dass diese Periode als
eta giolittiana
(Ara Giolitti) bezeichnet wird. Es war die Zeit, in der ? parallel zur Entwicklung in anderen europaischen Staaten ? die industriellen Ballungsgebiete Norditaliens und eine breite Arbeiterschicht entstanden und Italien eine aktive
Kolonialpolitik
betrieb. Giolitti forderte besonders die
Industrialisierung
Italiens, fuhrte 1912 eine staatliche
Sozialversicherung
ein und reformierte das italienische Wahlrecht (Einfuhrung des
allgemeinen Wahlrechts
fur Manner unabhangig vom Einkommen), was die Zahl der Wahlberechtigten auf bis zu 8 Millionen steigen ließ. Die Beteiligung neuer Wahlerschichten brachte aber ein Erstarken der
Sozialisten
und des
politischen Katholizismus
(zunachst in Form der
Unione Elettorale Cattolica Italiana
, ab 1919 dann als
Partito Popolare Italiano
) und umgekehrt einen Bedeutungsverlust der eher großburgerlichen Liberalen mit sich.
Gabriele D’Annunzio spricht auf einer Kundgebung gegen den ?giolittismo“, illustrierte Beilage des
Corriere della Sera
, 30. Mai 1915
Außenpolitisch leitete er als Folge der
Bosnischen Annexionskrise
(1908) die Distanzierung vom
Dreibund
mit dem Deutschen Reich und Osterreich-Ungarn ein und fuhrte 1911/12 mit Ruckendeckung der
Entente
den
Italienisch-Turkischen Krieg
, der Italien
Tripolitanien
, die
Kyrenaika
und den
Dodekanes
einbrachte.
Nach den Parlamentswahlen im Februar 1914, die den linken und rechten Oppositionsparteien Stimmengewinne brachten, verkundete er seinen Rucktritt und empfahl den Konservativen
Antonio Salandra
als seinen Nachfolger. Als Italien 1914/15 vor der Wahl stand, am
Ersten Weltkrieg
teilzunehmen, hielt Giolitti als nomineller Fuhrer der neutralistischen Parlamentsmehrheit an der Neutralitat Italiens fest, was er mit der unzureichenden Vorbereitung der Armee begrundete. Dies trug ihm unter anderem Mordaufrufe von
Gabriele D’Annunzio
ein und fuhrte zu seiner Abreise aus Rom, die den Zusammenbruch der Opposition gegen die Kriegsbeteiligung markierte.
In der Krise der Nachkriegszeit (
Biennio rosso
) wurde er 1920 erneut zum Ministerprasidenten berufen. Er fand im
Grenzvertrag von Rapallo
einen Ausgleich mit Jugoslawien und beendete militarisch die Besetzung von
Rijeka/Fiume
durch D’Annunzios
Arditi
. Sein Versuch, die erstmals im Parlament vertretenen Faschisten in seinen Integrationskurs einzubeziehen, scheiterte jedoch. Im Juli 1921 musste Giolitti zurucktreten, was das
Biennio nero
einleitete, das 1922 in den
Marsch auf Rom
und die Machtubernahme
Benito Mussolinis
mundete.
Im Parlament leistete er den Faschisten Widerstand und wurde nach der Ermordung
Giacomo Matteottis
am 10. Juni 1924 zur Fuhrungsfigur der verbleibenden liberalen Parlamentarier. So lehnte Giolitti 1926 die Ausnahmegesetze Mussolinis ab und bezog im Parlament Position gegen die faschistische Wahlrechtsreform. Kurz darauf zog er sich jedoch aus der Politik nach Cavour bei Turin zuruck, wo er schließlich starb.
Sein Enkel
Antonio Giolitti
wurde spater
EG-Kommissar
.
- Ministerprasident
- 15. Mai 1892?27. September 1892
- 23. November 1892?15. Dezember 1893
- 3. November 1903?12. Marz 1905
- 29. Mai 1906?8. Februar 1909
- 24. Marz 1909?11. Dezember 1909
- 30. Marz 1911?29. September 1913
- 27. November 1913?21. Marz 1914
- 15. Juni 1920?7. April 1921
- 11. Juni 1921?4. Juli 1921
- Innenminister
- 15. Mai 1892?28. November 1893
- 15. Februar 1901?20. Juni 1903
- 3. November 1903?15. Marz 1905
- 30. Mai 1906?10. Dezember 1909
- 30. Marz 1911?20. Marz 1914
- 15. Juni 1920?4. Juli 1921
- Finanzminister
- 14. September 1890?8. Dezember 1890
[1]
- Giovanni Giolitti:
Memorie della mia vita
(2 Bde.), Mailand 1922 (dt.
Denkwurdigkeiten meines Lebens. Mit einem Brief Giolittis an den Ubersetzer als Einleitung und einem Charakterbild des Menschen und Staatsmannes.
Deutsche Verlagsanstalt, Stuttgart 1923).
- Paul Herre:
Giolitti †
. In:
Die Kriegsschuldfrage. Berliner Monatshefte fur internationale Aufklarung
, Jg. 6 (1928), S. 734?744.
- Antonio De Simone:
Giolitti, Giovanni
. In:
Enciclopedia Italiana
, Bd. 17 Giap?Gs, Rom 1933.
- Frank J. Coppa
:
Economic and Ethical Liberalism in Conflict: The extraordinary liberalism of Giovanni Giolitti
. In: Journal of Modern History 42 (1970), S. 191?215.
- Alexander J. De Grand:
The Hunchback's Tailor: Giovanni Giolitti and Liberal Italy from the Challenge of Mass Politics to the Rise of Fascism, 1882?1922
, Westport 2000,
ISBN 0-275-96874-X
.
- Emilio Gentile
:
Giolitti, Giovanni.
In: Mario Caravale (Hrsg.):
Dizionario Biografico degli Italiani
(DBI). Band 55:
Ginammi?Giovanni da Crema.
Istituto della Enciclopedia Italiana, Rom 2000.
- Giolitti, Giovanni
. In:
Dizionario di Storia
, Rom 2010.
- ↑
Giovanni Giolitti ? Incarichi di governo.
In:
storia.camera.it.
Abgerufen am 15. Dezember 2021
(italienisch).