Funktionalismus (Internationale Beziehungen)

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Der Funktionalismus ist eine Theorie innerhalb der Internationalen Beziehungen , nach der das Zusammenwachsen von Staaten uber die Delegation staatlicher Souveranitat zugunsten uber- oder zwischenstaatlicher Institutionen erfolgt. Dabei werden einzelne Politikbereiche ( functions , tasks ) schrittweise ? meist uber internationale Abkommen ? miteinander verschmolzen oder koordiniert. Die Akteure des Integrationsgeschehens sind im Funktionalismus die technischen Eliten, die in den funktionalen Agenturen respektive supranationalen Organisationen wirken.

Begriffsherkunft

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Funktionalismus leitet sich von ?Funktion“ ab, also von politischer, technischer, wirtschaftlicher oder sonstiger Zweckerfullung: Er ist ergebnisorientiert und pragmatisch. Der Ursprung des funktionalistischen Denkens ist nicht vollig geklart. Einige meinen, dass er aus dem politischen Idealismus der Zwischenkriegszeit entstanden sei, dessen Exponenten etwa Woodrow Wilson oder Norman Angell waren. Andere hingegen verweisen auf den liberalen Institutionalismus .

Man unterscheidet ublicherweise den Ur- oder Alt-Funktionalismus des Briten David Mitrany (1943) sowie den Neo-Funktionalismus des Deutsch-Amerikaners Ernst B. Haas (1958). Haas wiederum fußte auf der Einigungsmethode des Franzosen Jean Monnet ? der sogenannte Gemeinschaftsmethode, die 1950?52 zur Grundung der Europaischen Montanunion fuhrte. Monnet gilt als genialer Praktiker des Funktionalismus bzw. als der Pionier der europaischen Einigung.

Das funktionalistische Credo (Mitrany)

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Das sogenannte Credo des (alteren) Funktionalismus lautet form follows function : Es lohne nicht, Integrationsprojekte akribisch nach normativen Zielen zu planen ? man solle mit technokratischen Losungen anfangen ? die richtigen institutionellen und vertraglichen Losungen wurden sich aus den situativen Funktionserfordernissen ergeben. Folgerichtig lehnte David Mitrany den Foderalismus ab, der in seinem Streben nach konstitutionellen Festlegungen entweder illusionistisch oder gar schadlich sei, da er das Problem des Machtstaats selbst im Erfolgsfall durch Konstruktion eines großeren Staates nur auf eine hohere Ebene verschiebe. Mitrany vertrat im Gegensatz dazu einen Ansatz, der dem Streben nach tendenziell losen aber uberregionalen ausgreifenden Verbindungen in einer Weltgesellschaft entsprach, deren Festigkeit durch ihre sachliche Notwendigkeit gesichert werden wurde. Seine Zielinstitutionen waren pragmatische Vereinigungen wie etwa der Weltpostverein , die International Labour Organization (ILO) im Rahmen des Volkerbunds , aber auch die Rheinschifffahrtsakte oder internationale Kartelle , in der technokratische Eliten sachorientierte Losungen finden konnten. Er ging davon aus, dass die Grenzen dieser Vereinigungen durch die Erfordernisse ihrer Arbeit eingeschrankt vorgegeben seien, so dass keine Gefahr durch deren eventuelle Machtanspruche drohe.

Die Gemeinschaftsmethode resp. der Funktionalismus-Foderalismus (Monnet)

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Jean Monnets Gemeinschaftsmethode ging daruber jedoch hinaus: Er legte Wert auf die Stiftung starker supranationaler Zentralinstanzen durch verpflichtungsfahige Vertrage. Die Hohe Behorde der Montanunion war ein Musterbeispiel fur die von ihm angestrebte hohe Supranationalitat . Monnet vertrat einen kontinentaleuropaischen Funktionalismus, der Festlegungen und Garantien suchte. Monnets Paradigmen waren die straff organisierten kriegswirtschaftlichen Bedarfs-Agenturen der Weltkriege.

Der Neofunktionalismus (Haas und andere)

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Der Neofunktionalismus ist die wissenschaftliche Nachbereitung der Gemeinschaftsmethode und die Fortentwicklung des Funktionalismus. Er betont stark die Bedeutung selbstandiger supranationaler Agenturen fur die bewusste Fortschreibung von Integration und unterscheidet sich darin stark vom klassischen Funktionalismus. Er ist anders als dieser auch noch heute von Bedeutung. Er hat die Theorien der Internationalen Beziehungen resp. die Theorien europaischer Integration um wichtige Begriffe wie ? Spill-Over-Effekt “ bereichert. Dadurch gelang es ihm, eine Erklarung fur die Ausbreitung von supranationalen Regelungsmechanismen und den damit verbundenen Machtzuwachs supranationaler Organe wie der EU-Kommission anzubieten.

Besonderheiten gegenuber anderen Theorien der internationalen Beziehungen

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Der klassische Funktionalismus ist ein entschiedener Gegenentwurf zum Realismus Hans Morgenthaus , der in den Staaten die entscheidenden Akteure der internationalen Politik erblickt. Beide Theorie-Stromungen sind bezeichnenderweise fast gleichzeitig entstanden (1943/50 zu 1948).

Der weiterentwickelte Neo-Funktionalismus richtet sich gegen die Grundvorstellungen des staatszentrierten Intergouvernementalismus , von dem er sich in der Bewertung der Rolle der Regierungen unterscheidet.

Die Einigungsmethode des Alt-Funktionalismus ist die eines bottom-up im Gegensatz zu dem gegenteiligen Prinzip des top-down in der normativen Theorie des Foderalismus , wodurch sich diese beiden Konzepte als Integrationsmethoden diametral unterscheiden.

  • Jurg M. Gabriel: Die Renaissance des Funktionalismus , Zurich 2000.
  • Ernst B. Haas, The Uniting of Europe; Political, Social, and Economic Forces , 1950?1957. Stanford: Stanford University Press., 1958
  • Ernst B. Haas: Beyond the Nation-State: Functionalism and International Organization. Stanford: Stanford University Press., 1964
  • David Mitrany: The Prospect of European Integration: Federal or Functional , Journal of Common Market Studies, 1965
  • David Mitrany: The Functional Theory of Politics . New York: St. Martin’s Press., 1976