Gezeitenkrafte
treten auf, wenn sich ein ausgedehnter Korper in einem außeren
Gravitationsfeld
befindet, dessen Starke raumlich variiert. Die auf der Erde nachweisbaren Gezeitenkrafte werden durch Mond und Sonne verursacht und rufen (unter anderem) die
Gezeiten
der Meere hervor.
Die Gezeitenkraft auf einen bestimmten Teil des ausgedehnten Korpers ist die Differenz der außeren Gravitationskraft, die auf diesen Teil an seinem Ort wirkt, und der Gravitationskraft, die auf ihn wirken wurde, wenn er sich am Ort des
Massenmittelpunktes
des ausgedehnten Korpers befande (siehe Abbildung, oberer Teil). Drei dazu aquivalente Definitionen sind: (1) Die Gezeitenkraft auf einen Teil des Korpers ist die Summe aus der außeren Gravitationskraft und der
Tragheitskraft
, die sich aus der Beschleunigung des Massenmittelpunkts des ausgedehnten Korpers ergibt (siehe Abbildung, unterer Teil). (2) Die Gezeitenkraft ist die außere Gravitationskraft, wie sie sich in dem beschleunigten Bezugssystem auswirkt, in dem der Massenmittelpunkt des ausgedehnten Korpers ruht. (3) Die Gezeitenkrafte ergeben sich aus den
Gezeitenbeschleunigungen,
das sind die Unterschiede in der
Fallbeschleunigung
, die verschiedene Teile des ausgedehnten Korpers in dem außeren Gravitationsfeld erfahren.
Gezeitenbeschleunigungen sind relativ klein im Vergleich zu der Beschleunigung, die der ausgedehnte Korper als Ganzes durch das außere Gravitationsfeld erfahrt. Bemerkbar werden Gezeitenkrafte vor allem dann, wenn das System keinen weiteren außeren Kraften unterworfen ist, sich also z. B. in einer
Umlaufbahn
frei bewegt oder, allgemein gesagt, sich im
freien Fall
befindet.
In der
Allgemeinen Relativitatstheorie
wird das durch den
Riemannschen Krummungstensor
der Raum-Zeit beschriebene Verhalten benachbarter
Geodaten
, die aufgrund der Raumzeitkrummung aufeinander zulaufen oder sich voneinander entfernen, ebenfalls als Gezeitenkraft bezeichnet.
Die Gezeitenkrafte bewirken eine Verformung ausgedehnter Korper oder Systeme. Beispiele fur die Wirkung von Gezeitenkraften sind, neben den Gezeiten, die Abbremsung der
Erdrotation
, die
gebundene Rotation
des Erdmondes, der Vulkanismus des Jupitermondes
Io
und das Auseinanderreißen von Kometen (siehe z. B.
Shoemaker-Levy 9
) oder Galaxien bei Beinahezusammenstoßen (siehe z. B.
Antennen-Galaxien
).
Ein typisches inhomogenes Gravitationsfeld ist das
Zentralfeld
, das durch einen entfernten Korper erzeugt wird. Ein ausgedehnter Korper, der darin frei fallt, wird parallel zur Richtung des Fallens (im Bild waagerecht) gestreckt, senkrecht dazu gestaucht. Ein einfacher
Probekorper
zur Erkundung der Gezeitenbeschleunigung ist eine Hantel in Gestalt zweier starr verbundener Punktmassen. Die Hantel gerat unter eine Zugspannung (ihre Massen streben auseinander), wenn sie radial, also parallel zur Fallbeschleunigung orientiert ist. Dagegen gerat sie unter eine Druckspannung von der halben Große dieser Zugspannung, wenn sie quer zur Fallrichtung orientiert ist. Liegt sie schrag zu einer dieser Richtungen, erfahrt sie ein
Drehmoment
, das sie in die radiale Orientierung dreht. Dies gilt entsprechend auch fur naherungsweise kugelformige Korper, wenn sie gestreckt oder gestaucht sind. Fur eine Anwendung siehe
Stabilisierung (Raumfahrt)
.
Ein kugelsymmetrischer Korper erfahrt insgesamt kein Drehmoment. Die Gezeitenkrafte an seiner Oberflache sind an den beiden Punkten des kleinsten bzw. großten Abstands zum Mittelpunkt des Zentralfelds radial nach außen gerichtet. In gewissem Abstand von diesen beiden Punkten sind die Gezeitenkrafte parallel zur Oberflache und auf diese Punkte hin gerichtet. Auf der Erde, die im Gezeitenpotential von
Mond
und Sonne rotiert, erzeugen sie in den Wassermassen der Ozeane periodisch Stromungen, die an den Kusten Ebbe und Flut verursachen, eben die
Gezeiten
.
Auf einen nicht-kugelsymmetrischen Korper kann jedoch auch ein Drehmoment wirken. So erfahrt die
abgeplattete Erde
von Mond, Sonne und anderen Planeten ein Drehmoment, das ihren Eigendrehimpuls andert und so zur
Prazession der Erdachse
fuhrt.
In der
Geophysik
und
Planetologie
gibt die Messung von Verformungen durch Gezeitenkrafte auch Hinweise auf die
Elastizitat
und den inneren Aufbau von Planeten. In den
1980er
Jahren wurden mathematisch-physikalische
Erdmodelle
entwickelt, die den Unterschied zwischen starrer und elastischer Erde mittels
Shida-
und
Love-Zahlen
beschreiben. Neben den Ozeanen hebt sich auch die feste
Erdkruste
2 × taglich um ±(30 bis 50) cm. Heute ist diese Theorie auf einige mm genau und dient zur
Reduktion
aller geodatischen Erdbeobachtungen und sogar von Satellitenbahnen.
Maximale Werte der Gezeitenbeschleunigung an einem Trabanten
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Ein Zentralkorper der Masse
M
verursacht auf der Oberflache eines Trabanten, der den Radius
R
hat und sich mit seinem Mittelpunkt im Abstand
r
befindet, im nachsten und fernsten Punkt die Gravitationskraft:
- (1)
Das Vorzeichen ist hier auf den Mittelpunkt des Zentralkorpers bezogen. Vom Mittelpunkt des Trabanten aus gesehen weist die Gezeitenbeschleunigung hingegen an beiden Punkten nach außen.
Die mittlere
Gravitationsbeschleunigung
, die auf den ganzen Trabanten wirkt, ist
- (2)
.
Der dem Zentralkorper nachste Punkt an der Oberflache des Trabanten hat den Abstand
, der fernste
. Die Gravitationsbeschleunigung
an diesen Punkten ist daher
- (3)
Dies ist die großte bzw. kleinste Gravitationsbeschleunigung, die auf ein Massenelement des Trabanten wirkt. Sie ist im ?vorderen“ Punkt also großer und im ?hinteren“ kleiner als
.
Die Gezeitenbeschleunigung an jedem Punkt ist ganz allgemein die vektorielle Differenz zwischen der dort herrschenden Gravitationsbeschleunigung und der mittleren Gravitationsbeschleunigung des Korpers. Da alle drei Beschleunigungen im vorliegenden Fall parallel sind, folgt:
- (4)
Wenn
gilt, wie in den meisten Fallen, kann man den Bruch durch
- (5)
wiedergeben und die unendliche Reihe naherungsweise nach dem linearen Glied abbrechen. Es folgt:
- (6)
Die Gezeitenbeschleunigung weist auf beiden Seiten vom Mittelpunkt des Trabanten weg. Sie ist genau genommen nicht auf beiden Seiten gleich groß, wie man sieht, wenn man die Naherung bis zum quadratischen Glied oder gleich die ungenaherte Formel nimmt.
Eine Gezeitenbeschleunigung zum Mittelpunkt des Trabanten ergibt sich fur die Punkte der Oberflache, die vom Zentralkorper den gleichen Abstand haben. Dort sind zwar die Betrage der Gravitationsbeschleunigung zum Zentralkorper gleich groß wie die mittlere Beschleunigung, aber nicht ihre Richtungen. Verglichen mit der am Mittelpunkt angreifenden Beschleunigung
haben sie eine nach innen gerichtete Komponente der Große
, also der Halfte des Wertes fur die Punkte mit minimalem oder maximalem Abstand zum Zentralkorper.
Ist der Abstand eines Trabanten zu seinem Zentralkorper sehr klein, so werden die Gezeitenkrafte sehr stark.
Um die Stabilitat eines Korpers zu untersuchen, betrachtet man die Gezeitenkrafte im Vergleich zu den Gravitationskraften, die den Korper selbst zusammenhalten. Im Stabilitatsbereich sind die Gezeitenkrafte nicht großer als die Gravitationskrafte, wobei man zur Abschatzung den Trabanten in zwei Teilkorper unterteilt, mit jeweils der halben Trabantenmasse
in einem Abstand, der seinem Radius
entspricht:
mit dem Abstand
r
von der Zentralmasse
,
c
ist hierbei eine Konstante von der Großenordnung 1. Mit den mittleren Dichten
ρ
und
ρ
t
des Zentralkorpers und des Trabanten sowie dem Radius
R
des Zentralkorpers erhalt man:
Eine genauere Rechnung ergibt:
Bei einem Abstand von weniger als dem 2,44-Fachen des Radius seines Zentralkorpers wird ein Trabant mit gleicher Dichte durch die Gezeitenkrafte auseinandergerissen bzw. kann sich gar nicht erst bilden. Dieser Abstand wird nach
Edouard Albert Roche
, der diese Abschatzung erstmals durchgefuhrt hat, ?Roche-Grenze“ genannt.
Diese Uberlegungen gelten fur die eigene Schwerkraft als relevanten Gegenspieler der Gezeitenkraft, der fur Zusammenhalt sorgt, also fur den Fall großerer Korper (vgl.
Zwergplanet
). Bei kleineren Korpern uberwiegt jedoch die Stabilisierung durch
Kohasionskrafte
.
Bei kunstlichen
Satelliten
ist die eigene Gravitation fur die Betrachtung des Zusammenhalts vernachlassigbar gegenuber der Zug- und Druckfestigkeit und Steifigkeit der Konstruktionsmaterialien. Wo keine mechanisch feste Verbindung besteht, konnen Gezeitenkrafte spurbar werden: Beim Schweben eines Astronauten außerhalb oder auch innerhalb der Kapsel, beim Entschweben von Werkzeug ohne Fangleine, bei einem Koppelmanover von zwei Raumfahrzeugen, bei Flussigkeit in einem halbvollen Tank.
Die
Saturnringe
liegen zum großen Teil innerhalb der Roche-Grenze des
Saturns
. Dies ist neben den
Hirtenmonden
, deren Stabilitat durch innere Kohasionskrafte erhoht wird, der Hauptgrund fur die Stabilitat des Ringsystems.
Der Komet
Shoemaker-Levy 9
passierte im Juli 1992 den Planeten
Jupiter
und zerbrach dabei in 21 Fragmente zwischen 50 und 1000 m Große, die sich auf einer mehrere Millionen Kilometer langen Kette aufreihten. Zwischen dem 16. und dem 22. Juli 1994 tauchten diese Bruchstucke dann in Jupiter ein.
Bei engen Begegnungen von
Sternen
mit einem Abstand, der geringer ist als die Roche-Grenze, werden diese in einer sogenannten
Sternkollision
stark verandert, meist wird der kleinere zerrissen.
Die Gezeitenwirkung des Jupiters verhindert, dass sich der
Asteroidengurtel
zu einem Planeten zusammenballt. Wenn zum Beispiel zwei Asteroiden Jupiter passieren, zieht dieser den ihm naher gelegenen starker an als den entfernteren. Die Distanz zwischen den Asteroiden vergroßert sich.
Auf der Erde fuhren die Gezeiten in den
Meeren
zu
Ebbe
und
Flut
. Die Gezeiten wirken jedoch auch auf den Erdmantel selbst, sodass auch die Kontinente den Gezeiten mit einer Verzogerung von zwei Stunden folgen, allerdings ist der Effekt mit Vertikalbewegungen von 20 bis 30 Zentimeter deutlich geringer als die mehrere Meter hohen
Tiden
der Meere.
Durch die Gezeiten in großen Meeren konnen durch den
Tidenhub
lokal sehr starke Stromungen entstehen. Die dabei vorhandene
kinetische Energie
kann mittels eines
Gezeitenkraftwerks
genutzt werden.
Die Gravitationskrafte, die einander umkreisende Korper aufeinander ausuben, bewirken eine meist schwache Kopplung von
Rotation
und
Revolution
. Dadurch wird meist Rotations
drehimpuls
in
Bahndrehimpuls
verwandelt ? selten umgekehrt, weil Rotationen typischerweise großere Winkelgeschwindigkeiten besitzen als die Bahnbewegung. Folgende Darstellung des Mechanismus, also der Ursache des
Drehmomentes
zwischen Rotation und Revolution, spricht dabei von einem rotierenden und einem ?fernen“, vereinfacht gesagt dem ?anderen“, meist großeren Korper (z. B. dem betreffenden Zentralgestirn), wobei, falls beide rotieren, der Effekt auch mit vertauschten Rollen auftreten kann.
Unter der Gezeitenbeschleunigung des fernen Korpers nimmt der rotierende Korper eine leicht langliche
(
prolate
)
Form an. Aufgrund innerer Reibung bei der Verformung ist die Langsachse nicht auf den fernen Korper ausgerichtet, sondern in Rotationsrichtung verdreht. Die Wechselwirkung des fernen Korpers mit dem ihm zugewandten Ende des rotierenden Korpers ist starker als mit dem abgewandten Ende. Der effektive Angriffspunkt fur die Gesamtkraft, das sogenannte
Gravizentrum
, liegt nicht mehr auf der Verbindungslinie der
Baryzentren
der beiden Korper, sondern ist etwas in Rotationsrichtung verschoben, was das Drehmoment erklart.
Das Zeitintegral des Drehmoments ist der Drehimpuls, den der rotierende Korper verliert. Drehimpuls ist eine
vektorielle
Erhaltungsgroße
. Was der rotierende Korper an Drehimpuls verliert, addiert sich vektoriell zum Bahndrehimpuls des Systems. Dadurch nimmt der Bahndrehimpuls betragsmaßig zu, falls die Richtungen passen (oder ab, falls der ferne Korper schneller umlauft, als der Zentralkorper sich dreht, Beispiel
Phobos
, oder gegen die Rotationsrichtung umlauft, Beispiel
Triton
). Hoherer Bahndrehimpuls bewirkt nicht etwa eine hohere, sondern eine geringere Bahngeschwindigkeit ? auf einer großeren Bahn, siehe das dritte
Keplersche Gesetz
.
Auf lange Sicht kann die Rotation in eine
gebundene Rotation
ubergehen. Dieses Schicksal trifft meist den kleineren Korper zuerst, wie beim
Erdmond
. Solange die Rotation noch viel schneller ist als die Revolution, wird der großte Teil der
Rotationsenergie
, die der rotierende Korper verliert, nicht als
Arbeit
am fernen Korper geleistet, sondern geht uberwiegend als
Warme
verloren. Im Fall des
retrograd
umlaufenden Triton wird auch Bahnenergie und gravitative Bindungsenergie als Warme frei ? der Mond driftet nach innen, zur Roche-Grenze seines Planeten
Neptun
, wo er in weniger als einer Milliarde Jahre in ein Ringsystem zerrissen wird.
Zum Drehmoment zwischen Erde und Mond tragen hauptsachlich die
Gezeiten
bei. Die Verformung des Erdmantels ist auf der kurzen Zeitskala der Erdrotation weit uberwiegend elastisch und daher wenig phasenverschoben gegenuber der Gezeitenbeschleunigung. Die Atmosphare dagegen hat zu wenig Masse, um viel beizutragen. Fur Zahlenangaben zu aktuellen Anderungsraten siehe
Langfristige Anderungen der Erdrotation
und
Sakulare Akzeleration der Mondbahn
.
- Durch Gezeitenkrafte verformen sich Himmelskorper, sie werden geringfugig auf der Linie durch ihren Schwerpunkt und den des anderen Korpers in die Lange gezogen. Rotiert der Himmelskorper, so wird er dabei ?durchgewalkt“, ahnlich wie ein platter
Reifen
am
Auto
. Dadurch wird Rotationsenergie in Warme umgewandelt; die Rotation verlangsamt sich dadurch so lange, bis sich eine
gebundene Rotation
einstellt. Der Erdmond weist der Erde aufgrund dieses Effektes immer die gleiche Seite zu, und der Erdkern wird erhitzt. Beim
Jupitermond
Io
sind es Gezeitenkrafte, die uber Walken und Reibung von Gestein die Warmeenergie fur den
Vulkanismus
liefern.
- Die Verformung des Erdkorpers ist gering, dagegen ist die Auswirkung auf das beweglichere Wasser an seiner Oberflache deutlich. Es entstehen die maritimen
Gezeiten
, woher der Name Gezeitenkraft stammt.
- In Doppelsternsystemen konnen Gezeitenkrafte einen Materiefluss von einem Stern zum anderen verursachen, was in bestimmten Fallen zu einer
Supernova
(Typ 1a) fuhren kann.
- Sind die Gezeitenkrafte starker als die Krafte, die ein Objekt zusammenhalten, so konnen sie auch zum Zerreißen des Objekts fuhren, so geschehen beim
Kometen
Shoemaker-Levy 9
(siehe
Roche-Grenze
).
- Spaghettisierung
(extreme Verformung eines Objekts, das in die Nahe eines Schwarzen Lochs gerat)
- David E. Cartwright:
Tides ? a scientific history.
Cambridge Univ. Press, Cambridge 1999,
ISBN 0-521-62145-3
(englisch).
- Rainer Muller:
Klassische Mechanik
. 3. Auflage. de Gruyter, Berlin 2015,
Kap.
12
.
- Georg Hamel
:
Theoretische Mechanik.
Berichtigter Reprint. Springer, Berlin / Heidelberg / New York 1978.
ISBN 3-540-03816-7
. Kap. VIII, S. 379.
- Friedhelm Kuypers:
Klassische Mechanik
. 9. Auflage. WILEY-VCH, Weinheim 2010,
ISBN 978-3-527-40989-1
,
S.
182
f., 553?557
.