Claude Goretta

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Goretta im Jahr 1991

Claude Goretta (* 23. Juni 1929 in Genf , Schweiz ; † 20. Februar 2019 ebenda [1] ) war ein Schweizer Filmregisseur und Fernsehproduzent .

Leben [ Bearbeiten | Quelltext bearbeiten ]

Claude Goretta wird als Nachkomme piemontesischer Einwanderer und einer aus Pforzheim stammenden Mutter in der Stadt Carouge geboren. Er wachst im Quartier Saint Jean im benachbarten Genf auf. Von Jugend an will er Filmemacher werden. Claude Goretta studierte zunachst an der Universitat Genf Rechtswissenschaften . 1951 grundet er dort den Cine-club universitaire (CCU), [2] der fur das Filmschaffen in der Westschweiz wichtige Impulse gibt. 1955 folgt er dem Ruf seines Freunds Alain Tanner , mit dem (und dem Fotografen Jean Mohr) er schon den CCU geleitet hat, [3] nach London. Als Jurist denkt er an eine Dissertation zum Einfluss des Films auf jugendliche Delinquenz. Beim British Film Institute (BFI) und am National Film Theatre (NFT) haben die beiden Freunde Kontakt zu massgebenden Exponenten des Free Cinema ? Lindsay Anderson , Tony Richardson und Karel Reisz . Ebenso finden sie hier ein Auskommen. Beeinflusst vom Realitatsanspruch der Englander wie des italienischen Neorealismus , debutieren Goretta und Tanner dank einem Fonds des BFI im Londoner Kurzfilm ≪Nice Time≫. Der Film ist eine uber viele Wochenenden teils mit versteckter Kamera gedrehte poetische Impression vom nachtlichen Treffpunkt am Piccadilly Circus; 1957 wird er am Festival von Venedig preisgekront. [4]

Beim Westschweizer Fernsehen TSR [ Bearbeiten | Quelltext bearbeiten ]

Mit Frau und Tochter nach Genf zuruckgekehrt, kann Goretta 1957 durch Vermittlung von Jean-Jacques Lagrange als dessen Assistent seine vielseitige Karriere beim jungen Westschweizer Fernsehen beginnen. Auch mit dem Ziel Kinofilm vor Augen, will er das Fernsehen spater nie als Abstellgleis, als ≪voie de garage≫ [5] verstanden wissen. Als pragend erweist sich ihm in den 1960er Jahren die asthetisch-technologische Entwicklung des Dokumentarfilms zum Direct Cinema mit leichten, gerauschlosen Kameras (Coutant) und Synchronton (Nagra), welcher sein Arbeitgeber aufgeschlossen gegenubersteht. Fur die Television Suisse Romande (TSR) reist Goretta rund um den Globus, von Feuerland bis nach Indien. Er ist Mitbegrunder und ein Jahrzehnt lang Redaktor und Realisator der damaligen Genfer Leuchtturmsendung Continents sans visa und wird zum profilierten Reporter, Dokumentarfeuilletonisten und Portratisten. Zustatten kommt ihm, dass in Genf zur gangigen Equipe Journalist / Kameramann / Tontechniker als Vierter massgebend der Filmgestalter ( realisateur ) gehort. Etliche von Gorettas kleinen Features ? etwa uber Venedigs Gondolieri im Winter, uber das harte Los spanischer Saisonniers in Genf, den nachtlichen Untergrund Neapels ? zeugen bereits von einer poetisch-realistischen filmischen Sichtweise. Das halbstundige Portrait des Jungstars Johnny Hallyday wird zu einem ersten Hohepunkt. (≪Un roi triste≫, 1966). Bei der TSR arbeitet Goretta auch als Regisseur der damaligen Live-Theateradaptationen im Studio ( Dramatiques ) sowie als Autor von Fernsehfilmen ( Telefilms ). Erste grossere Visitenkarten in der Fiktion sind sein abendfullender ≪Jean-Luc persecute≫ (1966), nach Charles Ferdinand Ramuz ’ Wallis-Roman, sowie die Komodie ≪Le jour des noces≫ (1971) nach der Novelle ≪Une partie de campagne≫ von Guy de Maupassant .

Die Tatigkeit bei der TSR offnen Goretta die Turen zum franzosischen ORTF , wo er bald hohes Ansehen geniesst. Hier realisiert er, teilweise in Koproduktion mit der TSR, nun auch einfuhlsame langere Portrats: ≪Micheline, six enfants, allee des Jonquilles≫ (1967, uber eine sechsfache Mutter in Nanterre), ≪Un employe de banque≫ (1968), ≪Une femme de marin-pecheur≫ (1968). ≪Etre pelerin a Lourdes≫ (1969). Deutlich wird ihm, wie in jedem Portrat eine Erzahlung steckt: ≪Il y a toujours un recit quand on fait le portrait de quelqu’un≫. [6]

Im Bewusstsein seines Herkommens von Immigranten, wurzelt Gorettas filmisches Ethos in der Begegnung mit dem Anderen, mit dem Fremden: ≪Il y a toujours un emigrant quelque part dans mes films. Quelqu’un qui est un peu marginal par rapport a la societe.≫ [7] Dass das dokumentarische Portrat dabei zur Erzahlung und damit letztlich zur Fiktion tendiert, wird ihm zum Problem: Gestaltender Autor eines von ihm beobachteten Lebens zu werden, beruhrt die Grenzen der Aufrichtigkeit, ist ≪a la limite de l’honnetete≫. [8] In ≪Le temps d’un portrait≫ (1971) mit dem Chansonnier Julien Clerc ist das Dilemma auf personliche Art verarbeitet. Einer der Aspekte fur Gorettas Hinwendung zum Kinospielfilm lasst sich hier ausmachen.

Kino-Spielfilme und Auszeichnungen [ Bearbeiten | Quelltext bearbeiten ]

Mangels einer tragfahigen einheimischen Filmindustrie gelingt es Claude Goretta, Alain Tanner, Michel Soutter , Jean-Louis Roy und Jean-Jaques Langrange (spater Yves Yersin ) um 1968, das Fernsehen TSR weniger als Koproduzentin, denn ? bei halftigem finanziellem Engagement ? als eine Art Vorkaufer von personlich gepragten Kino-Spielfilmen lokalen und nationalen Charakters zu gewinnen. Das unter dem Label Groupe 5 entwickelte Modell begrundet den Ruhm des Westschweizer Spielfilms namentlich der drei Genfer Tanner, Soutter und Goretta. 1973 gewinnt Goretta in Cannes fur seine Sittenkomodie ≪L’invitation≫ einen Jurypreis und erste internationale Aufmerksamkeit.

Gelten Soutter als der Poet und Tanner als der politische Kopf des Groupe 5 , gilt Goretta als dessen Ethnograf und Psychologe, der dem leisen Schwindel, den Sehnsuchten und Beschadigungen seiner Protagonisten in ihrer sozialen Pragung nachspurt. Seine Filme, in denen Ironie und Komik nicht die Menschen, sondern deren Lebensverhaltnisse denunzieren, erzahlen von den Eruptionen im Alltag der sogenannten kleinen Leute, unter dem die folie, die Verrucktheit lauert. Der Titel des Kinoerstlings ist programmatisch: ≪Le fou≫ (Der Verruckte , 1970) erhielt den Preis der Schweizer Kritiker Vereinigung als Bester Schweizer Film des Jahres. Hier bereits klingen thematische Konstanten von Gorettas kunftigem Werk an: Menschen, die (zumindest auf Augenhohe) ≪kein Rendez-vous mit der Geschichte haben≫, wie Goretta seinen Freund und Mentor, den Genfer Literaten Georges Haldas, gerne zitiert hat. Im Weiteren: Krankung, Schweigen und Verschweigen, Klassenfragen, die Macht des Geldes, Manner und Frauen, der Unterschied von Recht und Gerechtigkeit.

Nach ≪Le fou≫ folgen, nun durchwegs in Koproduktion mit Frankreich, die Spielfilme ≪L’invitation≫ (Die Einladung,1973) , ≪Pas si mechant que ca≫, ≪La dentelliere≫ , ≪La provinciale≫, ≪La mort de Mario Ricci≫, ≪Si le soleil ne revenait pas≫, um die Wichtigsten zu nennen. Goretta erweist sich darin auch als eminenter Schauspielerregisseur. ≪La dentelliere≫ (Die Spitzenklopplerin) mit der damals noch kaum bekannten Isabelle Huppert wird 1977 wiederum in Cannes preisgekront. Ebenfalls noch kaum bekannte Talente wie Gerard Depardieu und Marlene Jobert in ≪Pas si mechant que ca≫ (1974) oder auch Nathalie Baye in ≪La provinciale≫ (1980) setzen bei Goretta fruhe Hohepunkte ihrer Karrieren. Neben einer Gruppe von Stammschauspielern wie in mehreren Rollen namentlich Francois Simon (≪Le fou≫, ≪L'invitation≫, ≪Les chemins de l’exil ou Les dernieres annees de Jean-Jacques Rousseau≫, 1980) und Maurice Garrel (≪Jean-Luc persecute≫, 1966) arbeitet Goretta mit Stars wie Charles Vanel (≪Si le soleil ne revenait pas≫, 1987) oder Jacques Villeret in ≪Le dernier ete≫ (1997). Fur seine Rolle in ≪La mort de Mario Ricci≫ ( Der Tod des Mario Ricci , 1983) wird Gian Maria Volonte als bester Darsteller in Cannes geehrt.

Die Georges-Simenon -Verfilmung ≪Le rapport du gendarme≫ ( Der Bericht des Polizisten ) ist 1987 Preistrager beim Monte Carlo Festival . Die Maigret -Filme mit Bruno Cremer in den fruhen 1990ern sind ausserst popular und machen Goretta einem breiteren Publikum bekannt.

Das Spatwerk [ Bearbeiten | Quelltext bearbeiten ]

Vornehmlich private Grunde lassen Goretta in seiner zweiten Lebenshalfte in Frankreich vermehrt zum Fernsehen zuruckfinden: mit markanten Portratfilmen franzosischer Politiker wie zu dem unter dem Vichy-Regime ermordeten Georges Mandel (≪Le dernier ete≫) oder zum Front populaire -Politiker Leon Blum, zuletzt zu Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir . Starke Literaturadaptationen, mehrfach von Georges Simenon (unter anderen in der Kommissar-Maigret-Serie mit Bruno Cremer), pragen die Schaffenszeit dieser letzten Jahre. Nach Anton Tschechow, dem seelenverwandten Arzt mit dem unbestechlichen poetischen Auge, haben ihn neben Pascal Laine Fjodor Dostojewski, Pierre Very, Italo Svevo oder der Flame Hugo Claus zu Filmen inspiriert. Im Bereich der Musik hat Goretta Monteverdis ≪Les vepres de la Vierge≫ und in der Romer Cinecitta eine Filminszenierung des ≪Orfeo≫ realisiert. Im Spatwerk der fictions , doch ebenso in einem dokumentarischen Doppelfilm uber den spater ermordeten Mafiajager Giovanni Falcone (≪Les ennemis de la Mafia≫, 1988), gewinnen mehr und mehr politisch existenzielle Fragen nach der Treue zu sich selbst, nach dem Zivilcourage an Gewicht, ebenso die herausfordernde Dialektik von Erkennen und Handeln. In F. Scott Fitzgeralds Essai ≪The Crack≫ fand Goretta diese auf den Punkt gebracht und er hat sie gerne zitiert: ≪Man ware imstande zu sehen, dass die Dinge hoffnungslos liegen, und dennoch fest entschlossen, sie zu andern≫. [9]

2010 erhalt er bei den Verleihungen der Quartz-Filmpreise den Ehrenpreis fur das Gesamtwerk. [10]

Nach langen Jahren der Krankheit stirbt Claude Goretta am 20. Februar 2019 in Genf. Sein Grab befindet sich auf dem Prominentenfriedhof Cimetiere des Rois.

Filmografie [ Bearbeiten | Quelltext bearbeiten ]

  • 1957: Nice Time (Kurzfilm, gemeinsam mit Alain Tanner)
  • 1966: Jean-Luc persecute ? nach Charles Ferdinand Ramuz (TV)
  • 1968: Vivre ici (TV)
  • 1970: Der Verruckte (Le fou)
  • 1971: Hochzeit im Grunen (Le jour des noces) ? nach Guy de Maupassant (TV)
  • 1971: Le Temps d’un portrait (TV)
  • 1973: Die Einladung (L’invitation)
  • 1975: Ganz so schlimm ist er auch nicht (Pas si mechant que ca)
  • 1975: Passion et mort de Michel Servet (TV)
  • 1977: Die Spitzenklopplerin (La dentelliere) ? nach Pascal Laine
  • 1978: Flucht ins Exil (Les chemins de l’exil ou Les dernieres annees de Jean-Jacques Rousseau) (TV)
  • 1980: Die Verweigerung (La provinciale) ? mit Nathalie Baye, Bruno Ganz , Angela Winkler
  • 1983: Der Tod des Mario Ricci (La mort de Mario Ricci) ? mit Gian Maria Volonte
  • 1985: Orfeo
  • 1987: Wenn die Sonne nicht wiederkame (Si le soleil ne revenait pas) ? nach Ramuz
  • 1988: Les ennemis de la mafia (TV)
  • 1991: Maigret et la grande perche ? nach Georges Simenon ? mit Bruno Cremer (TV)
  • 1992: L'ombre
  • 1993: Maigret und die Keller des Majestic (Maigret et les caves du Majestic) ? nach Simenon (TV)
  • 1993: Goupi mains rouges ? nach Pierre Very (TV)
  • 1994: Der Kummer von Flandern (Le chagrin des Belges) ? nach Hugo Claus (TV)
  • 1995: Maigret hat Angst (Maigret a peur) ? nach Simenon (TV)
  • 1996: Le dernier chant ? frei nach Italo Svevos ≪Novella del buon vecchio e della bella fanciulla≫ (TV)
  • 1996: Vivre avec toi ? frei nach Dostojewskis Novelle ≪Die Sanfte≫ (TV)
  • 1997: Der letzte Sommer (Le dernier ete) (TV)
  • 2001: Leon Blum. Therese et Leon (TV)
  • 2004: La fuite de Monsieur Monde ? nach Simenon (TV)
  • 2006: Sartre, l’age des passions (TV)

Literatur [ Bearbeiten | Quelltext bearbeiten ]

Weblinks [ Bearbeiten | Quelltext bearbeiten ]

Einzelnachweise [ Bearbeiten | Quelltext bearbeiten ]

  1. Deces du cineaste suisse Claude Goretta. In: leparisien.fr . 21. Februar 2019, abgerufen am 21. Februar 2019 (franzosisch).
  2. Le Cine-club , Uni Genf, Campus, abgerufen am 28. Juli 2022
  3. Alain Tanner , Cineclub Caen, abgerufen am 28. Juli 2022
  4. Nice Time - Picadilly la Nuit , Swiss Films, abgerufen am 28. Juli 2022
  5. Une histoire orale du cinema suisse. Universite de Lausanne. Interview Laurence Gogniat und Marthe Porret, Geneve 7. Mai 2011. Video und Transkription. Auf cinememoire.ch, abgerufen am 27. Juli 2022
  6. Special Cinema (Interview Christian Defaye), TSR 4. November 1980
  7. Michel Boujut & Bertrand Theubet: Claude Goretta, cineaste des vies revees. Filmportrat. TSR, Viva 21. April 1992
  8. Image et son (Interview Danielle Gain), Nr. 280, 28. Januar 1974
  9. Francis Scott Fitzgerald: Der Knacks (The Crack-up). Merve (Berlin) 1984, S. 9 f.
  10. Les Quartz 2010 recompensent une Romande, RTS, 28. Juni 2010