Das
Polizeiliche Judendurchgangslager Westerbork
war in den
deutsch besetzten Niederlanden
eines der beiden zentralen
Durchgangslager
[1]
(KZ-
Sammellager
), von wo aus niederlandische oder sich in den Niederlanden aufhaltende
deutsche Juden
in andere
Konzentrations-
und
Vernichtungslager
deportiert
wurden. In den Niederlanden ist der Begriff
Kamp W.
bzw.
Concentratiekamp W.
verbreitet. Vor der Nutzung als KZ hatten die Niederlander hier aus dem Reich gefluchtete Juden interniert.
Kurz vor dem
Zweiten Weltkrieg
wurde das ?Zentrale Fluchtlingslager Westerbork“ von der niederlandischen Verwaltung in der
Provinz Drenthe
gegrundet, um die große Zahl der Fluchtlinge, insbesondere von
Juden aus Deutschland
und
Osterreich
außerhalb der niederlandischen Stadte und Dorfer aufzufangen. Die damalige niederlandische Regierung hatte, vorgeblich um die Freundschaft zu Deutschland zu bewahren, die Grenzen am 15. Dezember 1938 fur Fluchtlinge geschlossen und stempelte sie so zu unerwunschten Auslandern, die keinesfalls integriert werden sollten. Die Fluchtlinge sollten in einem Lager, dessen Errichtung im Februar 1939 beschlossen wurde, zentral aufgefangen werden.
Ursprunglich sollte das Lager bei
Elspeet
errichtet werden, jedoch hielt Konigin
Wilhelmina
den Abstand von zwolf Kilometern zwischen dem Lager und ihrem Sommerpalast ?
Het Loo
“ fur zu gering. Auch der
ANWB
war dagegen, da das
Waldgebiet
Veluwe
fur Touristen offen bleiben sollte. So wahlte man schließlich das Amerveld op der Drentsche Heide bei
Hooghalen
, etwa sieben Kilometer nordlich des Dorfes
Westerbork
.
Am 9. Oktober 1939 kamen die ersten 22 judischen
Internierten
aus einer Gruppe von mehr als 900 deutschen Juden an, die vergeblich versucht hatten, mit dem Schiff
St. Louis
von
Hamburg
nach
Kuba
zu fliehen.
Siehe auch:
Kategorie:Haftling im Durchgangslager Westerbork
Nach dem
Einmarsch der deutschen Wehrmacht
am 10. Mai 1940 wurde Kamp Westerbork im Rahmen der Besatzungspolitik weiter genutzt. Soweit sie sich meldeten oder festgenommen wurden, kamen alle in die Niederlande geflohenen
judischen Deutschen
und
Osterreicher
hierher in Haft. Am 1. Juli 1942 wurde aus dem bisher niederlandisch verwalteten
Zentralen Fluchtlingslager Westerbork
offiziell das ?polizeiliche Judendurchgangslager Kamp Westerbork“ unter direkter deutscher Verwaltung. Kurz danach begannen am 15. Juli die Deportationen aus den gesamten
Niederlanden
ins Durchgangslager Westerbork, wo die
SS
fast alle Transporte zusammenstellte, und von dort weiter in die
Vernichtungslager
. Neben den uberwiegend judischen Lagerinsassen wurden auch ?
Zigeuner
“ und
Widerstandskampfer
im Lager festgehalten. Fast alle wurden mit dem Zug abtransportiert. Anfanglich stiegen die Gefangenen am Bahnhof
Hooghalen
aus und liefen die sieben Kilometer lange Strecke zum Lager. Ab Oktober 1942 baute
Nederlandse Spoorwegen
ein
Anschlussgleis
ins Lager, das dieses mit der
Bahnstrecke Meppel?Groningen
verband.
[2]
Jeden Dienstag fuhr ein Zug aus
Westerbork
eine große Gruppe Haftlinge uber
Assen
,
Groningen
und den Grenzbahnhof
Nieuweschans
?nach Osten“, uberwiegend in die Vernichtungslager
Auschwitz-Birkenau
und
Sobibor
. Die jeweils von der
Deutschen Reichsbahn
organisierte Fahrt dauerte ungefahr drei Tage. Der Zug wurde bis Nieuweschans von den
Nederlandse Spoorwegen
betrieben und dort von der Reichsbahn ubernommen.
Insgesamt wurden von 1942 bis 1944 mehr als 107.000 Juden aus Westerbork per Zug deportiert. Nur etwa 5.000 von ihnen uberlebten und konnten zuruckkehren. Das Durchgangslager Westerbork war Ausgangspunkt fur etwa 101.000 der 107.000 aus den Niederlanden ins Deutsche Reich Deportierten. Die Zuge hatten folgende Zielorte: Auschwitz (57.800 Deportierte; 65 Zuge), Sobibor (34.313 Deportierte; 19 Zuge), Bergen-Belsen (3.724 Deportierte; 8 Zuge) und Theresienstadt (4.466 Deportierte; 6 Zuge).
Erster Lagerkommandant war im Juli und August 1942
Erich Deppner
. Am 1. September 1942 wurde Josef Hugo Dischner sein Nachfolger. Am 12. Oktober 1942 wurde Dischner durch den SS-Obersturmfuhrer
Albert Konrad Gemmeker
abgelost. 1944 gab der KZ-Kommandant einen Film uber das Konzentrationslager in Auftrag, der jedoch nicht vollendet wurde. Der Filmemacher
Harun Farocki
hat aus dem Bildmaterial den Film
Aufschub ? Dokumentarische Szenen aus einem Judendurchgangslager
(2007) zusammengestellt.
Kurt Schlesinger
war der Oberdienstleiter des
judischen Ordnungsdienstes
mit
Heinz Todtmann
als Stellvertreter. Ihre Hauptaufgabe war die Verwaltung der Haftlingskartei und die Erstellung der Deportationslisten. Schlesinger nutzte seine Fuhrungsposition aus, um seine deutsch-judischen Haftlingsmitarbeiter vor der Deportation zu schutzen und die niederlandisch-judischen Insassen vorrangig auf die Deportationslisten zu setzen. Er nahm regelmaßig Geld, Wertsachen und sexuelle Gefalligkeiten im Austausch gegen Schutz vor der Deportation oder fur
bessere
Deportationsziele wie Theresienstadt statt Auschwitz. Die Leiter des korrupten deutsch-judischen Ordnungsdienstes von Westerbork wurden nie zur Rechenschaft gezogen.
Unter den Opfern sind auch bekannte Namen:
Etty Hillesum
war vor ihrer Deportation in Westerbork inhaftiert. Sie wurde 1943 in das Vernichtungslager Auschwitz
[3]
deportiert und dort ermordet. Fur die Philosophin und durch Papst
Johannes Paul II.
heiliggesprochene Judin
Edith Stein
und ihre Schwester
Rosa
, die im
Karmeliterkloster
in
Echt-Susteren
gewirkt hatten, war Westerbork eine der letzten Stationen auf ihrem Weg zur Ermordung in Auschwitz.
Anne Frank
war seit dem 8. August 1944 in der Strafbaracke des Lagers interniert, bis sie mit dem letzten Zug am 3. September 1944 zunachst nach Auschwitz-Birkenau deportiert wurde. Die Baracke, in der Anne Frank in Westerbork untergebracht war, wurde im Juli 2009 vermutlich durch Brandstiftung zerstort. Sie war nach dem Krieg abgebaut und auf einem Bauernhof in der Gemeinde
Veendam
als Scheune verwendet worden.
[4]
Der letzte Deportationszug nach Auschwitz fuhr am 3. September 1944 ab.
[5]
Am 12. April 1945 wurde Westerbork von
kanadischen Soldaten
befreit. Zu diesem Zeitpunkt waren noch zirka 900 judische Haftlinge im Lager. Das Lager kam danach unter niederlandische Verwaltung. Die ehemaligen Haftlinge mussten noch wochenlang im Lager bleiben, bevor ihnen die Heimkehr genehmigt wurde.
Nach dem Krieg wurde das Lager einige Jahre von den niederlandischen Behorden verwendet, um Mitglieder der
Nationaal-Socialistische Beweging
(NSB) und
Kollaborateure
ohne Prozess gefangen zu halten, darunter auch der fruhere Lagerleiter Gemmeker.
Ab 4. Juli 1950 wurde Kamp Westerbork als Wohnort fur Soldaten aus
Niederlandisch-Indien
und von den
Molukken
eingerichtet. Es bekam den Namen ?Schattenberg“, nach einem prahistorischen
Grabhugel
in der Umgebung. Am 21. Marz 1951 traf in
Rotterdam
das Schiff der
Kota Inten
der
niederlandischen
Reederei
Koninklijke Rotterdamsche Lloyd
mit Familien von den Molukken ein. Diese wurden am 22. Marz 1951 in ?Schattenberg“ untergebracht. Erst 1970 verließen die letzten Familien das Lager. Es wurde danach abgebrochen.
Mitte der 1970er Jahre wurde die in der Nahe des Lagers verlaufende Bahnstrecke Meppel?Groningen zweimal Schauplatz einer Zugentfuhrung sowie in einer Schule in Bovensmilde und im Gebaude der Provinzverwaltung in
Assen
, Geiseln durch extremistische Molukker genommen.
Am historischen Ende des Schienenstranges zum Lager enthullte
Konigin Juliana
1970 das Nationale Monument Westerbork.
Seit 1983 befindet sich ein Erinnerungszentrum in der Nahe des ehemaligen Lagers, in dem die Geschichte des Durchgangslagers Westerbork dargestellt wird. Das Grundstuck des ehemaligen Lagers ist heute eine freie Flache inmitten eines Waldgelandes. Dreieckige Steine markieren die Positionen der ehemaligen Baracken und Gleise.
Auf einem Teil des Lagers und in der naheren Umgebung des Lagers befinden sich heute
Radioteleskope
des
Westerbork Synthese Radio Telescoop
.
Auf dem ehemaligen
Appellplatz
befindet sich das
Monument
?De 102.000 stenen“ (Die 102.000 Steine), das auf die Initiative von ehemaligen Lagergefangenen errichtet wurde. Die 102.000 Steine stehen fur die 102.000 Menschen, die von Westerbork aus weiterdeportiert wurden und nicht zuruckgekehrt sind. Die Steine sind unterschiedlich hoch. Damit zeigt das Monument nicht nur die große Anzahl an Menschen, die ermordet wurden, sondern betont die Individualitat jedes einzelnen Opfers. Auf dem Großteil der Steine sind
Davidsterne
angebracht, die symbolisch fur die
judischen
Opfer stehen. Auf etwa 200 Steinen ist eine Flamme zu finden. Diese Steine stehen fur die
Roma
und
Sinti
, die von Westerbork aus weiter deportiert wurden. Die Steine, auf denen kein Symbol befestigt ist, stehen fur die Widerstandskampfer, die von Westerbork aus weiter deportiert wurden.
Das Besondere des Monuments ist, dass die Steine aus der Vogelperspektive eine Kartographie des Gebiets der Niederlande widerspiegeln.
-
Modell des ehemaligen Durchgangslagers
-
Denkmal Lager Westerbork
-
Radioteleskope auf dem Gelande des ehemaligen Durchgangslagers Westerbork
-
Gedenkstatte
-
Blick zum Komplex der Strafbaracken, in denen auch die Familie Frank untergebracht war (Rekonstruktion)
1944 drehte der von der SS gefangen genommene judische Kameramann Rudolf Breslauer im Auftrag des KZ-Kommandanten uber mehrere Monate einen Film uber das KZ ? wahrscheinlich als Informationsfilm fur offizielle Besucher der SS-Einrichtung in den Niederlanden. Dort wurde auch ein Modell des Lagers aufgestellt, damit Besucher sich sofort einen Eindruck verschaffen konnten. Eine Grafik zeigte schon damals, wie viele Gefangene ?in den Osten“ deportiert wurden, wie viele nach ?Theresienstadt“. Die 90 Minuten wieder gefundenes Filmmaterial blieben ungeschnittenes Fragment, denen im Unterschied zu den
Filmszenen aus dem KZ Theresienstadt
die direkte propagandistische Intention fehlt. Die tonlosen Bilder sind außergewohnlich, so u. a. die wahrscheinlich einzige Filmaufnahme vom Start eines Deportationszugs nach
Auschwitz
. Einer der erhaltenen Zwischentitel, der fur den Film vorgesehen war, lautet: ?Seit zwei Jahren immer wieder das gleiche Bild: TRANSPORT.“ Der Kameramann Rudolf Breslauer wurde nach Auschwitz deportiert und dort ermordet. Der Berliner Regisseur Harun Farocki hat 2007 aus diesem Material einen 40-minutigen Film montiert. Im Jahr 2012 drehte der deutsche Regisseur
Adnan G. Koese
zusammen mit dem Kameramann und Musikproduzenten
Edgar Hellwig
den 30-minutigen Dokumentarfilm
Fred Spiegel ? Witness of Truth
; ein großer Teil der Szenen wurden auf dem Gelande des ehemaligen Lagers Westerbork aufgenommen.
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- Wolfgang Benz
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- ↑
Das Gedenkbuch beim
Bundesarchiv (Deutschland)
erlaubt Recherchen nach Opfern mit verschiedenen Suchbegriffen, soweit die Datensatze bereits eingepflegt worden sind. Ende 2019 meldet das System 797 Personen mit dem Deportationsort Westerbork uberhaupt; bei zeitlicher Eingrenzung (d. h. wenn die Lagerverwalter ein Datum uberhaupt notiert haben) ab dem 15. Juli 1942 bis September 1944 sind es 312 Personen.
Online
. Eine Ubersicht uber die 797 Personen erlaubt insbes. das Datum ihres Umzugs in die Niederlande zu sehen, oft 1936/1937, was heisst, dass deutsche Juden sich zu der Zeit im Land sicher fuhlten. Mit ihrer spateren Internierung durch die Behorden des Landes hatten sie nicht gerechnet.
- ↑
Woodhouse, Patrick.:
Etty Hillesum : a life transformed
. Continuum, London 2009,
ISBN 978-1-84706-426-4
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- ↑
Anne-Frank-Baracke abgebrannt ? Polizei ermittelt, Spiegel online, 20. September 2009
- ↑
A.H. Paape:
Herinneringscentrum Kamp Westerbork
. Rijksinstituut voor Oorlogsdokumentatie, Amsterdam 1984, Kapitel 26:
Westerbork
.
- ↑
Der Sender 3sat zum Film
52.916666666667
6.6069444444444
Koordinaten:
52° 55′ 0″
N
,
6° 36′ 25″
O