Gerhard Vieth

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Gerhard Ulrich Anton Vieth (1796); Kupferstich von J.S.L. Halle

Gerhard Ulrich Anton Vieth (* 8. Januar 1763 in Hooksiel ( Herrschaft Jever ); † 12. Januar 1836 in Dessau ) war ein deutscher Lehrer und Turnpadagoge. Er setzte von der Aufklarung gepragte didaktische Reformen durch und arbeitete vor allem fur die Anerkennung einer neuen Korpererziehung.

Zusammenfassung

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Der Sohn eines Juristen und Amtmannes besuchte zwischen 1777 und 1781 die Provinzialschule (heute Mariengymnasium ) in Jever, anschließend studierte er von 1781 bis 1786 Rechtswissenschaft, Staatswissenschaft, Kameralistik, Mathematik und Physik an der Georg-August-Universitat Gottingen und der Universitat Leipzig . Unterbrochen wurde das Studium durch eine Hofmeister-Tatigkeit zunachst in Zerbst, spater in Leipzig. Nach einer kurzen Tatigkeit als Advokat wurde er im August 1786 an die Hochfurstliche Hauptschule in Dessau berufen, wo er anfangs in allen Fachern unterrichtete. 1799 wurde er Direktor der Schule, ein Jahr darauf Professor fur Mathematik, 1819 Schulrat. Zu den Lehrern der benachbarten, europaweit bekannten Dessauer Reformschule Philanthropinum , die 1793 als gescheitert galt und aufgelost wurde, hielt er zeit seines Lebens ? teilweise schon seit 1783 ? Kontakt.

1793 heiratete Vieth sein ehemaliges Dienstmadchen Henriette Dorothee Beibler. Aus der Verbindung gingen elf Kinder hervor.

Kindheit und Jugend

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Gerhard August Anton Vieth wurde am 8. Januar 1763 in Hooksiel in der Herrschaft Jever im Oldenburgischen geboren.

Der Vater Julius Eberhard Vieth hatte in der Herrschaft Jever eine Anstellung als Amtmann bekommen, spater arbeitete er zusatzlich als Deichinspektor, [1] um den Unterhalt fur seine achtkopfige Familie zu verdienen. Noch im selben Jahr der Anstellung ehelichte Julius Vieth Katharina Auguste Gerdes, die einzige Tochter des Oberpredigers aus Waddewarden . Die junge Frau gebar insgesamt elf Kinder, wovon Gerhard Ulrich Anton das erste war, das uberlebte. Ihm folgten zwei Bruder und drei Schwestern. [L 1]

Die Mutter kummerte sich zeit ihres Lebens hingebungsvoll um das Wohlergehen ihres altesten Sohnes. In einem Brief an ihn berichtete sie, wie geruhrt sie und sein Vater bei seiner Geburt waren und wie sie ihn wahrend eines ?bosen Ausschlags“ zu Hause wieder gesund pflegte. [L 2] Sie scheint stets die liebevolle Vermittlerin zwischen Vater und Sohn gewesen zu sein. Dies geht aus diversen Briefen hervor, zum Beispiel als es um Gerhards Verlobte geht: ?Wie du es dir merken ließest, sie zu heiraten, habe ich (…) heftig mit ihm daruber gestritten, er mochte seine Einwilligung geben [...].“ [L 3]

Bevor er im Alter von 14 Jahren die Gelehrtenschule besuchte, erhielt er bereits Unterricht von einem Hauslehrer. In den Fachern Italienisch und Franzosisch unterrichtete ihn sein Vater, außerdem entdeckte Gerhard seine Liebe zur Mathematik unter dessen fruher Anleitung. Seine Freizeit verbrachte er in der Natur bei Wanderungen oder im elterlichen Garten. Auch seine Musikalitat wurde von seinen engagierten Eltern gefordert. Der Vater lehrte ihn erste Stucke auf der Violine , zusatzlich bekam er Unterrichtsstunden bei einem tauben Zimmermann aus Sengwarden. [L 4]

Im Jahre 1777 besuchte Gerhard vier Jahre die Gelehrten- und Provinzialschule (heute Mariengymnasium) in Jever. Die Hauptunterrichtsfacher waren Latein und Griechisch. Da der Mathematikunterricht wohl nicht ausreichend war, bezahlte der Vater ihm zusatzlich Privatunterricht. Insgesamt schien es dem liebevoll erzogenen Gerhard schwer zu fallen, sich an die vorherrschenden erzieherischen Methoden zu gewohnen. Er beschwerte sich bei seinen Eltern uber die unertragliche Behandlung, einmal floh er deshalb sogar zu seinen Eltern. [L 5] Daraufhin schrieb die Mutter dem elfjahrigen Gerhard, er solle seine ?Geschafte mit mehr Achtsamkeit betreiben“, da er schon genug ?Unruhe“ in die Familie gebracht habe. [L 6] Spater bezeichnete Gerhard Vieth seine Schule als ?verdorben“. [L 7]

Der Vater wahlte die Georgia Augusta Universitat in Gottingen fur das Studium seines altesten Sohnes aus. Die Universitat war zu diesem Zeitpunkt noch sehr jung und zeichnete sich durch ihre Lehr- und Zensurfreiheit aus, die sie ihren Lehrenden zugestand sowie die freie Religionsausubung fur Reformierte und Katholiken . Sie galt als elitar und besonders vornehm, und wurde vorwiegend vom Adel besucht; dies machte sie umso anziehender fur die jungen Manner des aufstrebenden Burgertums. [L 8] Auch der Vater selbst hatte dreißig Jahre zuvor dort Rechtswissenschaft , Mathematik und Feldmesskunst studiert, nun konnte er seinem Sohn beim Aufbau seines Stundenplanes und der Wahl der Kollegs behilflich sein.

Im Fruhjahr 1781 machte sich Gerhard per Postkutsche auf die lange Reise nach Gottingen. Der Abschied von seiner Familie und seiner Heimat fiel ihm schwer, in seinen Briefen sprach er spater oft von Heimweh und davon, wie sehr er seine geliebten Eltern vermisste. [L 9] Wahrend seines Studiums in Gottingen war Gerhard immer wieder in großer Geldnot. Er bewegte sich im Kreise von Professoren und Adligen und war so gezwungen, auch seine Kleidung und seine Freizeitaktivitaten dementsprechend zu gestalten. Um sein gesellschaftliches Ansehen zu steigern und sich spater besser mit Quellen auseinandersetzen zu konnen, lernte er fleißig Englisch und Franzosisch in den Abendstunden. Doch der aufwandige Lebensstil der adligen Gesellschaft uberstieg das Budget, das ihm seine Eltern zur Verfugung stellen konnten. Zwar mussten Studenten von Adel fur Reit- und fur Fechtstunden die doppelte Gebuhr von burgerlichen Studenten zahlen, aber die allgemeinen Lebenshaltungskosten waren dennoch sehr hoch. [2]

Im Fruhjahr 1782 fragte ein Regierungsbeamter aus dem Adelsgeschlecht der von Nostitz aus dem Jeverland bei Gerhard an, ob dieser seinen Sohn als Hofmeister an die Universitat in Leipzig begleiten wollte. Gerhard war hin- und hergerissen; auf der einen Seite schmeichelte ihm das Angebot, und auch die Aussicht, nach Leipzig zu kommen, reizte ihn, andererseits sah er sich noch nicht im Stande, zu unterrichten, da seiner Meinung nach seine Kenntnisse zu einseitig und nicht weitreichend genug waren. Die Eltern rieten ihm zu diesem Schritt, seine Mutter schrieb: ?Dein Auftrag ist wichtig fur dich, deine Eltern und deine Geschwister“. Schließlich entschied sich Gerhard, letztlich auch in Hinsicht auf das erste selbst verdiente Geld, fur die Anstellung. [L 10] Er lebte eine Zeit lang auf einem Gut der Familie von Nostitz in Zerbst , wo er den Sohn der Familie, der zuvor das Philanthropin in Dessau besucht hatte, auf dessen Zeit in Leipzig vorbereiten sollte. Am 29. September 1782 besuchte er auf der Durchreise nach Leipzig erstmals selbst das Philanthropin in Dessau. Wahrend seiner Zeit in Leipzig studierte Vieth Jura, Kameralwissenschaften , Mathematik und Physik, sportlich betatigte er sich im Voltigieren , Fechten und Schlittschuhlaufen. [3] Voltigieren, als Vorform des Geratturnens, gehorte damals zum Fechten, da es mit den verschiedenartigen Sprungen uber Hindernisse verbunden war. [4] Doch das Angebot der Universitat, das zu dieser Zeit weniger auf Forschung ausgelegt war, wie Vieth es aus Gottingen kannte, schien ihn weniger zu locken als die Vorzuge des gesellschaftlichen Lebens in adligen Kreisen. Regelmaßig besuchte er mit seinem Schuler Gewandhauskonzerte, die Oper und Theatervorfuhrungen, um dem noch unbeholfen erscheinenden jungen Mann das Verhalten in den entsprechenden Kreisen naher zu bringen.

Wahrend dieser Zeit stieg seine Schuldenlast immer weiter, da die Investitionen fur Kleidung und Unterkunft sowie die verschiedenen gesellschaftlichen Unternehmungen sein Hofmeistergehalt weit uberstiegen und auch das Geld, das ihm seine Eltern regelmaßig schickten, wiederum nicht ausreichte. Zusatzlich musste Vieth Kredite aufnehmen; in einem Brief an seinen Vater berichtete er uber die fruhzeitige Ruckzahlung der Halfte einer geliehenen Summe. [L 11]

Doch Vieth bemerkte zunehmend, dass in diesen Kreisen nur das Geld und die daraus resultierende Macht zahlten. Er war regelrecht angewidert von der Oberflachlichkeit jener gesellschaftlichen Schicht. Diese grundlegende Einstellung bemangelte er auch in einer Charakterstudie, die er an seinem Zogling vornahm. Vieth meinte, er hatte bei ihm nichts ausrichten konnen, da dieser nichts angenommen habe, wohl aus dem Grund, da sein Vermogen groß genug ware, um ungeniert durch die Welt zu kommen. [L 12]

Im Juli 1784 kundigte der Geheimrat von Nostitz seinem Hofmeister zu Ostern 1785. Fur Vieth war es auf der einen Seite eine Entlastung, da seine Arbeit keine Fruchte zu tragen schien, andererseits waren jedoch auch Zukunftsplane, die ein weiteres Studienjahr in Gottingen vorsahen, hinfallig, da er von seinen Eltern keine weiteren finanziellen Aufwendungen erwarten konnte. [L 13] Damit gingen seine Studienjahre ohne Examen zu Ende und er musste aus der Geldnot heraus zunachst in sein Elternhaus zuruckkehren.

Jahre als Lehrer und Schuldirektor

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Im August 1785 ließ er sich in die Reihe der Advokaten der Stadt Jever aufnehmen. Seine Tatigkeit schien fur ihn jedoch eher unbefriedigend zu sein und auch das Wohnen im Hause der Eltern war keine Losung auf Dauer.

Also bewarb sich Vieth um eine Stelle als Lehrer am Philanthropin in Dessau . Da dort jedoch keine Stelle frei war, bot ihm Carl Gottfried Neuendorf , der damalige Direktor der Hauptschule in Dessau, eine Stelle als Lehrer fur Mathematik, Franzosisch und Zeichnen an. [L 14]

Anhalt-Dessau war zu diesem Zeitpunkt das einzige Land in Deutschland, das langer als ein Jahrzehnt ein staatlich-padagogisch gelenktes Schulsystem besaß, in dem der klerikale Einfluss stark zuruckgedrangt war. Der Dessauer Furst Leopold III. Friedrich Franz hatte die Vorzuge der neuen philanthropischen Erziehung fur sein Furstentum erkannt. [L 15]

Am 7. August 1786 begann Vieth seine Arbeit an der Hauptschule, vor allem da er ein schlechtes Gewissen seinen Eltern gegenuber hatte, die ihn trotz vierjahrigen Studiums immer noch finanziell unterstutzen mussten. Er glaubte, das Angebot uber 300 Taler nicht ausschlagen zu durfen. [L 16] Sein Heimweh qualte ihn jedoch sehr und Neuendorf berichtete dem Vater, dass sich ?der Sohn sehr unglucklich fuhle und nur mit halber Seele in Dessau sei.“ [L 17]

Im Laufe der Zeit erkannte er jedoch, dass seine Schuler ihm vertrauten und berichtete stolz von seinen padagogischen Erfolgen. [L 18]

Nach einem langjahrigen Verhaltnis mit Henriette Dorothee Beibler, der Tochter des Schuldieners, bat Gerhard den Fursten um die Erlaubnis zur Eheschließung sowie um eine Hausheirat, da das Madchen bereits mit der gemeinsamen Tochter schwanger war. Die Eltern waren zunachst gegen diese Verbindung, da seine Auserwahlte als Dienstmadchen angestellt war und nicht Gerhards Stand entsprach. Doch Gerhard war von Henriettes Herzensgute und ihrem naturlichen, gesunden Menschenverstand uberzeugt. Er sah in ihr eine Freundin furs Leben sowie eine gute Mutter und Haushalterin. Aus der langen und glucklichen Ehe gingen elf Kinder hervor. [L 19] Die karge Besoldung, die burgerliche Beamte erhielten, reichte kaum aus, um die Familie zu ernahren, so musste Vieth den Fursten regelmaßig um Geld bitten. Die Abhangigkeit von furstlichen Gnaden, die Gerhard schon aus seinem Elternhaus kannte, traf nun auch seine Familie. [L 20]

Vieth veroffentlichte neben seiner Arbeit in der Schule mathematische Abhandlungen in Fachzeitschriften, Mathematikbucher und 1794 den ersten Teil seiner Enzyklopadie Versuch einer Encyklopadie der Leibesubungen . Der zweite Teil erschien im darauffolgenden Jahre 1795 und der dritte 1818. Dadurch erlangte er auch uber die Grenzen Dessaus hinaus Anerkennung. Er stellte sich damit auch bewusst in die Tradition der franzosischen Enzyklopadisten, deren Arbeiten zum sport jedoch vor allem Feste, Reiten und Fechten beinhalteten. [5] Die fortwahrende harte Arbeit sorgte jedoch auch dafur, dass seine Eltern weder ihre Schwiegertochter noch ihre Enkelkinder kennenlernten.

Im Jahr 1799 starb Neuendorf und Vieth wurde sein Nachfolger, zunachst als Rektor der Hauptschule; zudem ubernahm er die Inspektion eines Teils der anderen Schulen des Furstentums. Wahrend seiner Amtszeit wurden ihm jedoch Befugnisse, die Neuendorf noch gehabt hatte, entzogen und er und sein Amt wurden wieder unter die Aufsicht des Konsistoriums gestellt.

Durch den Tod Neuendorfs klaffte eine große Lucke, darin sahen die klerikalen Reformgegner ihre Chance, die philanthropistischen Schulreformen ruckgangig zu machen und die alten Verhaltnisse wiederherzustellen. Vieth musste sich mit feindseligen Anschuldigungen herumschlagen, seine Entscheidungen und Vorschlage wurden prinzipiell angezweifelt oder sogar abgelehnt. Als er vorschlug, das Lesebuch Der Kinderfreund von Friedrich Eberhard von Rochow neu aufzulegen, richtete der konservative Konsistorialrat und Superintendant Simon Ludwig Eberhard de Marees , der als Inspektor fur Vieths Prima berufen war, einen Gegenvorschlag an den Fursten. Er empfahl, den Kinderfreund als Unterrichtsmaterial abzuschaffen und stattdessen die ?ehemals ublichen Evangelien und Epistelbucher wieder einzufuhren […], dies ware der Wunsch vieler Landsleute und die Einsicht der großeren Kinder selbst.“ [6] Vieths Rechte wurden im Laufe der Zeit immer weiter eingeschrankt. Um seine Stellung zu starken und um seine Leistungen anzuerkennen, ernannte ihn Furst Franz im Jahr 1800 zum Professor der Mathematik. Wahrend seiner Amtszeit wurden seine Geldsorgen jedoch nicht geringer, da er nun auch fur die Ausbildung und Versorgung seiner Kinder aufkommen musste. Der Furst gewahrte auf Bittgesuche hin immer wieder Teilbetrage fur die Ausbildung der Kinder und das allgemeine Auskommen der Familie. So ging es nicht nur Vieth, sondern auch den meisten Lehrern im Land. Dadurch konnte sich der Furst ihrer untertanigen Loyalitat sicher sein. [L 21]

Auch wenn der philanthropische und reformerische Charakter der Hauptschule nach dem Ableben von Neuendorf nicht mehr so stark verfolgt werden konnte, gab sich Vieth doch Muhe, seine Amtsgeschafte im Sinne von Neuendorf weiterzufuhren. Er behielt Neuendorfs Unterrichtsplan weitestgehend bei. Auf Grund der stark anwachsenden Schulerzahl, was zum einen an der Qualitat der Schule gelegen haben konnte, zum anderen aber auch daran, dass Studenten von der Militarpflicht befreit wurden, fuhrte Vieth am 18. Februar 1816 die Reifeprufung ein. Nach dem Tod des Fursten Franz 1817 stand dem Konsistorium nichts mehr im Wege, die Schule nach ihren Vorstellungen umzuwandeln. Sie wollten eine Trennung zwischen Burger- und Gelehrtenschule, um wieder einen Klassencharakter fur den Adel und das hohere Burgertum herzustellen. Vieth war mit dieser Umstrukturierung nicht einverstanden. Aus diesem Grunde musste das Konsistorium eine andere Stelle fur Vieth finden. Sie beantragten seine Ernennung zum Schulrat und zum Mitglied des neu eingerichteten Ephorates . Jener Rat bestand aus drei Mitgliedern und hatte lediglich eine beratende Funktion fur schulinterne Entscheidungen. Der Furst stimmte dem zu und der hohere Rang brachte Vieth eine jahrliche Gehaltszulage von 50 Talern. Er verlor damit seinen unmittelbaren Einfluss auf den Schulalltag. Sein Lehramt als Professor der Mathematik behielt er jedoch bei. [L 22]

Anlasslich der 50-Jahr-Feier der Hauptschule am 5. und 6. Oktober 1835 trat Vieth ein letztes Mal offentlich auf, um die große Schulrede zu halten. Am 12. Januar starb er nach langer Krankheit.

Vieth galt als Aufklarer , aufgewachsen in einem religiosen Elternhaus war er fruh mit den Auswirkungen der feudal -absolutistischen Willkurherrschaft in seiner Heimat konfrontiert. Der Vater arbeitete hart und fleißig im Staatsdienst und bekam oft fur mehrere Jahre kein Gehalt. Die Eltern opferten ihren eigenen Wohlstand, um dem altesten Sohn eine gute Ausbildung zu finanzieren. Daraus resultierte wohl auch seine Einstellung, dass Menschen jeder Klasse eine gute Bildung zusteht:

?Fur diese Menschenklasse, und es ist doch die betrachtlichste, mußte auf Schulen gesorgt werden, und es ware eine sehr wesentliche und notwendige Verbesserung, wenn dies geschahe.“ [V 1]

In Gottingen wurde Vieth mit wahren Freigeistern bekannt. In seinen Briefen schwarmte er dem Vater von der Gelehrtheit und Klugheit seiner Professoren vor. Besonders beeindruckte ihn der Mathematiker Professor Kastner , der sich liebenswurdig seiner Studenten annahm und nicht arrogant auf sie hinab schaute, wie Vieth es aus seiner Schulzeit kannte. [L 23] Bei Feder , Professor der Philosophie kam er erstmals mit erzieherischen Abhandlungen in Beruhrung. Feder, der sich ausgiebig mit Rousseaus Emil beschaftigte und eine Abhandlung uber die padagogische Praxis veroffentlicht hatte, pladierte in seinem Werk dafur, Kinder nicht auf Kosten ihrer Gesundheit zu fruhreifen Gelehrten auszubilden, sondern diese durch tagliche Ubung von Korper und Geist ganzheitlich zu erziehen. [7] Diesen Grundsatz versuchte Vieth auch im zweiten Teil seiner Encyklopadie zu vermitteln. In einem Kommentar, in dem er bedauerte, dass Preußen den Vertrieb der Jenaischen Allgemeinen Literaturzeitung und anderer Aufklarungsliteratur verboten hatte, wurde deutlich, wie sehr er die geistige Freiheit zu schatzen wusste. [L 24] In seiner großen Schulrede 1835 zitierte er Rousseaus beruhmte Worte uber den Zusammenhang von Korper und Geist, deren wechselseitige Ubungen der Erholung dienen.

Als Lehrer erbat er beim Fursten, Friedrich Eberhard von Rochows Kinderfreund neu auflegen zu lassen. [L 25] Sein Vorschlag, das Lesebuch von Friedrich Philipp Wilmsen , eine Enzyklopadie gemeinnutziger Kenntnisse, als Lekture fur die Schuler einzufuhren, war erfolgreich. [L 26] Die aufklarerischen Erziehungsmethoden des Philanthropinums ubernahm Vieth auch fur seine eigene Schule. In seiner Zeit als Lehrer und Direktor der Hauptschule in Dessau vertrat er die Ansicht, dass Gewalt kein Mittel sei, um Schuler fur ungezogenes Verhalten zu bestrafen, vielmehr musse man sie durch eine sinnvolle Beschaftigung von Korper und Geist von jenen Dummheiten abhalten. [L 27] Noch in einem 1826 veroffentlichten Artikel im Allgemeinen Anzeiger der Deutschen verteidigte er die Musterschule gegen ihre zahlreichen Kritiker mit den Worten:

?War denn die Zucht im Philanthropin schlaff und matt? War denn die Methode eine Spielmethode? Heißt es eine matte und schlaffe Zucht, wenn man Jugendvergehungen nicht gleich mit Ruhte, Stock und Carcer bestraft, sondern sie durch Aufsicht verhuthet, und wenn sie geschehen, den Schuldigen durch Vorstellungen zur Reue bringt? ? Heißt es matte und schlaffe Zucht, wenn man junge Leute mit Liebe, wie der Vater seine Kinder, behandelt, wenn man, ohne sich selbst etwas zu vergeben, im Tone der gesitteten Welt mit ihnen spricht und in den jungen Menschen den jungen Menschen ehrt? Wohl! so bekenne ich mich zu dieser matten und schlaffen Zucht […].“

Die Hauptschule in Dessau nannte er ?die erste offentliche hohere Lehranstalt, in welcher der Philanthropismus zur Wirklichkeit gelangte“.

Der Lehrer solle seinen Schulern mit Respekt gegenubertreten und wie ein zweiter Vater fur sie sein. Das Vertrauen seiner Schuler musse er sich erst erwerben, er sollte seine Schuler stets mit ?Ernst und Gute“ behandeln. Die Schule solle den ?eigenen Fleiß“ und das ?eigene Denken“ der Schuler fordern. Außerdem bestand Vieth darauf, dass das Verhaltnis zwischen der Schule und den Eltern sehr eng sein sollte, da man schließlich an einem Strang zoge. [L 28]

Auch Neuendorf war ein Gegner der Strafe; er hatte die Schule mit großer Zielstrebigkeit geleitet und immer an das Gute im Menschen geglaubt. [L 29] So musste er fur Vieth auch ein Vorbild gewesen sein, da dieser nach dem Tode Neuendorfs versuchte, die Schule in seinem Sinne weiterzufuhren. Vieth selbst sah seine Leistungen darin, dass die pedantische Schulzucht einer humanen Behandlung gewichen sei und die Facher Mathematik, Physik, aber auch Musik und Gymnastik wahrend seiner Amtszeit großere Beachtung gefunden hatten; dies erklarte er in seiner großen Schulrede. [L 30]

Auf dem Gebiet der Fremdsprachenpadagogik, deren oberstes Gebot nach Vieth die Anschaulichkeit zu sein hatte, erzielte er große Fortschritte. Englisch und Italienisch wurden auf seine Initiative hin selbstandige Facher an der Hauptschule.

Werk und Leistungen

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Vieth ist heute vor allem bekannt dafur, dass er fur die allgemeine Forderung der sogenannten Leibesubungen eintrat, die er als erster wissenschaftlich-systematisch beschrieb. Neben Johann Christoph Guts Muths und Friedrich Ludwig Jahn wird er zu den Turnvatern in Deutschland gezahlt. Er erkannte fruh den Nutzen von angeleiteten, regelmaßigen Bewegungsablaufen, da sie seiner Meinung nach den gesundheitlichen Zustand eines Menschen verbessern sowie dessen Korper , Muskulatur und Selbstbewusstsein starken konnten. Eine weitere Funktion der Leibesubungen erblickte er in der "Verhutung des Missbrauchs des Geschlechtstriebes". Er klagte daruber, dass an den Lehranstalten "nur der Geist" regieren durfte und riet zur Einrichtung von Sportanlagen an offentlichen Schulen , in Stadien , Schwimmbadern und Reithallen, wo nach seinen Vorstellungen auch das Voltigieren , Fechten und Tanzen praktiziert werden sollte.

Vieth gehorte zu den ersten Padagogen, die ansatzweise eine Methodik des Sportunterrichts vorlegten. Bei den vorzugsweise in der freien Natur zu absolvierenden Ubungen sollten Variation und Abwechslung im Vordergrund stehen. Zu beachten war stets der Belastungsrhythmus, mit Rucksichtnahme auf Alter , Kondition , Korperbau , Kraft und Temperament des jeweiligen Sportlers. Auch die Unfallverhutung zog er in seine Uberlegungen ein. Großen Wert legte Vieth ? wie spater der deutlich von ihm beeinflusste Friedrich Ludwig Jahn ? auf Disziplin und militarische Ordnung.

Neben seinen turnpadagogischen Werken veroffentlichte er Lehrbucher uber Arithmetik , Geometrie und Physik sowie eine Einfuhrung in die Astronomie fur junge Leser.

Als bekanntestes und herausragendes Werk Vieths gilt die dreibandige Reihe Versuch einer Encyklopadie der Leibesubungen .

Der erste Teil tragt den Titel Beitrage zur Geschichte der Leibesubungen . Er beinhaltet eine Sammlung von historischen Quellen und Reiseberichten, die Aufschluss uber die Leibesubungen fremder oder auch langst ausgestorbener Volksgruppen geben. Vieth verfasste mit diesem Band als erster eine kulturhistorische Abhandlung der Korperubungen. In der Einleitung schreibt Vieth uber die Naturlichkeit der Leibesubungen:

?Leibesubungen wurden ohne Zweifel schon in den altesten Zeiten getrieben; dieses liegt in der Natur der Sache. […] Schon das Kind strebt, seine kleine Kraft geltend zu machen. […] Knaben sich selbst uberlassen, […] machen im Kleinen alles was den Sieger zu Olympia zum Halbgott erhob.“ [V 2]

Der zweite Teil erschien 1795 unter dem Titel System der Leibesubungen . Er beinhaltet detailliert beschriebene Anleitungen zu den verschiedensten Korperubungen und deren korrekter Durchfuhrung. Gegliedert ist der zweite Band durch die Unterteilung in ?passive“ und ?aktive Ubungen“. Unter ?passiven Ubungen“ versteht Vieth Tatigkeiten wie: sitzen, liegen, baden, reiben oder tragen. Die ?aktiven Ubungen“ unterteilt er nochmals in die Gattung der ?Ubungen der Sinne“ und die ?Ubungen der Glieder“. Er beschaftigt sich ausgiebig mit der Gesundheit von allen Altersklassen, vom korrekten Schaukeln des Babys [V 3] bis zum richtigen Liegen von erkrankten Erwachsenen. [V 4] Im Verlauf seiner Encyklopadie kommt Vieth immer wieder auf die ?Abhartung“ des menschlichen und vor allem des jugendlichen Korpers zu sprechen. In einem eigenen Abschnitt beschreibt er zum Beispiel das Problem der Weichlichkeit: ?Die warmen Bader sind […] eine Einrichtung des Luxus und der Weichlichkeit“. [V 5] Der Naturmensch hingegen sei nicht verweichlicht. Die Einfachheit mit der dieser lebt sei somit ein Mittel gegen Tragheit, Weichlichkeit und Wollust. Beispielsweise schreibt er uber das Liegen:

?Da das Liegen eine so bequeme Sache ist, so ist es nicht zu verwundern, daß unter verfeinerten und verweichlichten menschen so viel Veranstaltungen dazu getroffen sind. […] Dem gemeinen Arbeiter ist seine armselige Streu ein erquickenderes Lager, als dem Sybariten seine Rosenblatter […].“ [V 6] ?Ein harteres nicht so erwarmendes Lager, […] wurde dem Korper des Junglings die nothige Ruhe verschaffen, […] ohne Tragheit, Weichlichkeit und Wollust zu befordern.“ [V 7]

Seine Abhandlung ist dabei so ausfuhrlich, dass er sich sogar mit der Frage beschaftigt, ob man sich beim Baden ins Wasser sturzen solle, oder lieber hinein gehen, ob kaltes oder warmes Wasser zu bevorzugen sei, ob mit den Fußen oder dem Kopf zuerst und wie lange man dann baden sollte. [V 8] Auch mit dem Thema Korperhygiene setzt sich Vieth in seiner Abhandlung nicht außer Acht: Mit dem Zitat ?Unser Korper dunstet bestandig aus, […] die Oberflache der Haut bedarf also schon deswegen einer oft wiederholten Reinigung.“ [V 9] beklagt Vieth, dass den Deutschen die Reinlichkeit abhandengekommen sei und nun erst seit kurzem ?dank einsichtsvollen Arzten die heilsame Gewohnheit wieder in Aufnahme“ gebracht werden konnte. [V 10] ?Badehauser gibt es in Deutschland zwar nicht sehr viele, […], ihre allgemeine Einfuhrung ware sehr zu wunschen.“ [V 11]

Der dritte Teil beinhaltet lediglich Erganzungen zu den bereits erschienenen Teilen. Er erscheint 1818 und schließt so die Trilogie ab.

Anerkennung erhielt Vieth vor allem fur die Ausfuhrlichkeit seines Werkes und die unterhaltsame Art und Weise in der er es formuliert ist. Neuendorf lobte die Vollstandigkeit bei Vieth, der im Gegensatz zu Gutsmuths nicht nur aus seiner personlichen Praxis berichte:

?Vieth aber beschreibt um der wissenschaftlichen Vollstandigkeit willen auf 47 Seiten auch die sogenannten ?passiven Ubungen‘ […].“ Vieths Encyklopadie enthalte außerdem ?eine ausgezeichnete Abhandlung uber das Voltigieren, […] [er] beschreibt mit entzuckender Anschaulichkeit […].“ [8]

Auch Friedrich Ludwig Jahn wusste um die Verdienste von Vieth zu berichten: ?Dankbar denken wir noch an unsere Vorarbeiter Vieth und Gutsmuths.“ [9]

Gerhard Vieth Gedenkstein am PSV 90 Dessau-Anhalt e.V.
Gedenktafel in Hooksiel

Der Oldenburger Turngau ließ 1880 an Vieths Geburtshaus in Hooksiel eine Gedenktafel anbringen. Das Haus brannte 1929 ab, die Tafel konnte jedoch geborgen werden. In seinem Geburtsort und in seinem Wirkungsort Dessau sind Straßen nach Vieth benannt.

Fur seine Verdienste um den Sport wurde Vieth 1988 in die Ehrengalerie des Niedersachsischen Instituts fur Sportgeschichte aufgenommen.

Seit 1995 organisiert der Turnkreis Anhalt / PSV 90 Dessau-Anhalt e.V. das jahrliche Vieth-Gedenkturnen .

Primarliteratur

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  • Gerhard Ulrich Anton Vieth: Versuch einer Encyklopadie der Leibesubungen. 3 Bde., Berlin 1794, 1795, 1818.

Sekundarliteratur

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  • Friedrich Ludwig Jahn, Ernest Wilhelm Bernhard Eiselen: Die deutsche Turnkunst zur Einrichtung der Turnplatze dargestellt. Berlin 1816.
  • Gustav Kruger: Zur Erinnerung an Gerhard Ulrich Anton Vieth. Dessau 1885.
  • Gerhard Lukas: Gerhard Ulrich Anton Vieth. Sein Leben und Werk. Berlin [DDR] 1964.
  • Edmund Neuendorf: Geschichte der neueren deutschen Leibesubung vom Beginn des 18. Jahrhunderts bis zur Gegenwart. Band 1, Dresden 1932.
  • Karl Peters: G.U.A. Vieth. Der Werdegang eines Jeverlanders zum bedeutenden Schulmann und Turnpadagogen. Jever 1962.

Einzelnachweise

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  1. Friedrich-Wilhelm Schaer: Verwaltungs- und Beamtengeschichte der Herrschaften Jever, Varel und Kniphausen . Holzberg, Oldenburg 2001, ISBN 3-87358-397-6 .
  2. Arnd Kruger : Die Professoren fur Reitlehre. Die Anfange der organisierten Wissenschaft vom Sport. In: Stadion. 12/13 (1986/87), S. 241?252.
  3. Johannes Thiemer: Vorwort. In: Gerhard Ulrich Anton Vieth: Versuch einer Encyklopadie der Leibesubungen. Nachdruck der Ausgabe 1795. Limpert, Dresden 1930, S. V-XVI, hier: S. V.
  4. Arnd Kruger: Valentin Trichters Erben. Das Theorie-Praxis-Problem in den Leibesubungen an der Georg-August-Universitat (1734?1987). In: Hans-Gunther Schlotter (Hrsg.): Die Geschichte der Verfassung und der Fachbereiche der Georg-August-Universitat zu Gottingen. Vandenhoeck und Ruprecht, Gottingen 1994, ISBN 3-525-35847-4 , S. 284?294.
  5. Louis Burgener (Hrsg.): Les "sports" dans les encyclopedies de Paris et d'Yyverdon . Slatkine, Genf 1987, ISBN 2-05-100827-2 .
  6. De Marees zit. nach Gerhard Lukas: Gerhard Ulrich Anton Vieth. Sein Leben und Werk. Berlin [DDR] 1964, S. 121.
  7. Gerhard Lukas: Gerhard Ulrich Anton Vieth. Sein Leben und Werk. Berlin [DDR] 1964, S. 66.
  8. Edmund Neuendorf: Geschichte der neueren deutschen Leibesubung vom Beginn des 18. Jahrhunderts bis zur Gegenwart. Band 1, Dresden 1932, S. 312.
  9. Friedrich Ludwig Jahn, Ernest Wilhelm Bernhard Eiselen: Die deutsche Turnkunst zur Einrichtung der Turnplatze dargestellt. Berlin 1816, S. V.
  • ( V ) Gerhard Ulrich Anton Vieth: Versuch einer Encyklopadie der Leibesubungen. 3 Bde., Berlin 1794.
  1. S. 366.
  2. S. 1f.
  3. S. 96.
  4. S. 97.
  5. S. 108.
  6. S. 90.
  7. S. 91.
  8. S. 108.
  9. S. 105f.
  10. S. 107.
  11. S. 114.
  • ( L ) Gerhard Lukas: Gerhard Ulrich Anton Vieth. Sein Leben und Werk. Berlin [DDR] 1964.
  1. S. 51.
  2. S. 298f.
  3. S. 298f.
  4. S. 260.
  5. S. 54.
  6. S. 208.
  7. S. 210.
  8. S. 56ff.
  9. S. 240f.
  10. S. 73f.
  11. S. 270.
  12. S. 245.
  13. S. 84f.
  14. S. 99.
  15. S. 92?96.
  16. S. 131.
  17. S. 256f.
  18. S. 102.
  19. S. 111?113.
  20. S. 113.
  21. S. 295, 301, 305.
  22. S. 114?138.
  23. S. 210.
  24. S. 289.
  25. S. 348.
  26. S. 348.
  27. S. 128.
  28. S. 128f.
  29. S. 128f.
  30. S. 136f.