Die
Esten
(estnisch
eestlased
) sind eine
autochthone
nordeuropaische
finno-ugrische Ethnie
mit etwa einer Million Angehorigen. Sie bilden die
Titularnation
Estlands
.
Die Esten gehoren ethnisch nicht zu den
Balten
, sondern zusammen mit den
Ungarn
und
Finnen
zu den finno-ugrischen Volkern. Geographisch liegt Estland jedoch im Baltikum.
Die ursprungliche Selbstbezeichnung der Esten war
maarahvas
. Diese ist moglicherweise eine Lehnubersetzung des deutschen Worts
Landvolk
, das im Mittelalter schlicht ?Einheimische“ bedeutete.
[1]
Erst im 18. Jahrhundert trat die Bezeichnung
eestlane
hinzu. Dies war moglicherweise beeinflusst von dem Namen der
baltischen
Astier
im westlichen
Baltikum
. Beide Gruppen sind nicht identisch.
In altrussischen Chroniken wurde die Bezeichnung
Tschuden
fur die Bewohner Estlands verwendet.
Uber die
Ethnogenese
und die Fruhgeschichte der Esten ist, wie bei allen Volkern ohne schriftliche Aufzeichnungen, nicht allzu viel bekannt.
Eine biologische Verwandtschaft mit den
Wolga-Finnen
oder Permjaken (
Komi
und
Udmurten
) scheint angesichts ihrer geringen Ahnlichkeit wenig wahrscheinlich. Die Volker der
Eismeerkuste
von den
Nenzen
im Osten bis zu den Samen im Westen weisen eine von den klimatischen Gegebenheiten bestimmte, ahnliche Kultur auf.
Der erste schriftliche Bericht zu den Balten stammt von dem romischen Historiker
Tacitus
. Dieser berichtet in seiner fruhestens 98 n. Chr. entstandenen
Germania
von den
Aestii
. Dies war die Bezeichnung, die die
Germanen
den Bewohnern nordostlich der
Weichsel
gaben. Tacitus beschrieb die ?Stamme der Aestier, die die Brauche und Tracht der
Sueben
haben“, doch deren Sprache der
britannischen
nahersteht.
[2]
Diese Bezeichnung bezog sich allerdings ursprunglich auf einen baltischen Stamm, die Aisten, der an der preußischen Ostseekuste ansassig war, und diente in der Antike als Sammelbezeichnung fur alle Balten.
[3]
Zur Zeit der ostgotischen Herrschaft in Italien in der ersten Halfte des 6. Jahrhunderts berichtet
Cassiodor
von einer Gesandtschaft der Esten am Hofe in
Ravenna
.
[4]
[5]
Im 13. Jahrhundert wurden die Esten im sudlichen
Livland
durch Ritter des
Deutschen Ordens
in den
Litauerkriegen
dem
deutsch-baltischen Adel
unterworfen und
zwangschristianisiert
. Es entwickelten sich zwei grundverschiedene Bevolkerungsschichten: die einheimische, estnische Landbevolkerung und die zugewanderte, deutsche Herrschaftsschicht. Auch nach dem Zerfall des Ordensgebietes sicherte das 1561 erlassene
Privilegium Sigismundi Augusti
den Standen das Recht auf die deutsche Sprache, die deutsche Gerichtsbarkeit und den
evangelischen Glauben
zu. Die
Deutsche Sprache
blieb bis ins 20. Jahrhundert die Hauptverkehrssprache der gehobenen Schichten. Jeder Este, der einen gesellschaftlichen Aufstieg vollziehen wollte, war zu einer weitgehenden Anpassung gezwungen. So war die
Kaiserliche Universitat
zu Dorpat (
Tartu
) von ihrer Neugrundung 1802 bis 1880 deutschsprachig und auch intellektuell und hinsichtlich des Lehrkorpers eine deutsche Universitat.
Erst zur Mitte des 19. Jahrhunderts entstand ein Zusammengehorigkeitsgefuhl unter den Esten und fuhrte zum Erwachen des estnischen Nationalbewusstseins. An der Entwicklung des estnischen Nationalbewusstseins hatten aber auch viele estophile Deutschbalten, wie zum Beispiel
Garlieb Helwig Merkel
, entscheidenden Anteil. Die nationale Bewegung richtete sich gegen die Vormundschaft und Privilegierung der Deutschbalten und die vom Zarenreich ausgehende
Russifizierung
mit der Einfuhrung der
russischen Sprache
als Amts- und Unterrichtssprache. Zwischen diesen Polen bildete sich ein schnell wachsendes Nationalbewusstsein, doch erst 1918 konnten die Esten ihre Unabhangigkeit erlangen.
Der
Zweite Weltkrieg
beendete die soeben erlangte Unabhangigkeit und hatte zur Folge, dass sich die Bevolkerungszahl Estlands um 200.000 verringerte. In den 1940er-Jahren kamen zehntausende Esten durch Krieg, Terror und Okkupation durch die
Sowjetunion
und das
Deutsche Reich
ums Leben. Darunter zahlt die Bilanz 30.000 gefallene Esten. Etwa 1000 Esten judischer Herkunft wurden im
Holocaust
ermordet.
[6]
Nach dem Krieg verringerte sich die Zahl der Esten im eigenen Land nochmals um 80.000 Menschen, welche aus Furcht vor einer neuen Terrorwelle der Sowjetunion fluchteten. Die bis 1991 andauernde Okkupation des Landes hatte nicht nur 70.000 unter
Repressalien
leidende Esten, von denen 12.000 ums Leben kamen, zur Folge.
[7]
Im Rahmen umfassender
Russifizierungspolitik
kam es auch zu Zwangsansiedlungen von
Russen
,
Ukrainern
und
Weißrussen
in deren Folge der prozentuale Anteil der Esten innerhalb der
Estnischen SSR
von ca. 90 % bei Kriegsende auf 60 % am Ende der 1980er-Jahre sank.
[8]
Auch nach Wiedererlangung der
Souveranitat
sind etwa 25 % der Bevolkerung der Republik Estland russischsprachig. Nach wie vor kommt es kaum zu einer Vermischung der beiden Bevolkerungsgruppen.
Von der betrachtlichen Zahl an Auslandsesten leben 40.000 in Russland, viele davon in der zwischen beiden Landern lange umstrittenen Region
Setumaa
.
Die
estnische Sprache
gehort der
finno-ugrischen Sprachfamilie
an und ist die Amtssprache der
Republik Estland
. Sie wird von etwa 1.000.000 Menschen in Estland sowie weltweit von weiteren Zehntausenden Esten gesprochen.
- ↑
so Beyer, Jurgen:
Ist
maarahvas
(?Landvolk‘), die alte Selbstbezeichnung der Esten, eine Lehnubersetzung? Eine Studie zur Begriffsgeschichte des Ostseeraums.
, In:
Zeitschrift fur Ostmitteleuropa-Forschung
56 (2007), S. 566?593 (
doi:10.25627/20075648770
).
- ↑
45.
Die Aestier und der Bernstein
.
- ↑
Stichtwort Aisten im Reallexikon der Germanischen Altertumskunde, De Gruyter, 2000, S. 116 ff.
Online
- ↑
Cassiodor,
Variae
5,2.
- ↑
Auszug aus: Benedict Hasenstab:
Studien zur Variensammlung des Cassiodorius Senator.
Band 1, S. 23 (
Digitalisat
).
- ↑
Burkhard Asmuss
(Hrsg.):
Holocaust. Der nationalsozialistische Volkermord und die Motive seiner Erinnerung
. Deutsches Historisches Museum. Berlin 2002,
ISBN 3-932353-60-9
.
- ↑
Laar, Mart:
Estland im Zweiten Weltkrieg.
Tallinn 2005.
- ↑
Laar, Mart:
Streifzug durch die estnische Geschichte.
Tallinn 2005.