Dependenztheorie
(von
span.
dependencia
? Abhangigkeit, Unterordnung; Filiale bzw.
port.
dependencia
? Abhangigkeit) ist der Oberbegriff fur eine Mitte der
1960er
Jahre ursprunglich in
Lateinamerika
entstandene Gruppe von in ihren Grundannahmen eng verwandten
Entwicklungstheorien
, die die Existenz hierarchischer Abhangigkeiten (
Dependenzen
) zwischen
Industrie-
(Metropolen) und
Entwicklungslandern
(Peripherien) betonen und die Entwicklungsmoglichkeiten der Dritten Welt durch dieses Hierarchieverhaltnis als begrenzt sehen.
Die Dependenztheorien entstanden in kritischer Auseinandersetzung mit den
Modernisierungstheorien
und gehen anders als diese davon aus, dass nicht eine aufgrund endogener Faktoren wie Kapitalmangel, kulturellen Einstellungsmustern und traditionellen Pragungen ausgebliebene oder nur unzureichend erfolgte
Modernisierung
nach westlichem Muster fur Unterentwicklung verantwortlich ist, sondern dass im Gegenteil außere Faktoren den Entwicklungslandern dauerhaft eine strukturell stabile, nachrangige Position in der
Weltwirtschaft
zuweisen.
Historisch verantwortlich gemacht wird hier primar die Epoche des
Kolonialismus
. Dieser habe die Wirtschaft der betroffenen Gesellschaften einseitig auf die Bedurfnisse von Kolonialmachten ausgerichtet und ihre Entwicklungsmoglichkeiten blockiert. Dieses ungunstige Machtverhaltnis bestehe auch nach der
Dekolonialisierung
weiter, so dass die ehemaligen Kolonialregionen weiterhin nur als wirtschaftliche Peripherie der als ?Metropolen“ fungierenden klassischen Industrielander auftraten. Die Einbindung in den Weltmarkt, die Aktivitat
multinationaler Unternehmen
und die fortgesetzte Heranziehung als bloße Rohstoffexporteure verfestige die abhangige Position der Entwicklungslander in der ?Peripherie“ der Weltwirtschaft, statt sie ? wie von den Modernisierungstheorien angenommen ? zu verbessern. Denn ?
ungleicher Tausch
“ zwischen den Rohstofflieferanten der Dritten Welt und den Herstellern weiterverarbeiteter Produkte in der industrialisierten Welt untergrabe das ? durch
David Ricardo
beschriebene ?
Theorem der komparativen Kostenvorteile
. Die okonomische Binnenstruktur der Entwicklungslander werde dauerhaft deformiert und verzerrt ? nicht zuletzt durch einheimische
Eliten
, die den Interessen der Metropolen dienen und ihnen ihren kulturellen Einfluss sichern. Zugleich verschlechtere sich gemaß der
Prebisch-Singer-These
die Wettbewerbssituation der Entwicklungslander fortlaufend. Unterentwicklung erscheint so als direkte Folge des internationalen Wirtschaftssystems.
?Dependenztheoretiker verstanden die zeitgenossischen Formen des liberalen Internationalismus, wie sie von der
Entwicklungstheorie
artikuliert wurden, als Fortsetzung dieser globalen Ausbeutung mit neuen Mitteln.“
[1]
Wie
Dieter Senghaas
ausfuhrte, ist mangelnde Entwicklung fur Dependenztheoretiker deswegen
?ein sich historisch entwickelnder Bestandteil des von kapitalistischen Metropolen dominierten internationalen Wirtschaftssystems und damit der internationalen Gesellschaft. Die Entwicklung dieser Metropolen, der Zentren und die Geschichte der Unterentwicklung der Dritten Welt sind miteinander uber das internationale System vermittelte, komplementare Vorgange.
[2]
“
Vorgeschlagen wurde darum von den Dependenztheoretikern eine partielle Abschottung von den Weltmarkten, um die Binnenstruktur benachteiligter Volkswirtschaften verhaltnismaßig ungestort entwickeln zu konnen. Dabei wurden sowohl ?national-kapitalistische“ wie auch ?sozialistische“
[3]
Losungswege angedacht, so dass innerhalb der Dependenztheorien ein pluralistisches Theorienfeld existiert.
Bekannte Vertreter der Dependenztheorie sind
Fernando Henrique Cardoso
, der marxistische Okonom
Paul Sweezy
,
Enzo Faletto
,
Andre Gunder Frank
, der
danische
Autor und Aktivist
Torkil Lauesen
,
Theotonio dos Santos
, der Friedens- und Konfliktforscher
Dieter Senghaas
und der Zurcher Soziologe
Volker Bornschier
. Anknupfungspunkte ergeben sich zu den
Imperialismustheorien
Lenins
,
Rosa Luxemburgs
und
Samir Amins
.
Die Dependenztheorie wurde daruber hinaus insbesondere von der
Befreiungstheologie
aufgegriffen, die in ihr eine auf die lateinamerikanischen Verhaltnisse zugeschnittene soziookonomische Analyse sah, welche der klassische und auch der strukturale
Marxismus
nicht zu leisten vermochte.
Vertreter einer neuen Generation von Dependenztheoretikern sind
Anibal Quijano
,
Ramon Grosfoguel
und
Arturo Escobar
.
Die Auffassung, Lateinamerika befinde sich gegenuber den Industriestaaten des Nordens in einem Stadium der
Unterentwicklung
und musse durch eine forcierte Modernisierung ?aufholen“, blickt auf eine lange Vorgeschichte zuruck. Bereits im 19. Jahrhundert sah der argentinische Schriftsteller und Politiker
Domingo Faustino Sarmiento
in Sudamerika einen die Gesellschaft durchziehenden Gegensatz zwischen
Zivilisation
(die Sarmiento in europaisch gepragten Metropolen wie
Buenos Aires
verwirklicht sah) und
Barbarei
(von Sarmiento mit dem indigen und kreolisch gepragten Agrarland identifiziert). Politische Stabilitat sei nur durch eine Entwicklung zur Zivilisation hin zu erreichen. Tatsachlich beruhte die Wirtschaft der lateinamerikanischen Staaten vom 19. Jahrhundert an auf der massenhaften Ausfuhr von Rohstoffen und Agrargutern, zunachst vor allem nach
Großbritannien
und seit dem fruhen 20. Jahrhundert in die
USA
.
Vorherrschend war bis ins 20. Jahrhundert hinein der Erklarungsansatz, die Unterentwicklung Lateinamerikas sei durch den spanischen
Kolonialismus
bzw. das Verharren des Kontinents im Stadium des
Feudalismus
bedingt. Diese Auffassung wurde von links und rechts gleichermaßen vertreten. Marxistische Theoretiker waren der Ansicht, die lateinamerikanischen Staaten mussten zunachst einen von den nationalen Bourgeoisien getragenen Kapitalismus entwickeln, um sich spater durch sozialistische Revolutionen vollstandig befreien zu konnen. Burgerliche Okonomen favorisierten Modelle der
Importsubstitution
, die den Aufbau nationaler Industrien zum Zweck der Konsumguterproduktion ermoglichen sollten. Eine bemerkenswerte Ausnahme stellt der peruanische Marxist
Jose Carlos Mariategui
dar, der die Vorstellung verwarf, die Entwicklung eines ?nationalen Kapitalismus“ wurde einen Zugewinn an wirtschaftlicher Unabhangigkeit fur Lateinamerika bedeuten, und so zum Vorlaufer der spateren Dependenztheoretiker wurde.
[4]
Ab den 1950er Jahren bekannten sich zunehmend lateinamerikanische Intellektuelle und Regierungen zur Entwicklungsideologie (span.
desarrollismo
). Zu nennen sind in diesem Zusammenhang vor allem die Regimes von
Romulo Betancourt
in Venezuela,
Arturo Frondizi
in Argentinien und
Juscelino Kubitschek
in Brasilien. In der Folge leisteten Tausende von
Friedenscorps
-Freiwilligen in Lateinamerika Entwicklungshilfe. Infrastrukturelle Großprojekte wie die Errichtung der neuen brasilianischen Hauptstadt
Brasilia
galten als sichtbare Zeichen des Fortschritts.
1961 rief US-Prasident
John F. Kennedy
ein ?Jahrzehnt der Entwicklung“ aus und initiierte die
Allianz fur den Fortschritt
, die von Seiten der USA umfangreiche Entwicklungshilfe und Wirtschaftsinvestitionen fur Lateinamerika vorsah. Ziel der US-Regierung war es, eine vertiefte Zusammenarbeit lateinamerikanischer Lander mit der
Sowjetunion
zu verhindern. Eine Reihe von lateinamerikanischen Regierungen schloss sich der Allianz mit Begeisterung an.
Die Euphorie legte sich jedoch relativ schnell wieder. Statt zu einer Armutsreduktion kam es vielerorts lediglich zu einer ?Modernisierung der Armut“
[5]
(
Ivan Illich
) durch den verbesserten Zugang zu Luxusartikeln. Die grundlegende Struktur der lateinamerikanischen Wirtschaft (Export von Rohstoffen ? Einfuhr von Konsumgutern) blieb unangetastet; auch das insbesondere in Uruguay und Argentinien grassierende Inflationsproblem blieb ungelost. Ab Mitte der 1960er Jahre ergriffen zudem in mehreren Landern rechtsgerichtete
Militardiktaturen
die Macht (1964 in Bolivien und Brasilien, 1966 in Argentinien).
In der Folge migrierte eine Reihe von linken Intellektuellen, welche an der Ausarbeitung der Dependenztheorie an zentraler Stelle beteiligt waren, auf der Flucht vor den Militarputschen nach
Santiago de Chile
, wo die UN-
Wirtschaftskommission fur Lateinamerika und die Karibik
(CEPAL) ihren Sitz hat. Der CEPAL nahestehende Okonomen wie
Raul Prebisch
und
Celso Furtado
hatten unter dem Einfluss
Gunnar Myrdals
die
strukturalistische Wirtschaftstheorie
entwickelt, die erstmals den Blick auf die zwischen Lateinamerika und den Landern des Nordens bestehenden Ungleichheiten richtete, ohne sich indes vollig vom alteren Entwicklungsmodell zu distanzieren.
Das geistige Klima in Lateinamerika hatte sich unterdessen durch den Einfluss der
Kubanischen Revolution
, der Befreiungstheologie und unorthodoxer Stromungen des Marxismus grundlegend verandert. Die Krise der Entwicklungsideologie rief Kritik an den okonomischen Konzepten der Cepalisten, der
strukturalistischen Wirtschaftspolitik
hervor. Die ersten Entwurfe der Dependenztheorie stellten die kritische Analyse des Importsubstitutionsmodells und der Rolle der nationalen Bourgeoisien Lateinamerikas in den Mittelpunkt. Die Dependenztheoretiker schlugen radikale Losungen fur die Beseitigung der okonomischen Ungleichheiten vor. Insbesondere unterstutzten sie die dezidiert linken Regierungen, die Ende der 1960er und Anfang der 1970er Jahre in mehreren sudamerikanischen Landern an die Macht kamen (
Salvador Allende
in Chile,
Juan Jose Torres
in Bolivien,
Hector Campora
in Argentinien).
Die damit verbundene Hoffnung, dependenztheoretische Analysen in konkrete Politik umsetzen zu konnen, wurde jedoch durch eine Welle autoritar-repressiver Regimes abrupt unterbrochen, die bald darauf die Macht an sich rissen:
Ernesto Geisel
in Brasilien,
Hugo Banzer
in Bolivien,
Juan Maria Bordaberry
in Uruguay,
Augusto Pinochet
in Chile,
Argentinische Militardiktatur (1976?1983)
. Diese leiteten eine Periode
neoliberaler
Wirtschaftspolitik in Lateinamerika ein, die bis in die fruhen 1990er Jahre andauerte.
Kritik an den Dependenztheorien wurde teilweise innerhalb der ihnen verwandten
Weltsystem-Theorie
, wie
Immanuel Wallerstein
sie konzipiert hat, aufgenommen. Den Dialog mit der Weltsystem-Theorie fuhren vor allem Andre Gunder Frank, Anibal Quijano und Ramon Grosfoguel.
[6]
Daruber hinaus wurden die Dependenztheorien in ihrer weiteren Ausarbeitung stark beeinflusst von
postkolonialen
Theorieansatzen, wie sie in Lateinamerika von
Enrique Dussel
,
Walter Mignolo
,
Gloria Anzaldua
und anderen entwickelt wurden. Zentral wurde dabei Quijanos Konzept der ?Herrschaftskolonialitat“ (
coloniality of power
), welches den Kolonialismus bzw. die
Rassifizierung
von afrikanischen Sklaven und der indigenen Bevolkerung Amerikas als konstitutiv fur Entstehung und Verfasstheit der
Moderne
betrachtet.
[7]
Von
Maria Lugones
wurde Quijanos Konzept aus
feministischer
Perspektive kritisiert.
[8]
Die Dependenztheorien haben damit den okonomiekritischen Rahmen hinter sich gelassen und sich zwischen kritischen Gesellschafts- und Kulturwissenschaften situiert.
Ab 1974 wurden die Dependenztheorien durch die Arbeiten von
Dieter Senghaas
im deutschen Sprachraum eingefuhrt
[9]
und beeinflussten den entwicklungstheoretischen Diskurs bis in die spaten 1980er Jahre.
Ein wesentlicher Kritikpunkt an den Dependenztheorien ist, dass sie die Ursachen des niedrigeren Entwicklungsstandes nur in den
Außenhandelsbedingungen
, nicht aber in den internen Bedingungen und politischen Entscheidungen der Entwicklungslander suchen. Mit Hilfe der Dependenztheorien wurde versucht, die anhaltende
Unterentwicklung
des afrikanischen und lateinamerikanischen Raumes im Vergleich zu den klassischen Industrielandern zu erklaren. Der Erfolg verschiedener
Schwellenlander
und Regionen widerspricht aber deutlich der Annahme einer grundsatzlich notwendigen Auseinanderentwicklung der Industrie- und Entwicklungslander. Insbesondere der Aufstieg vor kurzem noch schwacher asiatischer Volkswirtschaften (
Tigerstaaten
,
Pantherstaaten
) lasst sich nur schwer mit den theoretischen Grundannahmen der Dependenztheorien in Einklang bringen.
[10]
Die Unterschiedlichkeit der Lander der so genannten Dritten Welt mit ihren sehr verschiedenen und eigenstandigen Differenzierungs- und Entwicklungsprozessen wird von den Dependenz-Theorien analytisch weder aufgegriffen, noch empirisch erklart ? mit der Folge ihres ?Scheitern(s) an einer sehr differenzierten Welt“.
[11]
Die Dependenz-Theorien seien insofern inhaltlich nicht mehr als eine empirisch unbelegte Umkehrung der Grundannahmen der von ihnen angegriffenen
Modernisierungstheorien
[12]
und die Auseinandersetzung mit ihnen vor diesem Hintergrund ?heute vor allem unter theoriegeschichtlichen Gesichtspunkten interessant“.
[13]
Ihr Verdienst liegt weniger in ihrem Erklarungswert, als in ihrer Fragestellung, mit der sie den linearen Fortschrittsoptimismus der Modernisierungstheorien herausforderten. Der Senghaas-Schuler
Ulrich Menzel
sprach folgerichtig bei seiner Abkehr von der Dependenztheorie von einem ?Scheitern“ der Großtheorien
[14]
und
Franz Nuscheler
verwies auf die Notwendigkeit von Entwicklungstheorien, die anders als
monokausale
Dependenz- oder Modernisierungstheorien mehrere Erklarungsursachen fur Entwicklung oder Unterentwicklung zulassen.
[15]
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Franz Nuscheler:
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