Germaine Tillion 1934
Germaine Tillion
(*
30. Mai
1907
in
Allegre
,
Departement Haute-Loire
; †
19. April
2008
in
Saint-Mande
) war eine franzosische
Ethnologin
und ein Mitglied der
Resistance
.
Ihre Jugend verbrachte Germaine Tillion mit ihren Eltern und ihrer Schwester Francoise in
Clermont-Ferrand
, wo ihr Vater Lucien Tillion (1867?1925) als
Friedensrichter
arbeitete. Ihre Eltern waren gebildete Menschen, sie liebten die Kunst. Ihr Vater war Amateurfotograf, ihre Mutter
Emilie Tillion
war Schriftstellerin und arbeitete eine Zeitlang maßgeblich in der Redaktion der
Guides bleus
, einer angesehenen Sammlung von kleinen Nachschlagewerken fur Touristen.
Sie verließ ihr Elternhaus, um in Paris zu studieren. Dort schloss sie sich einer Gruppe von Ethnologen um
Marcel Mauss
und
Louis Massignon
an. Sie beendete ihr Studium mit Diplomen der
Ecole pratique des hautes etudes
, der
Ecole du Louvre
sowie des
Institut national des langues et civilisations orientales
.
1934 brach sie zu ihrer ersten Studienreise nach
Algerien
auf, um dort das
Berbervolk
der
Chaouis
zu erforschen. Bis 1940 folgten drei weitere Studienaufenthalte in jener Gebirgsregion, dem
Aures
im Osten Algeriens.
Wahrend der franzosischen
Mobilmachung
1940 kehrte sie nach Frankreich zuruck. Die franzosische Kapitulation angesichts des deutschen Angriffs nahm sie mit Verachtung zur Kenntnis; sie habe sich ubergeben mussen, als sie die anschließende Rede von
Marschall Petain
horte.
[1]
Sie wurde Kommandantin der ersten Gruppe der
Resistance
, die sich im besetzten Gebiet bildete, der
groupe du
Musee de l’Homme
. Diese Widerstandsgruppe setzte sich die Beschaffung von Informationen sowie die Befreiung von Gefangenen zum Ziel. Zu ihren Mitstreitern gehorten die Bibliothekarin
Yvonne Oddon
, der Linguist
Boris Vilde
und der Anthropologe
Anatole Levitsky
, die alle drei am
Musee de l’Homme
arbeiteten, sowie der Monarchist
Maurice Dutheil de la Rochere
und der Oberst im Ruhestand
Paul Hauet
.
Im Laufe des Jahres 1941 konnte die deutsche Aufklarung die Gruppe nach und nach enttarnen. Anatole Levitsky und Boris Vilde wurden verhaftet und im Februar 1942 in der
Forteresse du Mont-Valerien
erschossen. Am 13. August 1942 wurde auch Tillion infolge einer Denunziation bei einem Treffen in der Pariser
Gare de Lyon
verhaftet. Sie wurde im Gefangnis von
Fresnes
eingesperrt, wo auch ihre Mutter Emilie inhaftiert war.
Am 21. Oktober 1943 wurde sie ebenso wie ihre Mutter ins
Konzentrationslager Ravensbruck
deportiert. Germaine erhielt den niedrigsten Status in der Lagerhierarchie, den einer
Verfugbaren
, einer Gefangenen, die zu jeder Zeit fur jede beliebige Arbeit eingesetzt werden konnte. In einer Kiste versteckt schrieb sie 1944 das Libretto einer makaber-komischen Operette:
Le Verfugbar aux Enfers
, der Titel variiert
Orphee aux Enfers
. Im Marz 1945 verlor sie ihre Mutter, die gemeinsam mit vielen anderen Mitgefangenen in jenem Monat durch Giftgas ermordet wurde. Im selben Fruhjahr wurde sie noch vor dem Einmarsch der Alliierten durch den Transport des
Schwedischen Roten Kreuzes
gerettet. Das Manuskript Tillions sicherte eine andere Gefangene. Tillion eignete sich Fotoaufnahmen der NS-Arzte von den Menschenversuchen an. Ihr eigenes Uberleben fuhrte sie auf gluckliche Umstande, auf ein Netzwerk von Freunden im Lager und auf den Wunsch von den Verbrechen zu berichten zuruck, nicht auf ihren Uberlebenswillen: ?J’ai surpasse, oui, mais sans de le faire expres. Si j’ai survecu, je le dois d’abord et a coup sur au hasard, ensuite a la colere, a la volonte de devoiler ses crimes et, enfin, a une coalition de l’amitie ? car j’avais perdu le desir visceral de vivre.“
[2]
(?Ich habe es uberstanden, ja, aber ohne es absichtlich zu tun. Wenn ich uberlebt habe, dann verdanke ich das vor allem dem Zufall, dann der Wut, dem Willen, diese Verbrechen aufzudecken, und schließlich einer Koalition der Freundschaft ? denn ich hatte den inneren Willen zu leben verloren.“)
Nach dem Krieg widmete sie sich der Erforschung des Zweiten Weltkriegs und der Aufklarung von deutschen Kriegsverbrechen. 1951 grundete sie gemeinsam mit dem
Trotzkisten
David Rousset
die
Commission internationale contre le regime concentrationnaire,
[3]
das die Existenz des
Gulag
aufdeckt und anprangert. Ab 1954 wandte sie sich erneut Studien uber Algerien zu. Sie grundete ein Bildungsprogramm fur Strafgefangene. Sie wurde Direktorin an der
Ecole pratique des hautes etudes
und organisierte 20 Studienreisen nach Nordafrika und in den Mittleren Osten. An der
Ecole des Hautes Etudes en Sciences Sociales
und am
Centre national de la recherche scientifique
erarbeitete sie eine Reihe von maßgeblichen Studien uber Gesellschaften und Kulturen des
Mittelmeerraums
.
Am 4. Juli 1957 traf sie sich in Algier heimlich mit
Yacef Saadi
, um der Eskalation von Attentaten und Hinrichtungen im Laufe des
Algerienkrieges
ein Ende zu setzen, was erfolglos blieb. Nach dem Algerienkrieg engagierte sie sich in verschiedenen politischen Projekten:
- gegen die Verelendung der algerischen Bevolkerung,
- gegen die
Folter
in Algerien,
- fur die
Emanzipation
der Frauen im Mittelmeerraum.
2004 beteiligte sie sich gemeinsam mit anderen franzosischen Intellektuellen an einem Aufruf gegen die Folter im
Irak
.
Am 2. Juni 2007 wurde anlasslich ihres 100. Geburtstags am
Theatre du Chatelet
in Paris ihre Operette
Verfugbar aux enfers
uraufgefuhrt.
Feier zur Uberfuhrung von
Genevieve de Gaulle-Anthonioz
, Germaine Tillion,
Pierre Brossolette
und
Jean Zay
in das Pantheon am 27. Mai 2015
Am 27. Mai 2015 wurden die sterblichen Uberreste Tillions gemeinsam mit denen von
Pierre Brossolette
,
Genevieve de Gaulle-Anthonioz
und
Jean Zay
in das
Pantheon
uberfuhrt. Dieses ist die hochste posthume Ehrung in Frankreich. Der
27. Mai
ist seit 2014 die
Journee nationale de la
Resistance
, ein landesweiter staatlicher Gedenktag.
[4]
- Fragments de vie.
Hrsg. v. Tzvetan Todorov. 2009.
- Die gestohlene Unschuld. Ein Leben zwischen Resistance und Ethnologie.
Ubersetzt, herausgegeben und mit einem einfuhrenden Essay von Mechthild Gilzmer. Ausgewahlt und mit einem Nachwort von Tzvetan Todorov. AvivA, Berlin 2015,
ISBN 978-3-932338-68-7
.
- Le Verfugbar aux enfers. Une operette a Ravensbruck.
La Martiniere, 2005,
ISBN 2-73243281-4
. (frz.)
- L’Algerie auresienne.
In Zusammenarbeit mit
Nancy Woods
. 2001.
- Il etait une fois l’ethnographie.
Autobiografie. 2000.
- Le harem et les cousins.
1966
- L’Afrique bascule vers l’avenir.
1959.
- Les ennemis complementaires.
1958.
- L’Algerie en 1957.
1956
- Ravensbruck.
Neuchatel 1946. (Wiederaufgelegt 1988,
ISBN 2-02031007-4
.)
- Frauenkonzentrationslager Ravensbruck.
Aus dem Franz. von Barbara Glaßmann. Anhang: Anise Postel-Vinay:
Die Massentotungen durch Gas in Ravensbruck.
Fischer, Frankfurt 2001,
ISBN 3-596-14728-X
.
- Catherine Simon:
Le siecle de Germaine Tillion.
In:
Le Monde.
30. Mai 2007, S. 24
- Catherine Simon:
Germaine Tillion.
In:
Le Monde.
22. April 2008, S. 20
- Tzvetan Todorov:
Une heroine de la fraternite
(?eine Heldin der Bruderlichkeit“). In:
Le Monde.
22. April 2008
- Martin Blumenson:
Le Reseau du Musee de l’Homme.
Seuil, Paris 1979.
- Mechthild Gilzmer: Germaine Tillion (1907?2008) "Auf der Suche nach der Wahrheit", in: Florence Herve (Hrsg.): Mit Must und List. Europaische Frauen im Widerstand gegen Faschismus und Krieg, Koln 2020, S: 93?98, Papy Rossa,
ISBN 978-3-89438-724-2
.
- Jean Lacouture:
Le Temoignage est un combat. Une biographie de Germaine Tillion.
Seuil, Paris 2000,
ISBN 2-02-040401-X
.
- Nancy Woods:
Germaine Tillion, une femme-memoire. D’une Algerie a l’autre.
Autrement, Paris 2003,
ISBN 9782746703186
.
- Francois Gauducheau:
Les images oubliees de Germaine Tillion.
Pois Chiche Films, Lorient 2001 (ein Film mit einer Sammlung von Fotografien, die die Ethnologin in den 1930er-Jahren in Algerien angefertigt hat).
- 2008:
Germaine Tillion, ethnologue et resistante.
Rennes
, Musee des Bretagne und Paris, Musee de l’homme
In franzosischer Sprache:
- ↑
?Quand j’ai entendu le discours de Petain, j’ai vomi. Litteralement“; Zitat laut Catherine Simon in
Le Monde
, 22. April 2008, S. 20.
- ↑
Germaine Tillion, in
Ravensbruck
, Ausgabe 1988. Die Seitenangabe fehlt hier.
- ↑
deutsch etwa:
Internationales Komitee gegen Konzentrationslager
- ↑
Dokumente ? Documents. Zeitschrift fur den deutsch-franzosischen Dialog.
H. 2, Sommer/Ete 2014,
ISSN
0012-5172
S. 109